Zu viert auf 60 Quadratmetern: Wenn Familien zusammenrücken, weil ein Umzug zu teuer ist
Anstatt umzuziehen, bleiben immer mehr Berliner Familien in Wohnungen, die zu klein sind. Einrichtungsberaterin Anja Ring hilft – auch in extremen Fällen.
Bevor Jürgen Rüstow und seine Freundin schlafengehen, räumen sie einen Wäscheständer mit Kleidung beiseite und klettern auf ein Podest. Dort liegt ihr Bett, umzingelt von Regalen mit Ordnern und allerlei Kisten. Die Habseligkeiten anderswo verstauen können sie nicht. Die Familie teilt sich zu viert eine 3-Zimmer-Wohnung in Pankow, die kaum größer ist als 60 Quadratmeter. „Eigentlich bräuchten wir mehr Platz“, sagt Jürgen Rüstow. Doch ein Umzug wäre zu teuer, längst übersteigen die Preise bei Neuvermietungen in der Gegend das Budget der Familie. Deswegen rücken Jürgen Rüstow, seine Freundin und die Kinder zusammen, so wie viele Berliner aktuell. Hilfe bekommen sie dabei von Anja Ring.
Die 48-Jährige ist Einrichtungsberaterin und heute bei Jürgen Rüstow zu Gast. Sie hat sich darauf spezialisiert, aus wenig Fläche viel Platz herauszuholen. Vor etwa eineinhalb Jahren hat sie die Nische für sich entdeckt, „nachdem in den Zeitungen immer öfter Geschichten über Wohnungsnot standen“, sagt sie.
Ein Umzug ins Berliner Umland kommt nicht in Frage
Im Bad von Jürgen Rustow schieben sich Eltern und Kinder zum Zähneputzen an der Waschmaschine vorbei. „Trotzdem wollen wir nicht umziehen“, sagt der 54-Jährige, der als Präventionscoach an Schulen arbeitet. Um die 500 Euro überweist er seinem Vermieter jeden Monat. „Für eine Vier-Zimmer-Wohnung zahlen Leute hier im Kiez aber inzwischen mindestens 1500 Euro“, sagt er. „Freunde sind nach Eberswalde gezogen.“ Diese Möglichkeit schließen Rüstow und seine Freundin wegen der weiten Wege zur Arbeit aus.
Das Paar sitzt mittlerweile mit Anja Ring im Kinderzimmer um einen Maltisch ihrer Tochter herum. Das Mädchen wird vier Jahre alt, ihre Schwester ist eineinhalb. In dem Raum sieht es rumpelig aus. Betten, Spielküche, Puppenhaus, Wickeltisch und Schränke stehen nebeneinander an die Wände gerückt. „Ständig stolpere ich über Boxen mit Spielzeug, es ist nicht wohnlich“, sagt Rüstow. Vor allem das Kinderzimmer will er heute verschönern, sein Schlafzimmer und den Wohnbereich stellt er hinten an.
Mit einem Laser vermisst Anja Ring im Kinderzimmer Wände und Möbelstücke. Auf dem Maltisch hat sie Transparentpapier ausgebreitet, daneben liegt eine Art Zollstock, ein Maßstab für unterwegs. „Wenn ich ein Zimmer betrete, gehe ich immer nach dem gleichen Prinzip vor“, erklärt sie. „Ich teile es nach Funktionen auf. In diesem Fall sind das Schlafen, Spielen und Wickeln. Jede Funktion bekommt eine Fläche im Zimmer zugewiesen.“ Auf einer Skizze entspricht das vier blauen Kringeln, zwischen denen sich eine rote Linie durchzieht: Sie weist einen intuitiven Weg, etwa zum Balkon oder zum Fenster.
„Haben Ihre Töchter unterschiedliche Rhythmen, macht die Kleine Mittagsschlaf, während die Große spielt?“, fragt Anja Ring die Eltern, und weiter: „Wie wäre es mit einer Nische nur für die Große? Was halten Sie davon, Schlafen und Spielen räumlich zu trennen? Kommen die beiden abends auch zur Ruhe, wenn sie sich angucken? Dann könnten wir die Betten über Eck stellen.“
Anja Ring hat gelernt, Vorschläge zu machen, ohne ihre Ideen aufzudrängen. Als Architektin hat sie Häuser designt, zehn Jahre arbeitete sie als Einrichtungsberaterin in einem Möbelhaus, bevor sie sich selbstständig machte. 180 Euro zahlen Kunden heute bei ihr für zwei Stunden Beratung und Zimmerentwürfe, danach 75 Euro für jede weitere Stunde.
Anja Ring merkt, dass ihr Angebot in Berlin einen Nerv trifft. Studien belegen, dass die Zahl der Umzüge innerhalb der Stadt seit Jahren sinkt. Auch die Wohnfläche pro Person verkleinert sich. Die jüngsten Zahlen des Amts für Statistik ergeben, dass jeder Berliner im Jahr 2016 im Schnitt 39,9 Quadratmeter bewohnte, einen Quadratmeter weniger als fünf Jahre zuvor. Am beengtesten leben demnach die Neuköllner, nämlich auf durchschnittlich 34,7 Quadratmetern, am großzügigsten die Menschen in Steglitz-Zehlendorf auf 44 Quadratmetern. Deutschlandweit ist der Trend umgekehrt: Die Fläche stieg zuletzt auf 46,5 Quadratmeter pro Kopf. Das liegt vor allem daran, dass immer mehr Menschen allein leben.
Ein unterschätzter Störfaktor: Lärm
Manchmal fordern die Wohnverhältnisse in Berlin extreme Lösungen von Anja Ring. Sie erinnert sich an eine Alleinerziehende mit drei Kindern, für die sie eine Rückzugsnische mit Podest, Matratze und Leselampe in einer 80 Zentimeter breiten Speisekammer entwarf. „Bei Eltern fällt mir auf, dass sie ihre Bedürfnisse schnell zugunsten ihrer Kinder vergessen, wenn es wenig Platz gibt“, sagt sie. Ein Störfaktor, der besonders oft unterschätzt werde: Lärm. „Ein ruhiger Ort zum Alleinsein ist wichtig, Dauerkrach schlecht für die Gesundheit.“
Das vergessen auch Architekten oft, findet Ring. Schicke, offene Loftwohnungen seien ein Trend. „Aber sie sind unpraktisch, wenn eine Mutter auf der Couch fernsieht, ein Vater in der Küche telefoniert und ein Kleinkind bei offener Tür schlafen soll, damit die Eltern hören, wenn es schreit.“ Auch denkt Anja Ring zurück an eine Ein-Zimmer-Neubauwohnung mit großer Wohnküche und Kochinsel. „Wer braucht einen freistehenden Riesenherd, um nur für sich selbst zu kochen, wenn er dafür im Wohnbereich nicht einmal ein Sofa unterkriegt?“, fragt sie. Auf schlaue Grundrisse komme es Zeiten von Wohnungsnot an. Ob Podeste oder versetzte Wände mit Nische für die Waschmaschine: Studentenwohnheime oder Tiny Houses machten es vor.
Im Kinderzimmer haben sich Jürgen Rüstow und seine Freundin inzwischen auf ein Regal geeinigt, das das lose Spielzeug aufnimmt und den Raum in Schlaf- und Spielbereich teilt. Es ist das einzige Stück, das die beiden neu kaufen werden, alle anderen Möbel rücken sie nur um. Die Betten stehen künftig über Eck, die Maltische einander gegenüber. Den unteren Teil der Wand will das Paar grün streichen, wie eine Wiese. Ein Rollo ersetzt Gardinen, die das Zimmer eng machen.
„Wichtig ist, dass Kunden sich auch trennen können“, sagt Anja Ring. „Das Gerümpel des Alltags belastet und wirft den Blick zurück, anstatt ihn in die Zukunft zu lenken.“ Ausmisten liege aber – auch seit dem Hype um das Ordnungsprinzip von Marie Kondo – zum Glück gerade im Trend.