Nur noch vier Wochen: Wie sich Berliner Firmen auf den Brexit vorbereiten
Stichtag Halloween: Berliner Firmen stellen sich auf den EU-Austritt Großbritanniens in einem Monat ein. Verbände bieten Kurse und eine Brexit-Checkliste an.
Was ist schon sicher in diesen Zeiten? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden auch in diesem Jahr am Abend des 31. Oktober kleine und nicht mehr ganz so kleine Monster sich und andere gruselnd durch Berlins Straßen ziehen – wie mittlerweile in fast jeder Stadt der westlichen Welt. Für besonderen Nervenkitzel bei den Großen sorgen diesmal die politischen Entscheidungen in London, deren Folgen weit über das britische Königreich hinaus spürbar sein werden: Stand heute wird Großbritannien ab 1. November nicht mehr Mitglied in der Europäischen Union sein – und damit unter anderem sämtliche Handelsprivilegien aufgeben.
„Wir verfolgen mit Spannung was in Großbritannien passiert“, sagt Frank S. Jorga, Geschäftsführer des Berliner Fintech-Unternehmens WebID, wo man sich auf alle denkbaren Szenarien einstellen muss. Ein Austritt mit Abkommen, das die wichtigsten Handelsbestimmungen regelt, wäre theoretisch denkbar, aber auch ein chaotischer No-Deal-Brexit – oder doch eine weitere Verschiebung?
Die 2012 gegründete WebID ist nach eigenen Angaben in Europa Marktführer für Online-Personenidentifikationen und Online-Vertragsabschlüsse. Unternehmen mit Hauptsitz in Großbritannien sind dabei für rund 30 Prozent des Umsatzes verantwortlich. „Der Umsatz aus Großbritannien wird zurückgehen, da Unternehmen ihren Sitz in andere Länder verlagern“, sagt Jorga voraus.
„In diesen Ländern steigern wir dann den Umsatz“, hofft Jorga. Auch von Unternehmen die nach Europa expandieren, profitiert das Unternehmen. „Statt nach London kommen die nun vermehrt nach Deutschland und suchen sich hier ihre Partner.“
Dennoch bereitet der Brexit viel Mühe. „Unsere Berater weisen uns auf notwendige Umstellungen vertraglicher Natur hin, zum Beispiel durch veränderte Rechtsformen, bedingt durch einen Wechsel des Unternehmenssitzes“, sagt Jorga. Veränderungen kann es – abhängig davon, ob es einen weichen oder harten Brexit gibt – auch mit Blick auf die eIDAS-Verordnung der EU geben.
Die sorgt dafür, dass nationale elektronische Identifizierungssysteme in allen Mitgliedsstaaten anerkannt werden. „Das ist ein riesiger Vorteil, wir haben dadurch eine Zulassung für die gesamte EU“, erklärt Jorga. Er gehe davon aus, dass bei einem Brexit mit ratifiziertem Abkommen die eIDAS-Verordnung eingebunden wird, bei einem harten Brexit sei das nicht möglich.
Bei der WebID verändern sich die Geschäftsverbindungen mit Großbritannien. „Wir dehnen aktuell unsere Expansionsbemühungen im Vereinigten Königreich nicht aus, der britische Markt rückt etwas aus dem Fokus. Dazu beobachten wir, dass einige Kunden aus Großbritannien neue Vertragsabschlüsse aktuell meiden, da sie den Brexit abwarten“, sagt Jorga. „Andere Kunden kommen bewusst jetzt auf uns zu für zeitnahe Vertragsabschlüsse, um mit einem Dienstleister außerhalb Großbritanniens zu arbeiten.“
Erwartung an den Brexit hat die Beziehungen abgekühlt
Ob harter oder weicher Brexit: Die Handelsbeziehungen Berliner Firmen ins Vereinigte Königreich haben sich bereits abgekühlt. Während der Export nach Großbritannien zwischen Januar und Juni im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stabil blieb und ein leichtes Plus von 0,2 Prozent aufweisen konnte, sind die Importe um sieben Prozent eingebrochen.
Dabei war die Entwicklung vor dem Brexit-Referendum positiv: So stieg der Wert aller insgesamt von Berliner Firmen ausgeführten Waren und Dienstleistungen von 507 Millionen Euro im Jahr 2007 auf 644 Millionen zehn Jahre später. Auch importierte Berlin zuletzt mehr von der Insel – im Wert von rund 532 Millionen Euro (2017). Top-Importgüter von der Insel waren Leder und Lederwaren, Maschinen, Kraftwagen und Kraftwagenteile. Die Briten kauften in Berlin vor allem Nahrungs- und Futtermittel, Tabakerzeugnisse und Datenverarbeitungsgeräte.
Online-Bestellungen nur noch per speziellem Formular möglich
„Klarheit“ wünscht sich auch Paul Kündiger. Der Gründer und Geschäftsführer der Hauptstadtader GmbH, die die Aufkleberdruckerei „DeineStadtKlebt.de“ betreibt. Jeder zehnte Auftrag aus dem Ausland kommt aus Großbritannien, darunter ein Großkunde der monatlich bestellt. Kündiger rechnet mit einem Brexit ohne Austrittsabkommen. „Noch funktionieren die Abläufe wie immer, aber Klarheit für die Zukunft wäre hilfreich, dann könnte man sich auf die neuen Gegebenheiten wie längere Lieferzeiten einstellen und planen“, sagt Kündiger.
Eine erste Vorsichtsmaßnahme hat der Unternehmer bereits getroffen, Online-Bestellungen aus Großbritannien werden nun manuell über ein Kundenformular abgewickelt, vorher haben die Kunden selbstständig geordert. „So stehen wir mit Kunden aus Großbritannien in direktem Kontakt und können auf den Brexit reagieren“, sagt Kündiger mit Blick auf die noch ungewisse Zukunft. Im Unternehmen hat man zwar schon Erfahrung im Handel mit Drittstaaten, der Brexit ist dennoch eine Herausforderung.
Vielen Berliner Unternehmen mit Geschäftsbeziehungen nach Großbritannien fehlt jedoch die Erfahrung im Handel mit Drittstaaten, da sich die Geschäftstätigkeiten oft nur auf den EU-Binnenmarkt konzentrieren. Bei der Berliner Industrie- und Handelskammer hat man reagiert und unter anderem die Brexit-Thematik in die Zollworkshops Export und Import eingebaut.
Die Anfragen für diese Workshops haben sich erhöht und waren schnell ausgebucht. Die Kammer bietet schon Zusatztermine an. Auch die Versandabteilung von „DeineStadtKlebt.de“ nutzte die Expertise der Industrie- und Handelskammer für Brexit-Vorkehrungen. „Die angebotene Brexit-Checkliste war sehr hilfreich und deutlich aufschlussreicher als andere Quellen“, meint Kündiger.
Die IHK Berlin hat eine Checkliste mit 17 Punkten – von Berufsbildung bis Zollrecht – erstellt (10 Seiten PDF, Download hier). Denn nicht nur Exporteure und Importeure, die sich bisher so gut wie keine Gedanken über Zollformalitäten machen mussten, sollten Vorbereitungen für den Fall der Fälle treffen. Kommt es zu einem „harten Brexit“, würde auch die EU-weite Personenfreizügigkeit nicht mehr gelten.
Britische Staatsbürger als Angestellte sollten also Kontakt zu ihrer Personalabteilung aufnehmen. In einer im Dezember 2018 veröffentlichen Umfrage der IHK sahen immerhin sechs Prozent der heimischen Unternehmen „personelle Veränderungen“ aufgrund des Brexit vor. Weitere elf Prozent zogen diese in Erwägung. Auch Firmen ohne Handelspartner oder Personal aus Großbritannien könnten betroffen sein. So werden fast 90 Prozent aller in Euro gehandelten Derivate, vor allem Zinsderivate und Währungsswaps, am Finanzplatz London gehandelt.
Tim Spark