Interview mit Piratin Graf: "Wir müssen uns zusammenreißen"
"Typisch weiblich", so etwas hört Susanne Graf auch bei den Piraten. Sie ist die einzige Frau unter den künftigen Abgeordneten - und will in den kommenden fünf Jahren mindestens die Hälfte des Programms umsetzen.
Frau Graf, Sie sitzen als einzige Frau für die Piraten im Parlament. Fühlen Sie sich auf diesen Status reduziert?
Ich bin ja glücklicherweise auch die jüngste Abgeordnete, dadurch ist das Thema mit der einzigen Frau nicht so sehr im Fokus. Aber die Frage kommt trotzdem recht häufig, und das ist schade.
Ist es denn purer Zufall, dass auf der Liste der Piratenpartei nur eine einzige Kandidatin stand?
Die Frauen haben sich selbst entschieden, jede hätte kandidieren können. Ich habe von sehr vielen Frauen gesagt bekommen, dass sie selbst nicht kandidieren wollten, weil es ihnen einfach zu viel geworden wäre – aber dass sie glücklich sind, dass ich es gemacht habe und zumindest eine Frau dort steht. Sie alle haben mir Hilfe angeboten, wenn ich sie brauche, daher habe ich gar nicht das Gefühl, die einzige Frau zu sein.
Hätten Sie sich denn gewünscht, dass mehr Frauen antreten?
Natürlich würde ich mir mehr Frauen wünschen. Aber wir als Piraten sehen das Geschlecht gar nicht so stark im Vordergrund. Wir möchten das Geschlecht sogar aus der staatlichen Erfassung herausnehmen, um die Diskriminierung auszumerzen, die damit verbunden ist.
Eine Partei, in der Geschlecht keine Rolle mehr spielt – geht das in der Praxis?
Bedingt. Wir bemühen uns, früher war es deutlich schlimmer. Aber mitunter muss man sagen: In den Köpfen mancher Parteimitglieder ist es noch nicht ganz angekommen.
Woran merken Sie das?
Sie bringen Aussagen wie: „Das ist ja mal wieder typisch männlich“ oder „typisch weiblich“. Aber das gibt es einfach nicht. Jeder ist ein Individuum.
Trotzdem gibt es auch bei den Piraten ein Treffen nur für Frauen, den so genannten Kegelclub. Warum braucht es das?
Eine Frau macht einfach andere Erfahrungen als ein Mann. Insofern ist es schon wichtig, dieses Treffen zu haben, solange unsere Gesellschaft noch nicht so tickt wie wir. Gerade wenn wir neue Frauen bei den Piraten dazu bekommen, haben sie mitunter noch dieses Denken, das sie in anderen Parteien erlebt haben. Sie brauchen dann auch einmal einen Rückzugsort, wo sie sich trauen, einfach mal ihre Gedanken mit einzubringen, wo sie nicht gleich runtergebuttert werden, sondern erst einmal Aufmerksamkeit bekommen und ihnen zugehört wird.
Lesen Sie auf Seite 2, wen Susanne Graf zunächst für komplett verrückt hielt.
Generell machen die Piraten durch eine höchst muntere Diskussionskultur auf sich aufmerksam.
Wir haben häufig das Problem, dass wir in zu hitzigen Diskussionen enden und damit zu viel Zeit verlieren. Da muss der einzelne auch einmal zurückstecken und einfach sagen: „Ich spare uns jetzt Zeit und Nerven, statt das weiter auszudiskutieren.“
Sind Sie mit Ihrer innerparteilichen Diskussionskultur parlamentstauglich?
Wir müssen jetzt an dem Punkt ankommen, wo wir sagen: Okay, wir müssen die nächsten fünf Jahre zusammenarbeiten. Wir haben nicht die Möglichkeit, alles hinzuschmeißen, sondern müssen uns zusammenreißen und Lösungen finden.
Welche Rolle spielt es für Ihre Arbeit als Abgeordnete, dass Sie so jung ins Parlament gewählt wurden?
Man muss sich seinen Respekt erst einmal erarbeiten. Gerade als junge Person wird man nicht immer sofort ernst genommen. Ich habe keinen Berufsabschluss, ich habe gerade mal Abitur gemacht. Gerade bei älteren Leuten ist es so, dass sie das Gefühl haben, sie haben die Weisheit mit Löffeln gegessen. Natürlich haben sie mehr Lebenserfahrung, das will ich gar nicht bestreiten. Aber man muss einfach lernen, jedes Alter zu schätzen. Als junger Mensch hat man eben noch den Kontakt zu anderen jungen Menschen, hat noch idealistische Weltbilder, hat noch einen anderen Biss, sich in Themen einzuarbeiten.
Als der Wahlkampf begann, waren Sie noch Schülerin. War es zu Beginn Ihre eigene Idee, für das Abgeordnetenhaus zu kandidieren?
Ich bin von jemandem darum gebeten worden.
Was war Ihr erster Gedanke, als derjenige mit seiner Idee auf Sie zukam?
Ich dachte, der ist komplett verrückt. Ich hatte damals absoluten Abistress und habe eigentlich nur noch daran gedacht, dass ich meine Prüfungen schaffen muss. Als nächstes dachte ich: Die anderen wollen mich dort haben und halten mich für geeignet, diese Aufgabe zu erfüllen, dann möchte ich das jetzt auch machen.
Lesen Sie auf Seite 3, woran sich Susanne Graf in fünf Jahren messen lassen will.
Was zeichnet eine gute Abgeordnete oder einen guten Abgeordneten aus?
Zum einen, dass die Person absolut hinter den Idealen ihrer Partei steht. Zum anderen, dass sie menschlich leicht umgänglich ist, dass man gut mit der Person reden kann und dass sie mitunter auch schlichten kann, wenn es in der Fraktion Streitigkeiten gibt.
Welches sind diese „Ideale der Partei“, von denen Sie sprechen?
Zum einen die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte und zum anderen, dass wir eine transparente Politik machen, dass wir unsere Fraktionssitzungen streamen, dass wir allen die Möglichkeit geben, mitzuerleben, was wir Politik machen.
Sehen Sie denn die Menschen- und Bürgerrechte in Berlin in Gefahr?
Bedingt. Durch die Videoüberwachung, die wir an öffentlichen Plätzen haben, sind sie eingeschränkt. Es ist bewiesen, dass eine dauerhafte Videoüberwachung das Verhalten der Menschen verändert. Das ist ein Einschnitt, weil der Mensch nicht mehr so leben kann, wie er möchte. Daher sind wir gegen eine Videoüberwachung.
Auch angesichts der Gewalt im Öffentlichen Nahverkehr? Immer wieder fallen Menschen brutalen Tätern zum Opfer.
Kameras verhindern keine Straftaten, und wir fänden es besser, in Bahnhöfen mehr menschliches Personal zu haben, damit die Fahrgäste sich sicher fühlen. Trotzdem ist das ein Sonderfall: In U- und S-Bahnhöfen akzeptieren wir auch Kameras.
Würden Sie grundsätzlich sagen, dass mit den Menschen- und Bürgerrechten in Deutschland etwas im Argen liegt?
Natürlich ist die Situation in Deutschland besser als in anderen Ländern, aber es gibt auch hier Punkte, bei denen man angreifen muss. Hartz IV, das ist einfach kein Lebensstandard. Auch Kulturelles mitzuerleben ist ein Recht jedes Menschen, mal ins Kino zu gehen oder sich am Wochenende mit Freunden zum Essen zu treffen.
Welche konkreten Inhalte wollen Sie in Berlin umsetzen?
Wie möchten die Sperrklausel für Parteien senken. Auf Bezirksebene soll es keine Hürde mehr geben, auf Landesebene soll sie auf drei Prozent sinken. Das Wahlalter ist bei uns auf Null gesetzt. Das wird schwer durchzusetzen sein, aber gemeinsam mit anderen Parteien ist es auf jeden Fall möglich, es für die Abgeordnetenhauswahl auf 16 Jahre zu senken. Wir möchten den fahrscheinlosen ÖPNV und die City Tax für Touristen.
Woran wollen Sie in fünf Jahren messen lassen, ob Sie eine gute Abgeordnete waren?
Schön wäre, wenn mindestens die Hälfte unseres Programms umgesetzt ist. Ob das möglich ist, hängt natürlich auch von der Zusammenarbeit mit den anderen Parteien ab. Der Maßstab für mich ist: Ich möchte auf einen Blog, auf eine Twitter- Laufbahn zurückblicken können, in der ganz klar zu sehen ist, dass ich transparente Politik gemacht und mich nicht dafür geschämt habe, auch einmal Fehler zu machen.
Karin Christmann, Karin Christmann
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