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Beim Sportfest der Müggelschlösschen-Grundschule in Köpenick präsentieren Milan (links) und seine Kumpels aus der Willkommensklasse ihre Urkunden.
© Kai-Uwe Heinrich

Flüchtlingskinder in der Schule: "Willkommensklassen" – zwischen Integration und Abschiebung

Sie kommen aus Serbien, Weißrussland, dem Irak. Für regulären Unterricht reicht ihr Deutsch noch nicht, deshalb lernen sie in „Willkommensklassen“: eine Herausforderung für Lehrer, Nachbarn und die Kinder selbst. Unsere Autorin saß über Monate mit auf der Schulbank.

Sieben Kinder strecken ihren Zeigefinger in die Luft und quietschen: „Ich, ich, ich!“ Sie sind blond, dunkelhaarig, klein, groß, manche sehen aus wie zehn, andere wie 15. „Wie viele Fehler habt ihr gemacht?“, hat die Lehrerin gefragt. Die Kinder sollten Wörter Bildern zuordnen, Anspitzer, Füllfeder, Federmappe. Milan, ein zwölfjähriger Serbe, der jünger wirkt, weil er klein und drahtig ist, hat sich als Erster gemeldet. Kaum ist seine Hand in der Luft, ziehen die anderen nach.

Milan (die Namen aller Kinder wurden geändert) ist so etwas wie der Anführer der Klasse. Er hat große braune Augen und ist besonders aufgeweckt. Meistens arbeitet er mit im Unterricht, aber manchmal fällt es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Dann kann es passieren, dass die Stimmung in der Klasse kippt.

Um sich die Aufmerksamkeit der Lehrerin zu sichern, legt er jetzt seinen Oberkörper auf die Tischplatte, kippelt dabei mit seinem Stuhl gefährlich weit nach vorne, streckt den Zeigefinger nach vorn in Richtung Tafel und quengelt: „Ich Erster!“ Es funktioniert. Die Lehrerin lächelt die Klasse an. Dann sagt sie: „Milan“.

Es ist Mitte Februar. Seit vier Wochen gibt es an der Müggelschlösschen-Grundschule in Köpenick drei Willkommensklassen, Klassen also, in die nur Kinder gehen, die noch kein oder wenig Deutsch können. Die Schule liegt am Rande der Plattenbauten des Köpenicker Allende-Viertels, genau gegenüber vom ersten Containerdorf Berlins. Bis auf ein Mädchen leben alle Schüler der Willkommensklassen in diesem Flüchtlingsheim. Jedes dritte Kind stammt vom Balkan und spricht Serbisch, viele kommen aus Roma-Familien.

Am Ende des Schuljahrs sollen sie in die sechste Klasse wechseln

In Milans Klasse, der Willkommensklasse III, sind die Schüler zwischen elf und dreizehn Jahre alt. Am Ende des Schuljahrs sollen sie in die sechste Klasse wechseln oder auf eine weiterführende Schule. Ihre Lehrerin ist Maja Brunka, eine 34 Jahre alte Polin, eine sanfte und gleichzeitig energische Frau mit fast weißer Haut, roten Haaren und einem runden, hübschen Gesicht. Sie hat in Berlin Deutsch als Fremdsprache studiert und bislang Erwachsenen Deutsch beigebracht.

Milan lächelt triumphierend, als Maja Brunka ihn aufruft. Er zeigt mit dem rechten Daumen schräg nach hinten links. Dort sitzt Arif, ein großer, etwas schüchterner Junge aus dem Irak. Er ist 13, sieht aber älter aus. Er ist erst seit einer Woche in der Klasse, seit einem Monat in Deutschland. Im Irak war er auf einer Privatschule. Er hat Schlagzeug gelernt, spricht gut Englisch und ist sehr höflich. Morgens vor dem Unterricht gibt er der Lehrerin die Hand.

Milan verschränkt die Arme vor der Brust und sagt, ohne sich zu Arif umzudrehen: „Der hat viele Fehler gemacht.“ Irritiert blickt Arif zu Milan. Er versteht noch kein Deutsch, doch er ahnt, dass sein Mitschüler nichts Nettes über ihn gesagt hat. Während seiner ersten Woche haben Milan und seine Freunde – also fast alle anderen Kinder in der Klasse – Arif mehr oder weniger ignoriert, manchmal über ihn gelacht, ohne dass er verstanden hätte, warum. Arif schaut hilfesuchend zur Lehrerin. Die wirkt ein wenig hilflos. Ihr Blick springt von Milan zu Arif und wieder zurück.

Sie will die Klasse in ein Team verwandeln

Schließlich sagt sie: „Ihr vertragt euch jetzt!“, wobei sie das „a“ in „vertragt“ extra lang dehnt. Milan dreht sich sofort um, packt die Hand des verwirrt dreinblickenden Arifs, schüttelt sie übertrieben lang und schielt dabei zur Lehrerin.

Als Maja Brunka im Januar die Stelle als Lehrerin der Willkommensklasse antrat, steckte sie sich Ziele. Sie wollte den Kindern Deutsch beibringen, natürlich. Und sie wollte die Klasse in ein Team verwandeln. Sie sagte sich, das sei wichtig, weil die Kinder in der Schule erst einmal isoliert sein würden. Sie dachte daran, wie sie sich selbst anfangs in Deutschland fühlte, als sie die Sprache selbst noch nicht so perfekt sprach wie jetzt: einsam und verletzlich. Sie fand, die ausländischen Kinder sollten sich gegenseitig unterstützen, zusammenhalten. Sie dachte, dass es schwierig werden würde, den Kindern Deutsch beizubringen. Sie ahnte nicht, dass es anfangs noch schwieriger sein würde, sie zu einem Team zusammenzuführen.

Die Müggelschlösschen-Grundschule.
Die Müggelschlösschen-Grundschule.
© Kai-Uwe Heinrich

Willkommensklassen, offiziell „Lerngruppen für Neuzugänge ohne Deutschkenntnisse“ genannt, gibt es in Berlin seit dem Schuljahr 2011/2012. Erstmals richtete Berlin 1971 solche Klassen ein, damals hießen sie „Ausländerklassen“. Innerhalb von ein bis zwei Jahren sollten die Schüler, die damals vor allem aus der Türkei kamen, fit gemacht werden für den regulären Unterricht. Viele schafften jedoch nie den Sprung ins deutsche Schulsystem. Die „Zeit“ fragte 1980, ob Ausländerklassen die Apartheid ins Klassenzimmer tragen. Andere Medien machten sie mitverantwortlich für die gescheiterten Bildungskarrieren vieler Migranten. In Berlin wurden sie 2007 schließlich aufgegeben, nachdem sie jahrzehntelang reformiert worden waren. Zugezogene Kinder sollten von nun an besser integriert werden, verkündete der Senat – indem sie in die Regelklasse gehen und nachmittags zusätzlich Deutschunterricht erhalten.

Die Wiedereinführung der Willkommensklassen begründete der Senat mit der „hohen Zahl der Zuzüge aus dem Ausland“. Wegen der vielen Schüler ohne Deutschkenntnisse sei regulärer Unterricht mancherorts kaum noch möglich. In den vergangenen vier Jahren hat sich die Zahl der Willkommensklassen mehr als vervierfacht. Zurzeit besuchen etwa 4500 Kinder 400 Klassen.

Das Whiteboard löste Neid bei den regulären Klassen aus

An diesem düsteren Vormittag Mitte Februar beugt sich Maja Brunka über ihr Pult. Sie versucht, den schwelenden Konflikt zwischen Milan und Arif zu ignorieren. Ohne die Klasse anzusehen, sagt sie streng: „Wir wiederholen die Wochentage“, und schaltet das Whiteboard ein. Die digitale Tafel hat die Direktorin extra für die Willkommensklassen angeschafft. Sie soll den Lehrerinnen helfen, den Unterricht spannender zu gestalten. Für Willkommensklassen gibt es weder Lehrbuch noch Lehrplan. Die Senatsverwaltung für Bildung gibt den Lehrern nur einen 18-seitigen Leitfaden und eine 30-seitige Broschüre mit, in denen erklärt wird, wie die Deutschkenntnisse der zugewanderten Kinder festzustellen und zu dokumentieren sind. Anfang des Jahres, als die Digitaltafeln geliefert wurden, beschwerten sich ein paar Schüler und Lehrer der Regelklassen bei der Schulleiterin. Sie wollten auch ein Whiteboard. Ein paar fragten, wieso die Flüchtlingskinder bevorzugt würden.

Auf dem Whiteboard in Maja Brunkas Willkommensklasse erscheint jetzt eine wirre Kombination von Zeichen und Zahlen auf blauem Hintergrund. Blue Screen, Fehlermeldung, der an die Tafel angeschlossene Computer ist abgestürzt. „Mist“, sagt Maja Brunka. Sie schaltet den Laptop aus und wieder an, erfolglos. Durch die Klasse fliegen Papierkügelchen, eine saust an ihrem Kopf vorbei. Sie schaut vom Laptop auf. „Ich hole kurz den Hausmeister, der soll das richten.“ In der Tür dreht sie sich um: „Ich bin gleich wieder da. Benehmt euch!“

Arif starrt geradeaus, er will keine Probleme

Kaum ist sie draußen, drehen sich Milan und sein Banknachbar zu Arif um, dem stillen Iraker. Milan sagt etwas auf Serbisch, alle lachen. Nur Arif und ein Mädchen aus Weißrussland bleiben stumm. Sie sind in der Klasse die Einzigen, die kein Serbisch verstehen. Arif rutscht auf seinem Stuhl herum und starrt ins Nichts. Milan und sein Freund unterhalten sich weiter auf Serbisch, schauen immer wieder Arif an und lachen.

Nach einer Weile hält es der Iraker nicht mehr aus. „Shut up“, zischt er. „You motherfucker.“ Sofort springt Milan auf, boxt den kräftigen Arif in die Seite. Arif starrt geradeaus, er will keine Probleme. „Ich mach dich tot“, ruft Milan, bäumt sich hinter Arif auf, nimmt ihn in den Schwitzkasten. In diesem Moment tritt Maja Brunka ins Klassenzimmer. Sofort lässt Milan von Arif ab, setzt sich auf seinen Stuhl und schaut zum Whiteboard. „Was ist los?“, fragt die Lehrerin. Milan beginnt zu weinen. „Der hat mich beschimpft“, ruft er und zeigt auf Arif. Der lächelt schief.

Maja Brunka atmet aus. Sie bittet zuerst Milan, mit ihr vor die Tür zu gehen. Dann Arif. Als der hinausgeht, stehen sich Arif und Milan einen kurzen Moment lang gegenüber. Laut sagt Milan etwas auf Serbisch, macht mit der ausgestreckten flachen Hand eine eindeutige, schnelle Bewegung vor seinem Hals. Wieder lachen die anderen Kinder laut, ein paar halten sich dabei die Hände vor den Mund, als ahnten sie, dass Milan es zu weit getrieben hat.

„Was hast du gesagt?“, fragt schrill Maja Brunka, die in der Tür steht und auf Arif wartet. Milan grinst sie an. „Was hast du gesagt?“ Der Junge grinst, windet sich. Und schließlich murmelt er: „Wenn du rausgehst, mach ich dich tot.“ Maja Brunka starrt ihn fassungslos an. „Spinnst du?“ In diesem Moment betritt der Hausmeister den Raum. „So, wo ist denn hier das Problem?“

Eltern drohten, ihre Kinder von der Schule zu nehmen

Lehrerin Maja Brunka (rechts) und ihr Schüler Arif (grünes Shirt).
Lehrerin Maja Brunka (rechts) und ihr Schüler Arif (grünes Shirt).
© Kai-Uwe Heinrich

Mark Rackles, der Berliner Bildungsstaatssekretär, sagt, Willkommensklassen sollen den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben, „sich in der neuen Umgebung zunächst sprachlich einzugewöhnen“. Er betont: „Die räumliche Trennung von den deutschen Kindern soll nur vorübergehend sein. Ziel des Unterrichts ist die schnellstmögliche Integration der Kinder und Jugendlichen in den regulären Unterricht.“ Damit das klappt, sollen die Lehrer alle paar Monate die Deutschkenntnisse der Schüler prüfen und sie je nach Wissensstand, spätestens aber nach einem Schuljahr, in die reguläre Klasse verabschieden.

Doch ob die Schülerinnen und Schüler einer Willkommensklasse tatsächlich innerhalb eines Jahres in die Regelklasse wechseln, darüber kann Rackles keine Aussage treffen. Die Senatsverwaltung für Bildung erstelle zwar regelmäßig eine Übersicht über die Zahl der Schüler in den Willkommensklassen. Wie lange die einzelnen Kinder und Jugendlichen in einer solchen Lerngruppe verweilen, sei aber nicht Bestandteil der Übersicht.

Einige Schüler der Müggelschlösschen-Grundschule sind schon länger als ein Jahr in Willkommensklassen. Dazu gehört auch Milan. Nach dem Unterricht erzählen einmal er und sein kleiner Bruder, dass sie schon seit vier Jahren mit der Familie in Deutschland leben – und seitdem in Willkommensklassen gehen. Und sie fragen, wann sie endlich in eine normale Klasse kommen.

Die Familie pendelt seit Jahren zwischen Serbien und Berlin. Der Vater wurde in Deutschland geboren. Die Mutter ist schwer depressiv. In der Heimat, so erzählen es Eltern wie Kinder, würden sie als Roma oft verprügelt, einmal wurde ihr Haus angezündet. In Berlin können sie jedoch nicht bleiben, da sie keine Chance auf eine Aufenthaltserlaubnis haben. Serbien gilt als sicheres Herkunftsland. Auch jetzt droht Milans Familie die Abschiebung.

Manche besuchen nicht zum ersten Mal eine Willkommensklasse

Auch andere Kinder aus den Willkommensklassen sind nicht zum ersten Mal in Deutschland. Manche haben eine Zeit lang hier gelebt, ohne Asyl zu beantragen. Kinder ohne Aufenthaltstitel können eine Willkommensklasse besuchen, denn das Recht auf Bildung steht über dem Aufenthaltsrecht. Die Schulen müssen die Ausländerbehörde nicht informieren, wenn sie erfahren, dass ein Kind keine Aufenthaltserlaubnis hat.

Dass in Berlin viele Kinder länger als ein Schuljahr Willkommensklassen besuchen, bestätigen viele Sozialpädagogen und Lehrer. „Ich kenne Kinder, die zwei bis drei Jahre in diesen Klassen bleiben“, sagt zum Beispiel der Pädagoge Zvonko Salijevic, der an einer Willkommensklasse in Reinickendorf arbeitet. „Dabei können sie meist schon ganz gut Deutsch.“

Ein Problem ist, dass manche Kinder als Analphabeten in Deutschland ankommen. In den Willkommensklassen lernen aber nur die Kleinsten das Alphabet. Oft geraten die Kinder dann in einen Teufelskreis. Weil sie irgendwann Deutsch verstehen und sprechen, aber nicht lesen und schreiben können, sind sie in den Willkommensklassen unter- und überfordert zugleich – und passen nicht mehr im Unterricht auf. Manchmal, so Salijevic, passiere es, dass Lehrer solche Kinder als Störenfriede abstempeln und sie nicht weiter fördern.

Schwer haben es auch Kinder, die in Flüchtlingsheimen leben, wo sie sich ein Zimmer mit der Familie oder mit mehreren Geschwistern teilen. Platz und Ruhe zum Lernen gibt es nicht. Vereine wie die Roma-Selbsthilfe Amaro Foro lehnen die Willkommensklassen ab, weil sie ihrer Ansicht nach die Ausgrenzung und Diskriminierung zugewanderter Kinder fördern.

Einmal hat die Polizei Milan für ein paar Stunden mit auf die Wache genommen. Er hatte vor dem Flüchtlingsheim einen Mann mit einem Taschenmesser bedroht. Maja Brunka erfuhr davon von einer Sozialarbeiterin, die im Heim Milans Familie betreut. Milan habe davor immer wieder erklärt, dass er sich bedroht fühle. Von Nazis.

Er kommt aus einer Roma-Familie - und fühlt sich diskriminiert

Maja Brunka würde gern mit Milan darüber reden. Doch das geht jetzt nicht, er schmollt. Er glaubt, dass seine Lehrerin den Iraker Arif und das Mädchen aus Weißrussland lieber mag als ihn. „Du magst die mehr als mich, weil sie keine Zigeuner sind!“, hat er an diesem Dienstag Mitte April zu ihr gesagt, als sie nach dem Schwimmunterricht zurück ins Klassenzimmer gingen.

In der Hofpause erzählt Maja Brunka ihren Kolleginnen davon. Ihre Stimme ist matt, sie ist sichtlich geknickt. Die anderen zwei Lehrerinnen schauen sie mitfühlend an. „Ich wusste doch gar nicht, dass er Roma ist“, sagt Maja Brunka. „Und das ist doch auch total egal!“

Wie ihre Kolleginnen hat sich Brunka bisher nicht gefragt, ob in ihrer Klasse Roma sind. Sie denken, die Kinder könnten sich diskriminiert fühlen, wenn sie sie fragen. An die Mediatoren für Roma-Fragen, die der Senat als Berater für die Lehrer der Willkommensklassen angeheuert hat, haben die drei Lehrerinnen sich nie gewendet.

Auch wenn viele Kinder tatsächlich nicht gern sagen, dass sie Roma sind, sei es sinnvoll, Bescheid zu wissen, sagt Zvonko Salijevic. Das größte Problem von Roma-Kindern an deutschen Schulen sei, dass sie häufig im Unterricht fehlen. Auch deshalb blieben sie zu lange in den Willkommensklassen hängen. Meist liege es an den Eltern, die oft selbst keine Schule besucht haben, sich wenig von Bildung versprechen und die Kinder lieber früh arbeiten lassen. Salijevic muss den Eltern deshalb vor allem erklären, wie wichtig Bildung in Deutschland ist, und dass ihre Kinder ohne Ausbildung kaum Chancen auf ein gutes Leben haben.

Auch in den Willkommensklassen der Müggelschlösschen-Grundschule fehlen immer wieder Kinder unentschuldigt. Fragen die Lehrerinnen am nächsten Tag, sagen die Kinder, sie hätten verschlafen. Vor Kurzem hat auch Milan fast zwei Wochen lang gefehlt. Nach einer Woche fragte Maja Brunka im Heim nach. Der Vater, der perfekt Deutsch spricht, sagte, der Junge sei krank. Ein Attest hat Maja Brunka nie gesehen.

Mit den Eltern haben die Lehrer kaum Kontakt

Mit den Eltern anderer Schüler haben die drei Willkommens-Lehrerinnen bisher kaum Kontakt. Nur einmal haben sie eine Mutter in die Schule bestellt, weil der Sohn ständig fehlte. Obwohl eine Übersetzerin dabei war, hätten sie sich gefühlt, als ob sie gegen eine Wand anreden, erzählen sie.

Auf dem Schulhof fragt sich Maja Brunka, woher Milan überhaupt das Wort „Zigeuner“ hat. „Jemand muss das als Schimpfwort zu ihm gesagt haben.“ Ein Sozialpädagoge vom Verein Amaro Foro sagt, dass Roma-Schüler die Beleidigung besonders oft zu hören bekommen, wenn sie in gesonderten Klassen unterrichtet werden.

Wind bläst von der Straße her über den Schulhof. Die drei Lehrerinnen suchen den Schutz des Schulgebäudes, eines vierstöckigen, verwitterten, braun-rot-grauen Plattenbaus mit schmalen Fenstern, die wie Schießscharten aussehen. Maja Brunka spricht über Milans Ängste vor den Nazis. „Das ist furchtbar“, sagt eine Kollegin. „Was können wir da machen?“ Den dreien fällt nichts ein.

Seitdem im April 2014 bekannt wurde, dass eine Flüchtlingsunterkunft in den Kiez kommen würde, protestieren jeden Montag Anwohner gemeinsam mit Neonazis gegen das Heim, mal 50 Menschen, mal nur zwei. Im Allende-Viertel, nicht weit vom Müggelsee, leben etwa 6000 Menschen, viele Familien mit kleinen Kindern, viele in der zweiten Generation, kaum Ausländer.

Gegenüber liegt das Containerdorf der Flüchtlinge

Bis zum Januar war an der Müggelschlösschen-Grundschule nur jeder zwanzigste Schüler ausländischer Herkunft. Als die Schulleiterin im Herbst über die Einrichtung von Willkommensklassen für die Kinder im Containerdorf informierte, drohten mehrere Eltern, ihre Kinder von der Schule zu nehmen. Die Direktorin versuchte zu schlichten, sprach mit den Leitern der umliegenden Grundschulen, wo die empörten Eltern ihre Kinder anmelden wollten, und bat, von der Ummeldung abzuraten. Nur eine Mutter nahm am Ende ihren Sohn tatsächlich von der Schule. Der geht jetzt auf die zweite Grundschule im Kiez. Auch dort gibt es Willkommensklassen, die jedoch in einem anderen Gebäude unterrichtet werden als die Deutschen und andere Pausenzeiten haben.

Ein Pädagoge der Müggelschlösschen-Grundschule sagt hinter vorgehaltener Hand, noch immer hätten viele Eltern Vorurteile gegenüber „den Fremden“. Das übertrage sich auch auf die Kinder. Anfang des Jahres hat der Sohn einer Heimgegnerin einem Mitschüler, dessen Vater Mitglied in der lokalen Willkommensinitiative ist, mit einer Spielzeugpistole einen Gummipfeil ins Gesicht geschossen, mitten im Unterricht.

Maja Brunka und ihre Kolleginnen sind sicher: In ihren Klassen sind einige Kinder traumatisiert, möglicherweise sogar von den Aufmärschen der Heimgegner vor der Flüchtlingsunterkunft. „Ein Junge hat mal zu mir gesagt, er habe Angst vor der Dunkelheit“, erzählt eine von Brunkas Kolleginnen. „Dann könnten die Nazis sich in sein Zimmer schleichen und ihn holen.“

Auf einer Fachtagung für Lehrer von Willkommensklassen haben Brunka und ihre Kolleginnen gelernt, dass traumatisierte Kinder im Unterricht oft unruhig, aggressiv, unkonzentriert und müde sind. Und dass Flüchtlingskinder auch in Deutschland, in den Heimen, traumatisiert werden können. Zum Beispiel, wenn sie von Anwohnern angefeindet werden.

Vor der Schule demonstrierten Anwohner und Nazis

Maja Brunka (rechts) und ihre Kolleginnen unterrichten an der Müggelschlösschen-Grundschule drei Willkommensklassen.
Maja Brunka (rechts) und ihre Kolleginnen unterrichten an der Müggelschlösschen-Grundschule drei Willkommensklassen.
© Kai-Uwe Heinrich

Anfang Mai unterhalten sich die drei Lehrerinnen auf dem Schulhof. Eine erzählt, dass die Schüler ihrer Willkommensklasse neulich auf dem Gang von einer anderen Lehrerin ermahnt worden seien. „Die sagte: Geht in euer Zimmer, sonst nehme ich euch gefangen! Dabei haben sie nur friedlich im Gang gespielt.“ Alle drei schütteln den Kopf. „Als ob die da drüben“ – mit dem Kinn deutet die Frau in Richtung Asylbewerberheim – „nicht schon genug gefangen wären.“ Ihre Kolleginnen schweigen. „Soll ich da was sagen?“, fragt die Lehrerin. „Das bringt doch eh nichts.“

Dann reden die drei über ihre Pläne fürs Wochenende. Plötzlich läuft ein blondes Mädchen auf die Lehrerinnen zu. „Da stehen wieder Ausländer vor dem Tor“, ruft sie aufgeregt. Maja Brunka folgt dem Mädchen zum Schultor, auf der anderen Straßenseite liegt das Flüchtlingsheim. Drei dunkelhaarige Jungs, vielleicht acht oder zehn Jahre alt, halten sich an den Eisenstäben des Tors fest, sie drücken ihre Gesichter gegen das Metall und schauen traurig auf die Kinder, die im Pausenhof spielen, kreischen, lachen. Als sie die Lehrerin sehen, drehen sie sich um und laufen weg.

Maja Brunka und das blonde Mädchen schauen ihnen hinterher. „Die wohnen bestimmt im Heim“, sagt schließlich die Lehrerin. Dann erklärt sie, und es klingt ein wenig, als wolle sie sich selbst beruhigen: „Wahrscheinlich sind sie gerade erst angekommen und müssen noch ein Weilchen warten, bis sie in die Schule gehen dürfen.“

Sie lässt die Schüler Türme bauen, um sie zum Team zu machen

Wenn die Kinder besonders schlimm zanken, geht Maja Brunka manchmal mit ihnen in die Turnhalle. Dort bauen sie dann Türme aus bunten, rechteckigen Schaumstoffklötzen. Die Übung hat ihr ein Sportlehrer empfohlen, als sie ihn fragte, was sie tun könne, damit ihre Klasse ein Team werde. Beim ersten Mal stritten die Kinder um die Klötze. Dann bauten sie gemeinsam einen Turm. „Dieses Spiel hat meine Klasse echt verändert“, sagt Maja Brunka stolz. Milan, der Rabauke, sitze seitdem oft neben Arif, dem Iraker, den er anfangs so oft geärgert hat. Milan sehe Arif nicht mehr als Konkurrenten, sondern als Partner.

Auch an diesem Donnerstag Ende Mai sitzen Milan und Arif nebeneinander. Arif flüstert Milan etwas zu, die beiden brechen in Lachen aus. Sie wirken wie beste Freunde. „Bitte löst die Aufgabe gemeinsam“, sagt Maja Brunka. Die Schüler sollen zusammengesetzte Verben in einen Lückentext füllen: aufstehen, sauber machen, einpacken. „Wir haben noch 40 Minuten, konzentriert euch, damit wir die Aufgabe fertigkriegen“, sagt sie. „Warum nur noch 40 Minuten?“, fragt Milan traurig „Warum ist Schule schon aus?“ Maja Brunka lacht. „Heute ist doch Donnerstag, da haben wir nur fünf Stunden.“ Milan schmollt: „Ich will aber noch nicht Schluss machen!“ Arif gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf: „Wir spielen später?“

Die Kinder seien wie Schwämme, sagt Maja Brunka nach dem Unterricht stolz, sie könnten nicht genug bekommen von neuen Wörtern. Trotz aller Schwierigkeiten macht ihr der Unterricht in der Willkommensklasse inzwischen mehr Spaß als ihre Deutschkurse für Erwachsene.

Er trägt ein FC-Staaken-Trikot aus der Kleiderspende

„Alle Serben sind Scheiße!“, ruft ein blonder Junge im FC-Bayern-Trikot über den Sportplatz. Milan, der Serbe, steht nur ein paar Schritte von ihm entfernt. Konzentriert nestelt er am Saum seines viel zu großen Trikots des Spandauer Fußballklubs SC Staaken – eine Kleiderspende für das Flüchtlingsheim. Es sieht aus, als hätte er nichts mitbekommen. Er und die anderen Schüler der Willkommensklassen haben an diesem Donnerstag Anfang Juni Sportunterricht mit den Kindern der regulären Klassen. Im kommenden Schuljahr sollen sie in eine Regelklasse wechseln, die Begegnung auf dem Sportplatz ist eine erste Annäherung. Die meisten von Maja Brunkas Schülern haben bisher kaum Freunde außerhalb der Willkommensklasse, mit Ausnahme des Mädchens aus Weißrussland – sie ist die Einzige, die nicht im Flüchtlingsheim lebt.

Die Sprecherin des Landesausschusses für multikulturelle Angelegenheiten der Lehrergewerkschaft GEW findet, dass Kinder, die in ihren Heimatländern „regelmäßig und erfolgreich“ eine Schule besucht haben, besser von Anfang in bestimmten Fächern in Regelklassen integriert werden sollten, etwa in Kunst, Musik, Englisch und Sport. Traumatisierte Kinder dagegen sollten besser „separate, besondere“ Klassen besuchen.

„Du provozierst doch, hör auf,“ sagt ein blonder Mitschüler zu dem Jungen im Bayern-Trikot, der auf die Serben geschimpft hat. Dann schaut er vorsichtig zu Milan, der an seinem Trikot nestelt. „Ich sage doch auch nicht einfach: Alle Polen sind Scheiße.“ Der Junge im Bayern-Trikot erwidert: „Ich bin doch gar kein Pole.“ Sein Mitschüler presst ratlos die Lippen zusammen. „Okay“, sagt er dann. „Ich sage doch auch nicht: Alle Bayern-Fans sind Scheiße!“ Der Angesprochene schaut zweifelnd zu Milan hinüber. „Aber die schlagen uns doch immer.“ Da hebt Milan den Kopf und antwortet: „Du provozierst uns!“ Er macht drei große Schritte und steht neben den beiden Jungs. „Ich kann dich auch provozieren, aber mach ich nicht.“ Der Junge im FC-Bayern-Trikot legt den Kopf schief, sieht erst seinen blonden Mitschüler an, dann Milan. „Okay, du bist nicht Scheiße“, sagt er schließlich. „Du bist okay.“

„Ausdauertraining“, ruft der Lehrer. „Drei Runden um den Fußballplatz.“ Milan und die beiden blonden Jungs traben gemeinsam um den Platz. Nach der ersten Runde bleibt Milan zurück, kommt schließlich zum Stehen, er ist außer Atem.

Ein paar Tage später wird Maja Brunka sagen, dass sie erst zum Schuljahresende entscheiden will, ob sie Milan mit gutem Gewissen eine Empfehlung für die Regelklasse geben kann. Ihm, der schon seit Jahren Willkommensklassen besucht, der immer wieder aus dem Unterricht gerissen wird, weil seine Familie zurück nach Serbien muss. Der Junge spreche zwar schon sehr gut Deutsch. Aber immer noch könne er schlecht lesen und schreiben.

Milan weiß nicht, dass seine Lehrerin mit der Entscheidung über sein Schicksal hadert. Ihn und seine Eltern beschäftigt gerade etwas anderes. Sie haben erfahren, dass es einen neuen Abschiebetermin für sie gibt. Bis Mitte Juni sollen sie Berlin verlassen.

Dieser Beitrag ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

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