Mehr als Flanieren am Radrennweg in Berlin: Wie sich Politik, Handel und Stadtplaner die Zukunft der autofreien Friedrichstraße vorstellen
Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch diskutierte über die City-Ost. Endlich werden wir gehört, sagen Beteiligte.
Offiziell und bei Sympathisanten heißt das Projekt „Flaniermeile Friedrichstraße“, Kritiker sprechen von einem „Radrennweg zwischen Stadtmöbeln“ – und allen ist bewusst, dass auf dem vorerst bis Ende Oktober vom Autoverkehr befreiten Abschnitt der Friedrichstraße und ringsum mehr passieren muss als die Aufstellung von Baustellenbaken plus kürzlich erneuerten Kübelbäumen und zehn Vitrinen, denen bald vier weitere Gesellschaft leisten sollen.
Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch hat sich des Themas angenommen und zwei Gesprächsrunden initiiert – eine Ende April, die andere Mitte Juni, gemischt aus Stadtentwicklern, Anliegern, Planern, Historikern und Wirtschaftsleuten.
Es sei ihr darum gegangen, mit breiter Beteiligung eine Idee fürs Herz der City-Ost zu entwickeln, die geografisch etwa vom Humboldt-Forum über den Gendarmenmarkt bis zum Brandenburger Tor und zeitlich in die nächste Wahlperiode reichen soll – also aus Sicht von Jarasch in ihre Regierungszeit.
Jaraschs wesentliche Erkenntnis aus den Diskussionen: Der Verkehrsversuch muss größer gedacht werden, also als Teil eines Gesamtpakets für die City-Ost, die Geschichte der Friedrichstraße als Mitte der über Jahrhunderte gewachsenen und fast drei Jahrzehnte geteilten Metropole soll wieder zur Geltung kommen, und zurück zum vorherigen Zustand mit dem Dauerstau zwischen zu schmalen Gehwegen wolle niemand.
„Konsens war, dass auf jeden Fall die Fußgänger Vorrang haben“, berichtet Jarasch. Der mittige Radweg sei als Zufahrt für Rettungsfahrzeuge sinnvoll, aber nicht unbedingt für radelnden Durchgangsverkehr.
„Frau Jarasch hört wenigstens zu“, sagt der Handelslobbyist
Bei den Beteiligten kamen die Runden gut an – was nach Darstellung von Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes, auch am Kontrast zu früheren Veranstaltungen mit Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) liegt: „Frau Jarasch hört wenigstens zu und reagiert nicht immer gleich schmallippig-schnippisch“, sagt er. „Insofern gibt es zumindest wieder Hoffnung für den Dialog.“
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Aus Sicht des Handelslobbyisten ist das Hauptproblem der Friedrichstraße ihre Enge, mit der man sich arrangieren müsse – und zwar mit mehr als Sitzbänken und Blumenkübeln, sondern beispielsweise mit vertikalen Gärten an den Fassaden.
Die beiden größten der Stadt gebe es bereits in Gebäuden am Ort, nämlich bei Dussmann und den Galéries Lafayette. Dadurch könne die Straße attraktiver werden, zumal wegen der Coronakrise „die Leute das Flanieren fast verlernt haben“.
Damit sie das ungestört üben können, kann sich Busch-Petersen die Verlegung des schnellen Radverkehrs in die parallele Glinkastraße vorstellen, in der weniger Geschäfte auf flanierende Kundschaft warten. Dazu sei ein Einbahnsystem für die Straßen ringsum denkbar, damit das Gebiet für alle erreichbar bleibe, ohne unter zu viel Autoverkehr zu leiden oder sinnlos Stau zu produzieren.
„Ich finde, dass die Mitte insgesamt vom Durchgangsverkehr entlastet werden sollte“, sagt der an den Runden beteiligte Stadtplaner Harald Bodenschatz. Das gelte auch für schnellen Radverkehr. Und: „Die Verkehrswende wird sich aber nicht in der Friedrichstraße entscheiden“, sondern im Hauptstraßennetz.
Deshalb sei Jaraschs großräumiger Gesprächsansatz gut. Er sei „angenehm überrascht über die Offenheit der Diskussion gewesen“, resümiert Bodenschatz.
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Roland Stimpel vom Fußgängerfachverband Fuss e.V. fordert, „den Radverkehr zu domestizieren“ und den Autoverkehr von der Friedrichstraße fernzuhalten. „Da waren vorher 70 Privatparkplätze. Die haben den Handel bestimmt nicht belebt.“ Ringsum gebe es 6000 Stellplätze – viele davon ungenutzt in Parkhäusern.
Stimpel sagt, nach seinem Eindruck sei das Gesamtpaket bei den Planungen für die Bergmannstraße durchdachter als bei der Friedrichstraße. Aber die Diskussion hat erst begonnen – und die Verkehrsverwaltung versucht nach der Coronakrise nun, unter Normalbedingungen die Effekte des Modellversuchs für Wirtschaft, Verkehr und Luftqualität zu evaluieren.