Verkehrsstaatssekretär Kirchner: „Wer in Berlin Auto fährt, hat zu viel Zeit“
Staatssekretär Jens-Holger Kirchner kündigt im Interview eine neue Verkehrspolitik für Berlin an: Tempolimits für Sicherheit, Lieferverkehr mit Lastenrädern und eine Reform der Verkehrslenkung.
Als Freund der klaren Sprache und Politiker ohne Angst vor (Partei-)Freund und Feind stand der Grüne Jens-Holger Kirchner schon oft im Mittelpunkt. Jetzt, als Verkehrsstaatssekretär in der neu geschaffenen Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, hat der langjährige Pankower Bezirksstadtrat sein Domizil am Köllnischen Park. Mitgenommen hat der 57-Jährige nicht nur sein Stehpult, sondern auch zwei Artikel aus dem Tagesspiegel: „50 Prozent Radverkehr sind überall möglich“, steht über dem Interview mit dem Kopenhagener Umweltbürgermeister Morten Kabell vom Dezember 2015. Den zweiten Artikel hat Kirchner stets in der Tasche: Eine Glosse von Bernd Matthies von 2011, die sich mit dem Protest gegen den Umbau der Kastanienallee befasst („Stoppt K21!)“, der damals riesig schien, aber doch klein war. Das Thema verfolge ihn bis heute, sagt Kirchner.
Herr Kirchner, wie bewegen Sie sich eigentlich durch die Stadt?
Multimodal. Zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit den Öffentlichen, mit dem Auto – womit wir schon beim Thema sind: Ich habe einen Hybrid-Dienstwagen, der statt der angegebenen 45 Kilometer nur 17 rein elektrisch schafft und statt 4,9 Liter real 8 Liter braucht. Da schummeln offenbar diverse Hersteller. Das ist ein Problem, weil wir einen umweltfreundlichen Fuhrpark in den Landes- und Bezirksbehörden wollen. Es wird schwierig, Autos zu beschaffen, die halten, was sie versprechen.
Demnächst wird die Unfallbilanz für 2016 vorgestellt. Gute Nachrichten sind nicht zu erwarten, und die Unfallkommission arbeitet von 500 notorischen Brennpunkten pro Jahr ein gutes Dutzend ab. So wird Verkehrssicherheit zur Generationenfrage.
Ich schätze die Arbeit der Kommission, aber ich würde sie gern mehr in Richtung einer Taskforce entwickeln. Viele Unfallschwerpunkte resultieren allerdings aus menschlichem Fehlverhalten und der schieren Größe der Verkehrsknoten und der Verkehrsströme, die sich da kreuzen.
Die zehn schlimmsten Unfallschwerpunkte liegen an Hauptstraßen, an denen Tempo 50 gilt. Müsste man nicht dort dringend die Geschwindigkeiten reduzieren?
Es gibt dazu bereits eine Studie. Die war in einer Schublade verschwunden, aus der wir sie nun herausholen. Eines kann ich versprechen: Es wird in Berlin künftig eine andere Verkehrspolitik geben. Und zwar eine, die keine Auseinandersetzungen scheut aus Angst vor irgendwem. Mehr Verkehrssicherheit soll allen zugute kommen – auch Autofahrern.
Mit der Verkehrslenkung VLB haben Sie eine Behörde übernommen, die als Inbegriff des Berliner Verwaltungsversagens gilt.
Auf der VLB ist jahrelang herumgehackt worden. Der Chef wurde rausgeworfen, die Stadt hat sie ausgelacht, und niemand hat sich wirklich gekümmert. Ich habe selten so viel Frust erlebt wie in der VLB. Die Leute dort haben das Gefühl, dass sie bei wichtigen Entscheidungen alleingelassen werden. Wo Angst regiert, wird schlecht oder gar nicht entschieden. Auch deshalb dauert vieles so lange, obwohl dort gute Leute arbeiten. Hinzu kommt ein enormer Krankenstand, der mit diesen Rahmenbedingungen zu tun hat. Erst wenn wir die Bedingungen verbessert haben, können wir mutige, fortschrittliche Entscheidungen erwarten. Darum kümmere ich mich. Die VLB bekommt demnächst einen neuen Leiter. Die längst überfällige Untersuchung der Organisation hat begonnen – und ich bin frohen Mutes, dass dabei etwas herauskommt.
Manchmal hat man den Eindruck, dass die VLB die Verkehrswende in Berlin eher behindert als begleitet: Rechtswidrige Radweg-Schilder werden erst nach verlorenen Gerichtsprozessen abgeschraubt und eigene Grünphasen für Radfahrer gibt es nicht mal an Unfallschwerpunkten.
Als Staatssekretär kann ich Ihnen sagen, dass die Behörde die politisch beschlossene Verkehrswende selbstverständlich unterstützen und nicht behindern wird. Das setzt die Straßenverkehrsverordnung nicht außer Kraft. Die Verkehrsverwaltung hat übrigens schon gute Arbeit geleistet. Es hat nur niemand bemerkt. So ist die Strategie Fahrradparken längst fertig, sie ist nur in der alten Legislaturperiode nicht mehr verabschiedet worden. Jetzt können wir auf dieser Vorarbeit aufbauen.
Es gibt tatsächlich schon einige Infrastruktur für Radfahrer, die gut wäre, wenn man sie auch benutzen könnte und sie nicht ständig zugeparkt wäre.
Meine Verwaltung hat sich bereits mit fast allen großen Lieferdiensten zusammengetan und Bundesmittel für ein Forschungsprojekt beantragt, das das Problem der sogenannten letzten Meile lösen soll – mit einer Art Packstation, von der die Waren mit elektrischen Lastenfahrrädern zu den Kunden gebracht werden sollen. Auch ein Lastenfahrradbetreiber hat an einem ähnlichen Projekt Interesse. Ich hoffe, dass die Tests noch in diesem Jahr starten können.
Sind die beteiligten Unternehmen daran ernsthaft interessiert?
Ja, und zwar nicht, weil sie Ökos sind, sondern Zeit-Ökonomen. Innerstädtische Mobilität wird sich maßgeblich über die Ressource Zeit regeln. Wer in Berlin Auto fährt, hat zu viel Zeit...
… und Sie werden dafür sorgen, dass das in Zukunft jeder Autofahrer spürt?
Nein, das ist die alte Gleichung „Grüne = Autohasser“, die nicht stimmt. Es wird sich einfach zunehmend so ergeben, zumal die Stadt immer voller wird. Der Radverkehr ist ja nicht in erster Linie deshalb so stark gewachsen, weil die Leute Gesundheitsapostel und Ökos sind, sondern weil sie wissen, dass sie mit dem Rad zügig vorankommen – auf längeren Strecken am besten in Kombination mit den Öffentlichen. Das Auto wird es in der Stadt trotzdem weiter geben. Für viele wird sich jedoch die Frage stellen, ob es das eigene sein muss, mit dem man abends eine Dreiviertelstunde auf Parkplatzsuche herumkurvt. Ich will das nicht diskreditieren, aber ich denke schon, dass sich manche Gewohnheit ändern wird und sollte, wenn jeder ein Smartphone in der Tasche hat und per App aufs Verkehrsmittel seiner Wahl zugreifen kann.
Das Mietfahrradsystem von Nextbike wird vom Senat mit bis zu 1,5 Millionen Euro im Jahr unterstützt. Ärgert es Sie, dass die Bahn zusammen mit Lidl ein Konkurrenzsystem etablieren will?
Die Ankündigung der Bahn hat mich überrascht. Aber ich würde sagen, dass zwei Leihradsysteme in jedem Fall besser sind als gar keins und vielleicht auch besser als ein Monopolist. Wir werden sehen, ob beide auf Dauer überleben.
Und wenn das stirbt, in das Sie Steuergeld stecken?
Dann ist es schlimmstenfalls ein Experiment, das schiefgegangen ist. Manche neue Technologien brauchen nun mal Starthilfe von der öffentlichen Hand, oft in ganz anderen Dimensionen. Das galt schon für die Eisenbahn. Davon abgesehen bin ich skeptisch, ob das System der frei im Straßenland abgestellten Räder bei der Bahn jetzt plötzlich funktioniert, nachdem es vor Jahren schon einmal gescheitert ist. Aber die Alternative mit den hässlichen Betonklötzen möchte ich auch nicht wiederhaben.
Der Fahrrad-Volksentscheid sitzt Ihnen im Nacken. Wie viel vom Radgesetz lässt sich umsetzen?
Mitte Februar beginnen die Gespräche auf Einladung der Senatorin. Ich gehe davon aus, dass wir die Ziele des Koalitionsvertrags umsetzen können. Das wird die Initiative freuen. Aber natürlich sprechen wir auch mit anderen Verbänden, denn wir machen ein Mobilitätsgesetz für alle und nicht nur für den Volksentscheid. Wir machen keine Lobbypolitik, bei der die Interessenvertreter die Gesetze schreiben. Unser Gesetz wird der Überbau für einzelne Pakete – und für ein Bündnis aller Beteiligten einschließlich Bezirken, BVG und den Leitungsbetreibern wie zum Beispiel den Wasserbetrieben , die gemeinsam die Mobilität weiterentwickeln sollen, auch im Sinne der Barrierefreiheit. Je breiter das Bündnis, desto besser. In Hamburg gibt es so etwas schon; da hat übrigens für die Stadt der Erste Bürgermeister unterschrieben.