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Mehrere Dutzend IS-Anhänger mit deutschem Pass, darunter viele Frauen und Kinder, sind noch in Syrien inhaftiert.
© /ELIL SOULEIMAN/AFP

Erste IS-Rückkehrerin angekommen: Wie sich Berlin auf die Kinder aus dem Terrorstaat vorbereitet

In Berlin ist erstmals eine Frau mit Kind angekommen, die dem IS nahesteht. Es gibt gute Betreuung – und viele Probleme.

Alles natürlich sehr vertraulich, nur wenige Details sind bekannt. Die Mutter ist aus einem früheren Kriegs- und Krisengebiet zurück gekommen, sie hat einen deutschen Pass, sie hatte ihr Kind dabei, es ist so jung, dass es noch nicht schulpflichtig ist. Betreut wird es jetzt nach Informationen des Tagesspiegel vom Jugendamt des Bezirks Mitte. Mehr ist nicht bekannt. Nicht mal ob es sich bei dem Kind um einen Jungen oder ein Mädchen handelt.

Aber eines steht fest: In Berlin müssen sich Verantwortliche seit kurzem um den ersten Fall einer IS-Rückkehrerin mit ihrem Kind kümmern. Die Frau war inhaftiert in einem Lager der Kurden, kein Außenstehender weiß, welche Rolle sie im Gebiet des IS gespielt hat.

Die Vertraulichkeit hat System. „Das jeweils zuständige Jugendamt achtet sehr darauf, dass niemand erfährt, welche Geschichte das Kind hat“, sagt Thomas Mücke, der Geschäftsführer von Violence Prevention Network (VPN). Die Organisation kümmert sich um die Deradikalisierung von Jugendlichen und Erwachsenen. „Es gibt einen Fall aus einem anderen Bundesland, da wurde ein Siebenjähriger eingeschult, niemand wusste, woher er kommt. Das war sehr professionell“, sagt Mücke.

Sehr klar ist dafür ein anderer Punkt. Diese Mutter mit ihrem Kind ist die erste von vielen weiteren IS-Rückkehrerinnen mit einem oder mehreren Kindern. Nach einem Gerichtsurteil ist klar, dass die Bundesrepublik IS-Angehörige mit deutschem Pass zurückholen muss.

In Syrien waren nach einer Liste der Bundesregierung zuletzt 84 Anhänger des „Islamischen Staats“ mit deutschem Pass inhaftiert. 19 Männer und acht Frauen davon werden als Gefährder eingestuft. Gut möglich, dass noch mehr Personen betroffen sind. „Berlin rechnet mit der Rückkehr von circa 30 Frauen, für die – Gegensatz zu den Männern – in der Regel kein Haftbefehl vorliegt“, sagt Falko Liecke, CDU, Bezirksstadtrat für Jugend und Gesundheit in Neukölln.

„Für das Jugendamt hat das Kindeswohl die höchste Priorität“

Die große Frage lautet: Wenn sie da sind, was passiert dann? Wie geht man mit ihnen um? Eine Fallkonferenz ist dafür zuständig. Verschiedene Behörden sitzen zusammen, Jugendamt, Landeskriminalamt, die Berliner Kinderschutzkoordinatorinnen, aber auch VPN, Mückes Organisation, gehört dazu.

Es gibt ja eine Vielzahl von Fragen: Wie ist der Gesundheitszustand von Frau und Kind? Liegt eine Traumatisierung vor? Wie integriert man die Frau in ein soziales Umfeld? Ist das Kind schulpflichtig oder benötigt es einen Platz in einer Kita? Ist die Mutter überhaupt in der Lage, das Kind angemessen zu erziehen oder hängt sie noch der menschenverachtenden Gedankenwelt des IS? Konkret übernimmt eine Mitarbeiterin der Senatsverwaltung für Inneres und Sport die Koordination.

Neukölln hat noch keinen Fall, aber es ist eine Frage der Zeit, bis auch dieser Bezirk betroffen ist. Und das Prinzip gilt für ganz Berlin. „Wir gehen davon aus, dass bei einer Rückkehr von Mutter und Kindern immer die Prüfung einer möglichen Kindeswohlgefährdung stattfinden muss, die im ersten Schritt vor allem die Grundversorgung betrifft“, sagt Liecke.

Im zweiten Schritt gehe es um die Prüfung einer potenziellen emotionalen Misshandlung oder Vernachlässigung durch eine möglicherweise kindeswohlgefährdende Erziehung. „Für das Jugendamt hat das Kindeswohl die höchste Priorität“, sagt auch Mücke. Der Kinder- und Jugendnotdienst klärt die Zuständigkeit des jeweiligen Jugendamts und koordiniert die Zusammenarbeit mit der Polizei.

Aber es kommen ja auch Waisenkinder zurück, in der Regel kümmern sich die Großeltern um sie. In solchen Fällen muss das Jugendamt die Perspektiven der Kinder klären. Zudem geht es um Punkte wie Sorgerecht, Aufenthalt, notwendige Unterstützung für ein Leben im Alltag.

Der soziale Träger betreut viele Fälle von IS-Rückkehrerinnen

Ein Problem sind die Therapien. Viele Kinder sind mit hoher Wahrscheinlichkeit traumatisiert, sie haben Gewalt erlebt, mitangesehen, teilweise in äußerst brutalen Formen. Es gibt, sagt Liecke, „keine ausreichende Kapazitäten in der Traumatherapie für Erwachsene und Kinder“. Stattdessen gibt es teilweise lange Wartelisten, vor allem wenn arabisch sprechende Therapeuten benötigt werden.

Eine sehr bedeutsame Rolle kommt VPN zu. Derzeit betreut der soziale Träger ein halbes Dutzend Fälle von IS-Rückkehrerinnen in ganz Deutschland. „Wir sind auf alles vorbereitet“, sagt Mücke. Wann seine Mitarbeiter eingebunden werden, hängt vom Einzelfall ab. Es ist aber theoretisch möglich, dass die Mütter schon am Flughafen abgeholt werden. „Wir sind viel näher an den Familien als die Jugendämter“, sagt Mücke.

Das Violence Prevention Network schlägt sofort Alarm, wenn es Probleme feststellt. Gerade mit den Müttern wird oft jahrelang gearbeitet, um die Entwicklungen verfolgen zu können. VPN hatte einen Fall in Bayern, bei dem eine Rückkehrerin erstmal mit ihren beiden Kindern zu ihrer Mutter gezogen ist. „Da haben wir vor allem die Großmutter gestärkt, die sich besonders um die Kinder gekümmert hat.“ Bei älteren Kindern, sagt Mücke, „schauen wir, wie es sich entwickelt, welche Denkmuster vorhanden sind, die haben ja zum Teil furchtbare Sachen erlebt.“ VPN hält auch Kontakt zu Schulen. „Wir sind da, wenn es Probleme gibt.“

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Es kann natürlich auch mit den Müttern Probleme geben, die noch in der IS-Gedankenwelt verankert sind. Mücke bringt das Beispiel einer Frau, der vom Jugendamt klar gesagt wurde: Sie müssen mit VPN reden, sonst droht der Entzug des Sorgerechts. Doch der Kontakt mit der Mutter war erstmal ernüchternd. VPN gab dem Jugendamt die Rückmeldung, „dass die Mutter beratungsresistent ist“.

Erst mit Verzögerung ließ sich die Frau auf eine Zusammenarbeit ein. „Ich kenne keinen Fall, in dem das Sorgerecht tatsächlich entzogen wurde“, sagt Mücke. Bei Gesprächen mit schwierigen Frauen „gehen wir erstmal davon aus, dass es ein Muttergefühl gibt“. Die Drohung mit dem Entzug des Sorgerechts müsste Warnung genug sein. „Aber am Ende entscheidet dann das Jugendamt.“

Gut möglich aber, dass das Jugendamt umgekehrt auf VPN zukommt. Zum Beispiel, wenn es bei einem älteren Kind problematische Entwicklungen erkennt. „Dann sagt das Jugendamt zu uns: Schaut ihn euch mal genauer an.“

Beim Jugendamt Neukölln haben sich zwei Mitarbeiterinnen „tiefergehend in die Thematik IS-Rückkehrer und -Rückkehrerinnen eingearbeitet“, sagt Liecke. Die Kinderschutzkoordinatorin ist ebenfalls intensiv eingebunden. Allerdings leidet das Jugendamt Neukölln wie alle anderen Jugendämter auch unter Personalmangel. 129 Stellen sind für die direkte Arbeit mit Familien vorgesehen, sieben davon sind derzeit nicht besetzt. „Das Problem ist, dass selbst die 129 Stellen nicht ausreichen“, sagt Liecke.

IS-Rückkehrer verschärften dieses Problem nicht erheblich

Bleiben nun wegen der Arbeit mit IS-Rückkehrern andere, wichtige Arbeit liegen? „Für das Jugendamt Neukölln hat der Kinderschutz höchste Priorität“, sagt Liecke. „Auch jetzt haben die Fachkräfte in Zeiten enger personeller Ressourcen immer wieder wenig Zeit für andere Aufgaben des Regionalen Sozialdienstes. Das ist jedoch ein grundsätzlich ein Problem.“

Die IS-Rückkehrer verschärften dieses Problem nicht erheblich. „Bis jetzt gibt es keine Anzeichen dafür, dass Neukölln mehr als einige Einzelfälle, oder gar mehr als eine einstellige Zahl an IS-Rückkehrerinnen, Frauen mit Kindern, beraten wird.“ Angesichts von 996 Meldungen einer möglichen Kindeswohlgefährdung, die in diesem Jahr eingegangen sind, eine überschaubare Größe.

Und im Moment ist ohnehin unklar, wann die große Zahl von Rückkehrern kommen wird. „Wir hatten sie schon im September und Oktober erwartet“, sagt Mücke. „Aufgrund der unklaren Lage in dem Gebiet, in das die Türkei einmarschiert ist, werden sie aber wohl später zurückkommen.“

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