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Arbeiterklasse im Kollektiv. Das Kolyma2-Team rund um Mit-Gründer Stefano Lombardo (4. von links, stehend) am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Foto: Joel Stevenett/Kolyma2
© privat

Selbstbestimmt oder selbstausgebeutet?: Wie sich ein alternativer Lieferdienst vom Monopolisten Lieferando abheben will

Kolyma2 inszeniert sich als alternativer Service zu Lieferando und Wolt: ohne Geld für Werbung, aber für faire Löhne.

Keine Werbung und die Botinnen und Boten radeln nicht mit gebrandeten Würfelrucksäcken durch die Stadt – das ist das Konzept des Lieferservices Kolyma2, der sich als alternativer Bringdienst zu den bislang etablierten auf dem Markt sieht. Hungrige Berlinerinnen und Berliner, die diese Alternative nutzen wollen, erfahren vornehmlich durch Mund-zu-Mund-Propaganda davon.

Gegründet hat das Projekt Stefano Lombardo im Sommer 2019. Mit 40 Restaurants in Berlin arbeitet Kolyma2 mittlerweile zusammen, schwerpunktmäßig in Kreuzberg, in Neukölln findet man noch eine Handvoll Lokale, die Fahrradkuriere aus dem Kollektiv zum Liefern losschicken. Der Bringdienst beliefert unter der Woche rund 50 Leute am Tag. Ein Erfolg, findet Lombardo – denn der Weg dahin war steinig.

Bis August 2019 hatte Lombardo beim Lieferservice Deliveroo gearbeitet – bis sich der Dienst vom deutschen Markt zurückzog. An einem Montag sei die entsprechende E-Mail in seinem Postfach gelandet: Am Freitag werde Deliveroo das Deutschland-Geschäft beenden, hieß es darin. Sofort begann Lombardo mit zwei Kollegen die Vorbereitungen für Kolyma2.

Die Idee, seinen eigenen Lieferdienst aufzuziehen, hatte er schon 2017, sagt er. Aber Deliveroo habe gut gezahlt, das Risiko war zu groß. „Ab diesem Moment hatten wir aber keine Ausreden mehr“, erinnert sich Lombardo. Weil es schnell gehen musste, setzte er eine einfache Website auf.

Chaotische Anfänge: Bestellung per Whatsapp, keine App

Die Kunden sollten mit Nachrichten über Messenger wie Telegram, Signal oder Whatsapp bestellen. Den Namen hatte Lombardo bereits, benannt hat er seinen Lieferdienst nach einer Nebenfigur aus dem Film „Burn after Reading“ von den Coen-Brothers.

Heute nutzt Kolyma2 eine App des französischen Digital-Unternehmens CoopCycle, das sich auf Dienste für kollektiv organisierte Fahrradkuriere spezialisiert hat. Die ist jedoch im App-Store nicht auffindbar, auch der Look unterschiedet sich vom sehr eigenen, aber dafür einprägsamen Look des Kolyma2-Internetauftritts: Die Website wirkt für die Augen regelmäßiger Internetnutzer altmodisch. Mit ihren bunten Pixeln und sperrigen Schriftzügen spielt sie mit der Ästhetik des Bildschirmtextes (BTX) und Computerspielen der 1980er-Jahre.

Retro-Chic. Auf Instagram präsentiert sich Kolyma2 mit Team-Fotos und Texten im BTX-Stil der 80er-Jahre. Der Firmenmname erinnert an frühere Arbeitslager im fernen Osten Russlands. Der Gründer schnappte ihn auf in einem Film der Coen-Brüder.
Retro-Chic. Auf Instagram präsentiert sich Kolyma2 mit Team-Fotos und Texten im BTX-Stil der 80er-Jahre. Der Firmenmname erinnert an frühere Arbeitslager im fernen Osten Russlands. Der Gründer schnappte ihn auf in einem Film der Coen-Brüder.
© Kevin P. Hoffmann

Lombardo muss lächeln als er an die Anfangsmonate zurückdenkt. „Der Aufwand, um eine Bestellung abzuwickeln, war immens“. Die Kommunikation mit den Interessenten lief in etwa so, erzählt er: „Hallo, kann ich bei euch bestellen?“, schrieben Kunden.

Lombardo bejahte, schickte eine Menüliste der Restaurants, mit denen sie kooperierten. Als die Kunden ihr Essen gewählt hatten, musste Lombardo den Preis berechnen, schickte die nächste Messenger-Nachricht: „Willst du Bar oder per Paypal bezahlen?“ Lombardo schüttelt den Kopf: „Und das für jeden Auftrag. Ich kam nicht hinterher.“

Doch das blieb nicht das einzige Problem. Auch im Kollektiv gab es viele Meinungsverschiedenheiten, im November war Kolyma2 zwischenzeitlich auf Eis gelegt. Doch Lombardo probierte es in diesem Januar erneut. Diesmal mit App, aber immer noch als Kollektiv.

Kann man sich als alternatives Lieferdienst-Kollektiv auf dem Markt behaupten?

Was genau bedeutet es, als Kollektiv zu arbeiten? Besonders auf einem Markt, der von einem Dienst wie Lieferando dominiert wird, der über Kapital internationaler Investoren verfügt? Und auf einem Markt, wo sich ein neuer Konkurrent aufgetan hat: Wolt, ein Bringdienst aus Finnland, der mit fairen Arbeitsbedingungen für seine Kuriere wirbt.

Kolyma2 definiert sich nicht nur darüber, dass es ein Kollektiv von Soloselbstständigen ist. Wichtig sei auch, dass die Bezahlung „fair“ sei, weshalb das Essen im Vergleich ein bisschen teurer ist, als wenn man bei etablierten Bringdiensten bestellt. Zwei Salate und ein Antipasti-Teller von einem Neuköllner Italiener kosten beispielsweise bestellt bei Kolyma2 25,90 Euro.

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Bei Lieferando käme man mit etwa 19 Euro rund sechs Euro billiger weg. Die Gewinne, die herausspringen, werden nach einem festen Satz verteilt: 65 Prozent gehen an die Fahrer, 20 Prozent an die Disponenten, sieben Prozent an die Smart-Genossenschaft, und acht Prozent legt das Kollektiv zurück – in der Hoffnung, ihre „ehrenamtlichen“ Überstunden eines Tages doch bezahlt zu bekommen.

Neben „basisdemokratischen Strukturen und die Freiheit der Selbstbestimmung“ gehört auch eine Eingliederung in die Sozialgenossenschaft Smart eG zum Kollektiv-Konzept. Die Genossenschaft bietet Soloselbstständigen eine Sozialversicherung und Rechtsschutz – dadurch, dass Kolyma2 zu der Genossenschaft gehört also auch den Fahrradkurieren, sagt Magdalena Ziomek. Ziomek ist Geschäftsführerin der Sozialgenossenschaft Smart eG.

Das Problem der Selbstausbeutung

Kolyma2 hat 20 bis 25 Mitglieder – Lombardo kann es selbst nicht genau sagen, denn sie seien „ein offenes Haus“, jeder und jede einzelne arbeiten selbstbestimmt, entscheiden individuell, wie viele Bestellungen sie ausliefern möchten.

Damit die Arbeit so selbstbestimmt laufen könne, müssten einige wenige sehr viel arbeiten, zum Wohl der Gemeinschaft. Ein Teil der Arbeit bei Kolyma2 können die Gewinne nämlich noch nicht abdecken. Etwa PR-Arbeit oder kleinere, buchhalterische Aufgaben.

Immerhin müssten sich die Mitglieder von Kolyma2 nicht mit klassischen Problemen der Selbstständigkeit plagen. Große Plattform-Konzerne wie Deliveroo standen in der Vergangenheit in der Kritik, weil sie ein Arbeitsmodell anwandten, für das die Sozialwissenschaften den Begriff „Uberization“ schufen.

Angelehnt an den Fahrdienst Uber, bei dem Selbstständige mit ihrem eigenen Auto Fahrdienste anbieten, im Schadensfall selber Haften, und das alles ohne verpflichtende Sozialversicherung. Kuriere als das Prekariat der Plattformökonomie.

Auch bei Kolyma2 nutzen die Kuriere ihr eigenes Fahrrad und sind grundsätzlich soloselbstständig. Den Unterschied macht an dieser Stelle aber die Sozialgenossenschaft Smart eG. Dort ist Kolyma2 seit Juni dieses Jahres Mitglied.

Versicherung via Sozialgenossenschaft

Vergleichsweise spät – Lombardo habe drei Mal bei Geschäftsführerin Ziomek anklopfen müssen, um aufgenommen zu werden. Als er beim letzten Versuch mit Honig und Schokoladeneis aus seiner italienischen Heimat kam, war Magdalene Ziomek mit an Bord – so lautet die weniger ernst gemeinte Version, die die humorige Frau erzählt.

Magdalena Ziomek ist Geschäftsführerin der Smart-Genossenschaft.
Magdalena Ziomek ist Geschäftsführerin der Smart-Genossenschaft.
© Anke Beims

Tatsächlich habe das Kollektiv „viel Arbeit geleistet, um mich von ihrer Idee zu überzeugen“, erinnert sich Ziomek. Denn normalerweise arbeitet die Smart-Genossenschaft nur mit einzelnen Soloselbstständigen zusammen. Ein Kollektiv, das auch noch über eine Plattform mit Restaurants kooperiert – so etwas hatte es bei Smart zuvor nicht gegeben.

Die Absprachen mit dem Kollektiv waren mühselig und anstrengend, erzählt Ziomek. „Kollektivstrukturen mit den starren Vorgaben einer Genossenschaft zusammenzubringen, das war ein „logistischer Albtraum“. Doch mittlerweile laufe die Zusammenarbeit so gut, dass Magdalena Ziomek mit weiteren Plattformanbietern zusammenarbeitet.

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Aber wie lässt sich der Typus beschreiben, der oder die bei Kolyma2 bestellt? Ziomek sagt, die typische Kundin sehe sich als Hipster und sei bereit, mehr für die Essensbestellung auszugeben – weil sie Kollektive „cool findet“.

Speziell im aktuellen Teil-Lockdown in der Coronakrise erhalte Kolyma2 viel Zulauf. „Das Wachstum von vorletzter Woche auf letzte Woche betrug mehr als 100 Prozent“, sagt Ziomek, die die Geschäftszahlen kennt.

Das Kollektiv möchte mehr Restaurants in ihr Portfolio aufnehmen, um sich so für den nächsten Sommer zu wappnen. Denn im Sommer, wenn sich das Leben nach draußen verlagert und die Sonne die Berlinerinnen und Berliner aus ihren Wohnungen lockt, leidet erfahrungsgemäß das Liefergeschäft.

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