Verkehrssicherheit in Berlin: Wenn es in Bussen und Bahnen kein Halten mehr gibt
Die BVG zeigt die Gefahr bei einer Notbremsung – und mahnt nicht nur ihre Fahrgäste zur Vorsicht. Manche hindert aber persönlicher Widerwille daran, nach Haltestangen und Schlaufen zu greifen.
Es passiert nicht alle Tage, dass ein Angestellter seinen Chef rauswirft. Am Donnerstag hätte es fast geklappt: Die BVG hat auf den Betriebshof Lichtenberg geladen, um vorzuführen, was bei einer Notbremsung von Bus und Tram passiert.
Lektion eins ist noch ungefährlich, aber beeindruckend: Ein Golf, ein angejahrter Linienbus und eine schicke Flexity-Straßenbahn fahren mit Tempo 30 nebeneinander auf eine rote Linie zu. Dann die Vollbremsung: Das Auto steht mit knirschenden Reifen nach vier Metern. Der Bus stoppt – ohne Brimborium – nach knapp der doppelten Strecke. Dahinter geht die Bahn mit großem Klingeling mächtig in die Knie, Bremssand stiebt um die Räder. Trotzdem braucht sie mit zwölf Metern klar am längsten, bis sie steht. Keine gute Nachricht bei einem Gefährt, das mit 51 Tonnen mehr wiegt als ein vollbeladener Sattelzug und das keinen Zentimeter ausweichen kann.
Lektion zwei wird an Bord des Busses bei einer Fahrt über den weitläufigen Betriebshof erteilt. Am Steuer sitzt Marion Bulicke und hinter ihr steht entgegen der Fahrtrichtung BVG-Buschef Martin Koller, der allerdings die Warnung der Fahrerin vor der Vollbremsung verpasst hat. Er schafft es gerade noch, seine Flugbahn in Richtung eines freien Sitzes zu lenken. Neben ihm segelt „Paule“, ein bereits ramponierter Kinder-Dummy, von der Mitteltür bis fast zur Fahrerkabine. Koller rückt seinen Anzug zurecht. Lektion gelernt.
Widerwille gegen Haltestangen und Schlaufen
568 Unfälle mit Fahrgästen in ihren Bussen hat die BVG im vergangenen Jahr erfasst. In 57 Fällen hatten sie sich nicht ausreichend festgehalten. Als besonders kritisch gilt weniger die Vollbremsung auf gerader Strecke, sondern das Verlassen der Haltestelle: Während die Fahrgäste sich noch sortieren, beschleunigt der Bus aus der Haltebucht heraus – und muss plötzlich mitten in der Kurve bremsen, weil ihn beispielsweise ein Auto- oder Radfahrer schneidet. Schon Tempo 15 kann ausreichen, dass alle durcheinanderpurzeln. Senioren sind erfahrungsgemäß besonders gefährdet.
Lektion drei. Im Führerstand der Straßenbahn sitzt Ines Birnstiel. Sie, die keine Ausweichmanöver fahren kann, berichtet von „drei, vier, fünf“ Notbremsmanövern pro Schicht. Die beginnen für den Fahrgast relativ harmlos und dank der automatisch zugeschalteten Klingel auch mit akustischer Warnung. Aber auch sie enden in einem heftigen Ruck, wenn auf dem letzten Meter alle Bremssysteme vereint zupacken: Die auf Generatorbetrieb umgeschalteten Motoren, Scheibenbremsen, Magnetklötze plus die „Federspeicherbremse“, die auch das Weiterrollen an Haltestellen verhindert.
215 Passagiere wurden im vergangenen Jahr in den Trams der BVG verletzt – also wie beim Bus nur einer von etwa einer dreiviertel Million. Von so viel Sicherheit können alle anderen Verkehrsteilnehmer nur träumen. Aber es ist eben doch fast jeden Tag einer, weshalb die BVG zu diesem Termin geladen hat. Er richtet sich nicht nur an die eigene Kundschaft, sondern an alle Verkehrsteilnehmer. An die, die den Bussen und Bahnen in die Quere kommen. Laut Unfallstatistik der Polizei trifft Busfahrer bei etwa der Hälfte ihrer Unfälle eine Schuld, Straßenbahnfahrer fast nie.
Bleibt nur ein Problem: Manchen hindert persönlicher Widerwille – der durch mikrobiologische Forschungsergebnisse fundiert ist – daran, nach Haltestangen und Schlaufen zu greifen. Die werden nach Auskunft der BVG bei der Tram täglich, in der U-Bahn alle drei Tage und im Bus wöchentlich gereinigt. Bei der S-Bahn heißt es, dass die Stangen täglich von grobem Schmutz wie Kaugummis befreit würden. Abgewischt würden sie nur bei der Grundreinigung alle 14 Tage. Aber einer S-Bahn kommt auch selten etwas in die Quere.