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Innenleben einer Haftanstalt. Die JVA Tegel ist 116 Jahre alt, die Architektur ist entsprechend einschüchternd und wuchtig.
© Thilo Rückeis

JVA Tegel: Ausbrüche und Drogen: "Wir finden Rauschgift in großen Mengen"

Die zweifache Flucht aus Moabit befördert die Debatte um Berlins Haftanstalten. Ein Mitarbeiter in Tegel beklagt Personalnot, selbst der Leiter der JVA gibt Probleme zu. Ein Rundgang.

Die Schmetterlinge flattern in alle Richtungen, sie haben interessante Zeichnungen auf ihren Flügeln, sie sind grün und gelb, vor allem aber flattern sie alle knapp überm Boden. Einen Meter höher blickt Jesus mit gepeinigtem Blick zum Himmel, die Dornenkrone drückt auf seinen Kopf. Genau gegenüber, zwei Meter entfernt, lachen Kinder sowie eine Frau und ein Mann. Sie lachen oft, immer vor einem anderen Hintergrund. Familienidylle.

Ziemlich viel Leben und Kontrast, verdichtet auf rund elf Quadratmetern. Das Tuch mit den Schmetterling-Motiven vor dem Regal, der Gekreuzigte im Bilderrahmen überm Bett, die Familienfotos an der anderen Wand. Hier wohnt ein kleiner, schwarzhaariger Mann, seine genaue Adresse lautet: eine Zelle im Teilabschnitt fünf, Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel, Seidelstraße 39. Ein Lebenslänglicher, seit 18 Jahren hinter Gittern. „Ich büße für meine Fehler“, sagt er. Details nennt er nicht.

 Martin Reimer leitet die JVA Tegel.
Martin Reimer leitet die JVA Tegel.
© Thilo Rückeis

Im Teilabschnitt fünf sitzen die Lebenslänglichen und die Sicherungsverwahrten. 53 Bedienstete der JVA sind für sie zuständig, 36 davon für die zweite Gruppe. Von Anfang Juli an werden es 48 sein, die Sicherungsverwahrten ziehen dann in einen Extrabau. Deshalb wird mehr Personal benötigt. Aber auch das restliche Personal des Teilabschnitts fünf wird aufgestockt, um neun Personen. Und da beginnt das Problem.

Zu wenig Personal

Denn das Zusatzpersonal wird von anderen Stellen der JVA abgezogen, neue Leute gibt es nicht. Für einen Bediensteten der JVA, seit Jahrzehnten im Justizvollzug, ist das typisch für die Situation in der Haftanstalt, in der er arbeitet. „Mit den Leuten, die wir haben, werden wir nicht mehr Herr der Lage“, sagt er. „Die Gefangenen können zum Beispiel wegen des zu geringen Personalstands nicht mehr immer wie vorgeschrieben abgetastet und kontrolliert werden.“ Und für genügend Zellenkontrollen fehlten Leute.

Seit dem filmreifen Ausbruch von zwei Häftlingen in Moabit (einer wurde am Mittwoch wie berichtet wieder festgenommen) sind Bevölkerung und Politik sensibilisiert für das Thema Haftanstalten, ihre Personalsituation und Sicherheitsfragen. Wie leicht kann man fliehen? Diese Frage stellen sich viele.

In seinem schmucklosen Büro sitzt Martin Riemer, der Leiter der JVA Tegel, und sagt: „Für die Aufgaben, die wir derzeit haben, ist die Zahl der Vollzugsbeamten ausreichend.“ 933 Gefangenen- Plätze hat der wuchtige Bau mit seinen Kirchtürmen auf dem Gelände im Moment, 800 sind belegt. Vor drei Jahren saßen hier noch 1308 Gefangene. Die Zahl der Bediensteten schmolz von 859 (Juni 2011) auf 664 (Juni 2014) – darunter sind 408 Vollzugsbeamte, zuständig für die Bewachung der Gefangenen. Viele Bedienstete und Gefangene sind jetzt in der neuen JVA Heidering.

Die JVA muss sparen

Aber Riemer will sich „auch nicht in die Tasche lügen“. Natürlich muss er durch die Umschichtungen Lücken schließen. Das Angebot der Sprechstunden wird zum Beispiel verkleinert. Ein Gefangener darf viermal pro Monat Besuch empfangen, bis jetzt hat er dazu sechs Tage pro Woche zur Auswahl. Nach dem Umzug der Sicherungsverwahrten stehen nur noch Montag, Dienstag, Mittwoch und jedes zweite Wochenende zur Auswahl. Damit kann man beim Personaleinsatz sparen. Andere Maßnahmen folgen. „Dafür erhalte ich nicht bloß Applaus“, sagt der 46-Jährige, „weder von Gefangenen noch von Bediensteten.“

Er lebt im ständigen Spannungsverhältnis. Was kann er verantworten? Was nicht? Ist es zu verantworten, dass die Feuerwehr bei einem Brand wertvolle Sekunden vor verschlossenen Toren steht, weil gerade da kein Mitarbeiter sitzt? „Aber diese Abwägung ist mein Job.“

Bei Fragen der Ausbruchssicherheit und medizinischen Betreuung gibt es dagegen keine Kompromisse. Wenn ein Gefangener unplanmäßig extern zum Arzt muss, begleiten ihn zwei Bedienstete. Bei extremer Personalnot würde Riemer die Polizei um Hilfe bitten. Das war aber seit Jahren nicht mehr nötig.

Es gibt einige, die als besonders fluchtgefährdet eingestuft sind. Die sitzen hinter einer gelben Tür am Ende eines Flur im Teilabschnitt 2. Dort sind auch die besonders Gewalttätigen untergebracht. Einer hatte mal einem Mitgefangenen eine Stahlkugel über den Kopf geschlagen und ihn noch mit heißem Öl übergossen.

Die Anstalt ist 116 Jahre alt, die Architektur entsprechend

An den Zellentüren hängen Informationen über den jeweiligen Gefangenen.
An den Zellentüren hängen Informationen über den jeweiligen Gefangenen.
© Thilo Rückeis

Im Teilabschnitt 2 liegt auch Riemers Büro, aber jetzt steht er im Zentrum des Abschnitts, einer Art Innenhof. Sternförmig gehen Flure weg, in drei Meter Höhe schwebt ein Metallgitter, es verhindert unter anderem Selbstmordversuche. Die Gesamtatmosphäre ist einschüchternd. Die Anstalt ist 116 Jahre alt, die Architektur entsprechend. An einer Wand hängt ein Schaukasten mit dem Hinweis: „Der Einkauf informiert“. Hier sind aktuelle Preise gelistet. „Red Bull AB, 170 g“, Tabak, kostet 20,40 Euro. „Dockers zware, 30 g“ ist für 3,70 Euro zu haben. Gefangene trotten vorbei, die Zeit wirkt langgezogen. Auch für kurzzeitige Besucher.

Für den langjährigen JVA-Bediensteten ist die Lage nicht entspannt, denn er denkt bei seinen Klagen über die Situation an den Alltag. „Wir finden derzeit Rauschgift in Mengen, von denen wir früher geträumt haben. Da wird mehr als früher reingeschmuggelt“, sagt er. „Und für jedes Handy, das wir finden, kommen drei in die Anstalt. Wir haben zu wenig Personal und zu wenig Handyfinder.“

Riemer antwortet mit Zahlen: „Wir haben zwischen Januar und April 2014 insgesamt 118 Handys gefunden, keine schöne Zahl, aber verhindern lässt sich das nicht.“ 2013 wurden 369 Handys konfisziert, also lägen 118 ungefähr im Schnitt. Außerdem verfüge Tegel über acht Handyfinder, „das genügt“. Und Rauschgift? „Von Januar bis April 2014 wurde 214 Gramm Haschisch gefunden, das ist im Schnitt weniger als in den Vorjahren.“ Aber natürlich „gibt es eine Dunkelziffer“.

Zu wenig Kontrolle?

Doch der Bedienstete hat noch weitere Klagen: zu hoher Krankenstand wegen der Arbeitsbelastung, verärgerte Gefangene, die nach einem Arztbesuch in ihre Zellen müssten, weil keiner da ist, der sie zur Arbeit begleiten könne, vor allem aber: „Diverse Insassen gehen unkontrolliert in ihre Betriebe. Die können jederzeit scharfkantige Gegenstände mitnehmen, weil wir sie nicht mehr ausreichend nach der Arbeit kontrollieren können.“

Bei diesem Vorwurf verengen sich Riemers Augen. „Der Anspruch ist, dass alle Gefangenen in sicherheitsrelevanten Bereichen kontrolliert werden. Wir vermissen nicht jeden Tag Feilen und Messer.“ Auch bei Zellenkontrollen „gibt es Spielregeln“. Wenn die mal nicht eingehalten worden seien, sagt Riemer, „ist das nicht schön“. Doch dass zu wenig kontrolliert werde, „ist nicht meine Wahrnehmung“.

Eine zwangsweise Rückführung in die Zelle, tja, „das passiert manchmal“. Aber Gefangene hätten keinen Anspruch, nach einem Arztbesuch zur Arbeit geleitet zu werden. Und der Krankenstand, der liege beim Allgemeinen Vollzugsdienst bei 11,8 Prozent. „Eine passable Zahl, da falle ich nicht gleich in Ohnmacht.“

Bis 2016 gehen 58 Mitarbeiter in Rente. „Wenn die nicht ersetzt werden“, sagt der langjährige Bedienstete, „wird nur noch der Notstand verwaltet.“ Für Riemer wären 58 Stellen weniger der „worst case“. Aber mit diesem Szenario rechnet er nicht. Erstens sei ja gar nicht sicher, dass alle Stellen abgebaut würden. Zweitens könne man die Stellen kompensieren. Mit mehr Sachmitteln etwa. Das Thema steht im Raum, das schon, aber es berührt ihn nicht sonderlich.

Vor kurzem reagierte er sogar regelrecht tiefenentspannt auf eine Frage. Eine asiatische Delegation hatte die JVA besucht, und irgendwann wollte ein Gruppenmitglied wissen: „Und wo sind jetzt die Todeszellen?“

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