„Fall ist in seiner Dreistigkeit einzigartig“: Wie Ermittler ein komplexes Cyber-Betrugssystem aufdeckten
Ein vorbestrafter Prädikatsjurist wird in Berlin zu langer Haft verurteilt. Der Fall zeigt, was möglich ist, wenn Ermittler fast alle Mittel ausschöpfen.
Der Raum von Staatsanwalt Aljoscha Leder verströmt die gleiche kalt-nüchterne Atmosphäre wie fast alle Büros im Landgericht Berlin in Moabit. Aktenschrank, Topfpflanze, Schreibtisch. Der 31-jährige leitet ein Dezernat in der Abteilung für organisierte Cyberkriminalität.
Jetzt sitzt er an seinem Schreibtisch, Unterlagen vor sich. Wenige Tage zuvor hatte er ein paar Türen weiter, im Saal 504, durchaus zufrieden die Urteile gegen Shahin B. und Johannes F. gehört: sieben Jahre und sechs Monate beziehungsweise fünf Jahre und sechs Monate. Leder hatte sie unter anderem wegen gewerbsmäßiger Urkundenfälschung und gewerbsmäßigen Betrugs angeklagt. Der Staatsanwalt hatte ein Jahr lang nur an diesem Fall gearbeitet.
Harte Urteile bei solchen Taten. „Aber es war auch ein Fall, der für uns einzigartig ist, so etwas hat es hier noch nie gegeben. Er ist auch an Dreistigkeit nicht zu überbieten.“ Der Fall hat Aufsehen erregt.
Da ist ja nicht bloß die Vorgeschichte von Shahin B. Der Jurist mit dem Prädikatsexamen war, ebenfalls wegen gewerbsmäßigen Betrugs im Bereich der Cyberkriminalität, zu vier Jahren Jugendhaft verurteilt. Im offenen Vollzug hatte er sofort wieder betrogen und sich gleichzeitig erfolgreich zu einem Referendariat im Berliner Kammergericht geklagt. Ausgerechnet mit Hilfe eines Vereins, der sich für die Resozialisierung von Straftätern engagiert.
Die pikante Beinote: Am Tag, als das Oberverwaltungsgericht sein Urteil zugunsten von Shahin B. veröffentlichte, saß der seit drei Wochen schon wieder in Untersuchungshaft.
„Wir haben in diesem Fall nahezu alles eingesetzt, was uns an Mitteln zur Verfügung steht“
Zur Besonderheit machen diesen Fall aber auch die komplizierten, zeitaufwendigen Ermittlungen. „Wir haben in diesem Fall nahezu alles eingesetzt, was uns an Mitteln zur Verfügung steht“, sagt Leder. „Aber es ist ein Beweis dafür, was wir leisten können, auch im komplizierten Bereich der Cyberkriminalität.“
Nur durch diese Detailarbeit konnte Leder viele einzelne Fäden zusammenführen und nachweisen, dass die ein kompliziertes Betrugsnetzwerk bildeten. Eine Observation mit teilweise 20 Beamten, Telefon-, Video und Postüberwachung, drei Beamte des Landeskriminalamts (LKA), die wochenlang ausschließlich Leder zuarbeiteten, ein Spezialfahrzeug, mit dem man nahezu punktgenau herausfinden kann, wo jemand telefoniert – alles dabei.
[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's nun mit Tagesspiegel Plus: Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]
Für Leder begann der Fall im April 2019, nachdem ein Kreditkartenunternehmen beim LKA Anzeige erstattet hatte. Die Firma registrierte, dass mit ihren Kreditkarten in kürzester Zeit sehr viel Geld abgebucht, aber die Konten nicht ausgeglichen wurden. Das LKA prüfte die angeblichen Konteninhaber. Das Ergebnis: Namen und Adressen waren gefälscht. Kreditkarten und Konto-Eröffnungsanträge hatten die Täter durch ganz Deutschland über eine Kette von Nachsendeanträgen an ebenfalls fiktive Adressen senden lassen. Aber allein die Überprüfung des jeweiligen Adressaten und seiner Personalien war zeitaufwendig und mühsam.
An der DHL-Station tritt der Täter erstmal persönlich auf
Das vorletzte Glied in der Nachsende-Kette war eine Postsammelstation in Berlin. Angemietet hatten die Täter das Schließfach ebenfalls unter Aliasnamen. Das letzte Glied war eine DHL-Station in Berlin, das erfuhr die Polizei von der Poststation, die musste das Material weiterleiten. „Der Übergang von der digitalen in die analoge Welt“, sagt Leder. „Das ist der gefährlichste Moment für die Täter.“ Denn irgendwann müssen sie ja persönlich in Erscheinung treten, sie müssen ja die Kreditkarten und Anträge in Händen halten.
Die DHL-Station war nicht videoüberwacht, darauf hatten die Täter sehr geachtet. Also platzierte das LKA seine eigene Videokamera. Die war so programmiert, dass sie sich einschaltete, wenn das betroffene Schließfach geöffnet wurde.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Nach einigen Tagen tauchte tatsächlich ein Täter auf. Allerdings war sein Gesicht nur verschwommen erkennbar. Dafür konnten die Fahnder sehr gut das Logo einer Mietwagenfirma erkennen, das auf einem Auto klebte. Das Fahrzeug stand direkt neben der DHL-Station. „Wir fragten bei der Firma nach dem Namen des Mieters“, sagt Leder. „Es war ein Ermittlungsansatz, vielleicht hatte ja der Täter das Fahrzeug benützt.“
Dann die Antwort. „Sie war unser Jackpot“, sagt Leder.
Denn Mieter des Fahrzeugs war Shahin B. Jener Shahin B., den die Polizei längst in ihren Akten hatte, verurteilt wegen genau der gleichen Taten, bei denen die Fahnder jetzt ermittelten. Das konnte kaum noch Zufall sein.
Fahnder stellen ein umfangreiches Betrugssystem fest
Noch weniger Zufall konnte es sein, dass Shahin B. immer dann mit einem Mietwagen dieser Firma in der Nähe jener Bankautomaten parkte, an denen die Täter Geld mit den Kreditkarten zogen. Die Firma hatte ja alle Geodaten ihrer Autos gespeichert. Die Fahnder überwachten die Post aus dem DHL-Schließfach und stellten erstaunt fest, dass viele Kreditkarten und Kontoeröffnungsanträge hier landeten.
„Doch jetzt“, sagt Leder, „fing die eigentliche Arbeit erst an.“ Denn das LKA prüfte alle Konten und ihre angeblichen Inhaber. Dabei stellte sich heraus: Gegen viele dieser Konteninhaber liefen Anzeigen wegen Betrugs. Die Betrogenen hatten auf diese Konten Geld für alles Mögliche gezahlt. Vorkasse bei einem Ebay-Kauf von Staubsaugern oder Bohrmaschinen, aber auch Geld für Musikkonzerte. Die Staubsauger und die Bohrmaschinen wurden nie geliefert, die Konzerttickets schon. Nur waren sie gefälscht.
Geld wurde teilweise in Kryptowährung getauscht
Das LKA stellte mühsam fest, dass das Geld auf den Konten nicht bloß von einer Bank zur nächsten überwiesen wurde, teilweise auch ins Ausland, sondern mitunter auch in Kryptowährung getauscht wurde.
[In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]
Genauso wichtig war aber ein anderer Punkt: Staatsanwalt Leder konnte mit den Kontendaten das System des Betrugs nachweisen. Die Betrogenen, die vergeblich auf ihre bestellte und bezahlte Ware warteten, saßen in ganz Deutschland, niemand wusste vom anderen. Für die jeweilige Staatsanwaltschaft war jede Anzeige lediglich ein Einzelfall. In den meisten Fällen wurden die Ermittlungen auch noch eingestellt.
Doch Leder, mit seinem Überblick auf die Konten, wusste, dass die immer gleichen Täter am Werk waren. „Es handelte sich um Hunderte Taten“, sagt der Staatsanwalt. „Sie füllten Leitzordner und eine Schrankwand. Ich habe angeordnet, dass die Verfahren hier in Berlin übernommen werden. Ich habe alle Verfahren wieder aufgenommen.“
Dann begann die Telefonüberwachung und Observation von Shahin B., auch seinen Mailverkehr überwachten die Fahnder. Bei diesen Ermittlungen stießen sie auf den zweiten Täter, Johannes F. Auch der wurde nun engmaschig überwacht. Die Schlinge zog sich immer enger um Shahin B. und Johannes F.
13 Durchsuchungen in drei Bundesländern an einen Tag
Dann kam der so genannte „action day“. An diesem Tag rückten mehrere Dutzend Beamte in drei Bundesländern zu insgesamt 13 Durchsuchungen aus, darunter Wohnungen und Schließfächer.
Ein heikler Punkt bei den Ermittlungen: Shahin B. und Johannes F. durften nicht erfahren, dass gegen sie ermittelt wird. Nach dem Informationsfreiheitsgesetz darf man bei der Polizei nachfragen, ob man im Zentrum von Ermittlungen steht. Der Jurist Shahin B. mit seinem Prädikatsexamen wusste das natürlich. Er fragte auch nach, allerdings erfolglos, weil bei Ermittlungen wie in seinem Fall keine Informationen rausgegeben werden.
Aber je länger die Fahnder forschten, umso mehr Polizisten in ganz Deutschland wussten, dass ein Staatsanwalt in Berlin einem Betrugssystem auf der Spur ist. „Wenn sich plötzlich irgendein Polizist bei einer Anfrage von B. verplappert hätte, wäre alles aufgeflogen“, sagt Leder. Aber jeder hielt dicht.
Der Staatsanwalt will weitere Taten anklagen
Am 24. Oktober 2019 wurden Shahin B. und Johannes F. festgenommen. Aber noch ist ihr Fall nicht abgeschlossen. Denn Leder will sie noch wegen anderer Taten, die er ermittelt hat, anklagen.
Vor allem aber sucht er noch viel Geld. Aus überwachten Chatnachrichten weiß der Staatsanwalt, dass Shahin B. wohl Kryptowährung in Höhe von etwa einer Million Euro irgendwo auf der Welt deponiert hat. Leder hat deshalb in verschiedenen Ländern Rechtshilfeersuchen gestellt, in der Hoffnung, dort zum Beispiel etwas über die nach Litauen, Großbritannien oder die Ukraine versandten Gelder zu erfahren. Bislang ohne Erfolg.
Aber zumindest einen vergleichsweise kleinen Betrag konnten die Fahnder sicherstellen. In Shahin B.s Wohnung fanden sie in einer Suppendose 69.000 Euro.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität