Das Unglück hätte tödlich enden können: Wenn Straßenbäume schwach werden
Montag zog ein ungewöhnliches Gewitter über Berlin. Der Unfall in Lichterfelde, bei dem ein Baum auf ein Auto fiel, zeigt die Tücken des alternden Stadtgrüns.
Das Unwetter, das am Montag von Spandau über die nördliche Berliner Innenstadt zog und via Marzahn verschwand, war tags darauf noch Stadtgespräch. Während die einen von seiner Heftigkeit beeindruckt waren, wunderten sich die anderen: welches Unwetter?
Nahezu 100 Bäume in Berlin sollen den Durchzug des Gewitters am Montagnachmittag nicht überlebt haben; hinzu kommen Hunderte abgebrochene Äste sowie massive Sturm- und Wasserschäden wie am BVG-Betriebshof in Weißensee, dessen Dach teilweise zerstört wurde.
Insgesamt leistete die Feuerwehr etwa 300 wetterbedingte Einsätze. Der gravierendste Fall geschah in Lichterfelde, wo in der Baseler, Ecke Ringstraße eine große Kastanie auf ein Auto krachte. Der oder die Fahrer(in) – im Bericht der Feuerwehr bleibt dieses Detail offen – wurde verletzt ins Krankenhaus gebracht.
Angesichts der Größe des Baumes und der Schäden an dem VW Golf hätte das Unglück auch tödlich enden können – wie jenes im Oktober 2019, als in der Koenigsallee in Grunewald ein Ahorn auf einen Geländewagen fiel, dessen Fahrerin starb. Nach Auskunft der juristisch zuständigen Finanzverwaltung läuft bei der Staatsanwaltschaft zu dem Fall ein Ermittlungsverfahren, zu dessen Einzelheiten man sich momentan nicht äußern könne.
Die Kastanie in Lichterfelde wurde nach Auskunft der Steglitz-Zehlendorfer Stadträtin Maren Schellenberg (Grüne) zuletzt im Mai „fachkundig visuell kontrolliert“ und für unauffällig befunden. Nun solle es vorsorglich Sonderkontrollen im betroffenen Bereich geben.
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Die beiden Fälle ähneln sich insofern, als es zur Unglückszeit gar nicht allzu windig war. Das Unwetter vom Montag zog weiter nördlich durch; im Süden Berlins gab es nur ein paar Böen und keinen Regen. Der erhöht im Sommer die Bruchgefahr, weil er viel zusätzliches Gewicht in der Krone bedeutet. Im Winter, wenn die Bäume ihr Laub abgeworfen haben, sind sie ohnehin resistenter gegen starken Wind.
Dass Straßenbäume auch außerhalb schwerer Stürme auf Autos stürzen, kommt immer mal wieder vor. Als Ursache zeigen sich manchmal bei Bauarbeiten beschädigte Wurzeln, aber auch das Alter der Bäume spielt eine Rolle – und zwar eine zunehmende, wie Derk Ehlert vermutet.
Der Naturexperte der Umweltverwaltung sagt, dass viele der rund 430.000 Straßenbäume aus den 1950ern und 1960ern stammen und in den nächsten Jahren ersetzt werden müssten. Denn Straßenbäume werden selten so alt wie ihre Artgenossen in Parks und Wäldern.
Straßenbäume sind im Dauerstress
Straßenbäume leiden vielfachen Stress – durch versiegelten Boden, festgetrampelte oder -gefahrene Baumscheiben, reflektierte Sommerhitze von Gebäuden, Hunde-Urin, giftige Stickoxide von Dieselmotoren und durch die Trockenheit, die nach Auskunft von Ehlert zwar oberflächlich nicht mehr so dramatisch scheint wie in den vergangenen beiden Jahren, aber in den tieferen Bodenschichten kaum gelindert ist. Hinzu kommen die höheren Windgeschwindigkeiten in der Stadt, die sich aus dem Düseneffekt zwischen hohen Gebäuden ergeben.
Jörg Riemann hat auf Anfrage das Unwetter vom Montag rekapituliert. „Das war der klassische Stadteffekt“, resümiert der Chefmeteorologe des Dienstes „Wettermanufaktur“: Die „raue“ bebaute Oberfläche habe die Windböen wohl massiv verstärkt. Dafür sprächen die immensen Schäden: „Ein gesunder Baum fällt erst bei Windstärke 10 um.“
Das Gewitter entstand laut Riemann morgens in einer Kaltfront über Niedersachsen. Über Sachsen-Anhalt wurde es stärker und legte mittags über dem Havelland weiter zu, ohne aber größer zu werden. So erreichte der – nur wenige Quadratkilometer große, aber mehrere Kilometer hohe – Wolkenberg kurz vor 15 Uhr Staaken und zog dann über die nördliche Innenstadt ostwärts via Marzahn nach Märkisch-Oderland, wo ihm die Puste ausging.
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Böse erwischt hat es den Volkspark Humboldthain: Das Bezirksamt Mitte warnt dringend vor dem Betreten, bevor in den nächsten Tagen „wenigstens die akuten Unfallgefahren in den Wegebereichen“ beseitigt seien. Alle verfügbaren Beschäftigten seien im Einsatz, teilte Stadträtin Sabine Weißler (Grüne) mit.
Außerhalb der Großstadt ist der Effekt von Unwettern meist geringer, weil keine Straßenschluchten den Wind verstärken und Wasser besser abfließen kann. Wobei das Gewitter vom Montag den Messdaten nach gar nicht so dramatisch war: In Staaken fielen binnen einer Stunde 16 Liter Regen pro Quadratmeter, in Tegel sieben, in Marzahn in der darauffolgenden Stunde 18. Etwa bei dieser Menge kommt die Kanalisation an ihre Grenzen. Im Süden und am nördlichen Berliner Stadtrand blieb es trocken.
Die heftigste Böe wurde laut Riemann in Tegel mit Stärke acht („stürmischer Wind“) gemessen, aber abseits des Messnetzes dürfte es lokal deutlich mehr gewesen sein. „Weil sich die Front relativ schnell bewegt hat, war eher der Wind das Problem und nicht der Regen.“