William und Kate in Marzahn: Wenn ein Klischee auf das andere trifft
Die soziale Station von William und Kate ist das Jugendhaus Bolle. In Marzahn erwartet sie eine Mischung aus Adelsfans und Ex-Straßenkindern. Eine Reportage.
Müller spielt immer. Das wusste schon Louis van Gaal - und warum sollte er für den Herzog und die Herzogin von Cambridge eine Ausnahme machen? Der kleine Junge im Bayern-Trikot - Rückennummer 13, Thomas Müller - wirbelt über den Rasen, grätscht, schlenzt den Ball aufs Tor. Und hält die ganze Zeit sein britisches Fähnchen in der Hand.
William und Kate haben sich angekündigt, sie wollen das Kinder- und Jugendhaus Bolle in der Hohensaatener Straße kennen lernen. Die Wartezeit überbrücken Kinder und Betreuer draußen auf der Spielwiese mit einem Kick, Orange gegen Grün, jeder hat ein Leibchen bekommen. Der Mini-Müller, der eigentlich Tyler heißt und zehn Jahre alt ist, hat nur Augen für den Ball. Als er sich ins Tor stellen muss, legt er die Fahne neben den Pfosten.
Dann strömen alle zur Treppe. Der britische Thronfolger Nummer 2 und seine Frau kommen aus dem Haus, schreiten über eine lange Veranda, bekränzt mit Union Jacks und ideal zum Winken. Pille oder Promis? Tyler kann sich nicht entscheiden. Er greift sein Fähnchen, rennt zum Pulk, kommt zurück, probiert's noch mal. Doch kein Durchkommen. Ach, warum auch! Tyler Müller spielt einfach wieder Fußball. Und scheint auch nichts weiter zu vermissen.
So wie dem kleinen Fußballer geht es an diesem Mittwochnachmittag den meisten Menschen in Marzahn. Top-Prominenz von der Insel fährt zu einer Stippvisite in den Osten der Stadt - das nehmen viele interessiert zur Kenntnis, ohne sich von ihrem Alltag ablenken zu lassen. Vor 22 Jahren, als Vater Charles eine Plattenbauwohnung in Hellersdorf besichtigte, kamen noch mehrere tausend Schaulustige auf den Cecilienplatz. Heute kann von Euphorie nicht mehr die Rede sein. Die Leute haben mit sich selbst genug zu tun. Die Zahl der Neugierigen, die sich gegen 15 Uhr im Schatten der Elfgeschosser eingefunden haben, ist weitaus geringer.
Ein "Serienkiller" - aber nur aus Versehen
Gerd-Peter Helm wartet schon seit dem Mittag auf dem Gehweg. Er hat sich mit der Zeit vertan. Und nicht nur damit. Helm steht meist dicht an der Hauswand, dann fällt er nicht so auf. Seinen kleinen schwarzen Beutel hält er lieber verdeckt am Körper. "Serienkiller" steht in Pink darauf geschrieben. Dabei sind nur Brillenetui und Geldbörse darin. "Ich habe den falschen gegriffen, als ich aus dem Haus gegangen bin", sagt Helm, die Augen hinter verspiegelten Gläsern verborgen, und lacht.
Der 76-Jährige, der auch für 60 durchgeht, ist eigentlich Adelsfan. Vor mehr als fünf Jahrzehnten hat er schon die Queen bei ihrem ersten Deutschland-Besuch gesehen. Dann noch mal, als sie nach der Wende mit Eberhard Diepgen durchs Brandenburger Tor ging. Später Charles und Diana. "Einmal stand ich unter den Linden und wartete auf einen Bus, als ein Wagen vorfuhr und Königin Silvia mit ihrer Tochter, der Kronprinzessin Victoria, ausstieg. Die waren sehr nett."
Großmutters Erbe ist dabei
Für den royalen Besuch hat Kathrin Auinette extra die Kronjuwelen mitgebracht. In ihrer Familie ist das ein reich bebildertes Heft von der Krönung von Queen Elizabeth im Jahr 1953. Preis damals zwei D-Mark. "Meine Großmutter hat mir das übereignet, weil ich ein großer England-Fan bin", erzählt sie. "Das ist bei uns normalerweise in der Vitrine. Die Knicke sind nicht von mir." Die neunjährige Tochter Lili soll es William draußen bei der Ankunft zeigen. Wenn es geht. "Er hat ja auch ein enges Verhältnis zu seiner Omi."
Blau-weißes Kleid, dazu rote Ohrringe. Karin Meller kommt heute auffällig britisch daher. "It's an honour to meet you. Honour ohne h." Die Englischlehrerin übt mit ihren Schülern Smalltalk. "Das ist eine große Ehre für mich", sagt sie. "Mein letzter Schultag, ich gehe in Pension." Nach 43 Dienst im Klassenraum darf Meller die kleine Delegation der Johann-Julius-Hecker-Schule anführen, die William und Kate treffen soll. Die Sekundarschule organisiert jedes Jahr eine Reise nach Oxford. Jeder Schüler bekommt zur Vorbereitung ein Travelbook. Eines hat Meller heute dabei, in einer Union-Jack-Mappe. Das würde sie gerne unterschreiben lassen - fürs Schularchiv. "Warwick Castle", sagt sie zu einem Schüler. "War-wick."
"Ich muss hier hin", sagt der neunjährige Evin
Schüler sind an diesem Tag auch die ersten Gäste im Bolle-Haus. In der dritten Stunde gab es Zeugnisse. Viele sind direkt vorbeigekommen. Doch Einlass ist erst um eins. Der neunjährige Evin hat sich solange auf die Stufen vorm Eingang gehockt und fischt ein Paar Chips aus einer Tüte. "Ich muss hier hin", sagt er. "Schlüssel vergessen." Um ihn herum wuselt dauernd der zehnjährige Dean. Was er erwartet vom königlichen Besuch? "Dass ich von denen hundert Euro kriege, die sind ja reich", schießt er gleich los. Marzahn-Style eben. "Aber kein englisches Geld, dafür kann ich mir ja nichts kaufen."
Etwas entspannter sieht Angelina den ganzen Auflauf. Die 16-Jährige hat heute von ihrer Oberschule in Hellersdorf den Mittleren Schulabschluss und einen bestandenen Tanzkurs bescheinigt bekommen. Darauf kommt's an. William und Kate? "Die hab ich letztes Jahr schon gesehen." Da waren sie zur Klassenfahrt in London. Außerdem kämen immer mal wieder Promis bei Bolle vorbei. "Ein paar Spieler von den Eisbären Berlin zum Beispiel."
Bei Bolle ist Zeugnisparty - diesmal eben mit William und Kate
So gesehen, ist der Adel beinahe nur Rahmenprogramm. Bei Bolle ist heute Zeugnisparty wie jedes Jahr am letzten Schultag - diesmal eben mit William und Kate. "Wir wollen den Erfolg feiern, dass alle das Schuljahr geschafft haben", sagt Lea Muth vom Verein Straßenkinder e.V., der hier seinen Sitz hat. Im Haus gibt es Schulaufgaben- und Nachhilfe in zwei Bildungsräumen. Wer fleißig ist, kann Punkte sammeln und sich die Teilnahme an Ausflügen verdienen. Alle kleinen Bildungshelden bekommen heute Eis spendiert. Auch für das Herzogenpaar? "Es sind genug Streusel für alle da", sagt Muth. Dann muss sie sich weiter um die Vorbereitung kümmern. Natürlich sind alle aufgeregt, ein Mann vom BKA regelt den Einlass, bald kommt die Polizei, sperrt alles ab.
Warum die Wahl auf Marzahn fiel, weiß weder der Verein noch die Botschaft, die den Vorschlag machte, so genau. Wenn Mitglieder des britischen Königshauses verreisen, muss es auch immer "die soziale Station" im Programm geben. Naheliegend ist die Vermutung, dass Marzahn zum Reiseziel wurde, weil sich hier dem Klischee zufolge die sozialen Probleme ballen. Im Kiez um das Haus Bolle gibt es tatsächlich viel verfestigte Armut. Insgesamt steht der Bezirk Marzahn-Hellersdorf jedoch besser da, als viele glauben. Die Arbeitslosigkeit liegt unter dem Berliner Durchschnitt.
Ein Zufluchtsort vor dem eigenen Zuhause
Seine Wurzeln hat Straßenkinder e.V. denn auch im Soldiner Kiez in Wedding. Ende der 90er kümmerten sich Eckhard Baumann und seine Frau Astrid dort um benachteiligte Kinder und Jugendliche. Seit Oktober 2000 gibt es einen Verein. Neben die Arbeit mit Straßenkindern, für die es Stationen in Friedrichshain gibt, trat 2009 die Jugendarbeit in Marzahn. Aus einer abbruchreifen Plattenbaubaracke machten sie das Jugendhaus Bolle, das ein Jahr später eröffnete und im Frühjahr 2017 einen mehrgeschossigen Anbau bekam. Mehr als 100 Kinder schauen hier täglich vorbei, für viele ist es ein Zufluchtsort, um dem Ärger zu Hause zu entkommen.
Der Verein finanziert sich fast ausschließlich aus Spenden, hat aber auch prominente Unterstützer wie Rita Süssmuth und Schauspielerin Mariella Ahrens an seiner Seite und ist in der halben deutschen Charity-Szene vernetzt. 25 feste Mitarbeiter beschäftigt der Vorsitzende Baumann inzwischen.
Eine Dreiviertelstunde hat das Protokoll für die Visite eingeplant. Es ist bald halb vier, als William und Kate vorfahren. Zuerst lassen sie sich durchs Haus führen. "Awesome", sei das gewesen, sagt Baumann anschließend, "supernett, superentspannt" die beiden. Die Presse ist nicht dabei, eine gute Entscheidung, denn sonst hätte der Journalistentross sicher den Kindern die Begegnung ruiniert. Am Pool-Tisch greift William sogar zum Queue. "Der Prinz kann Billard spielen, das muss man schon sagen", erzählt Baumann. "Der musste sich richtig zurücknehmen." Als das Paar mit den Kindern spricht, geht es um Zeugnisse und Schwierigkeiten in der Schule. Eben das Thema des Tages.
"Das sind ja erwachsene Menschen"
Einige Minuten nehmen sich William und Kate auch für zwei junge Frauen, denen Straßenkinder e.V. geholfen hat, von der Straße zu kommen. Kim macht gerade eine Ausbildung zur Altenpflegerin, Yvi hat soeben ein Abi mit 1,1 hingelegt. Ob die Straße sie psychisch krank gemacht hat, will William wissen. "Da habe ich gemerkt, dass das kein royaler Besuch war, sondern ihnen ernsthaft ein Anliegen ist", sagt Baumann. "Die haben sich auch nicht ums Protokoll gekümmert, das sind ja erwachsene Menschen." Wenn ein Klischee auf das andere trifft, kann das am Ende beiden Seiten helfen.
Mit der Kampagne "Heads together", die William und Kate zusammen mit Prinz Harry gestartet haben, setzen sie sich dafür ein, psychischen Krankheiten das Stigma zu nehmen. Deshalb ist auch die Robert-Enke-Stiftung nach Marzahn eingeladen worden. Draußen auf der Spielwiese treffen die Royals Teresa Enke, Witwe des Fußball-Nationaltorhüters, der sich 2009 das Leben nahm.
Bolle-Leiter Baumann ruft die Kinder per Megafon zum Gruppenbild zusammen. Bis er erfährt, dass das Paar noch mit Teresa Enke und Fußballer Martin Amedick ins Gespräch vertieft ist. "Okay, das dauert noch zwei, drei Minuten", ruft Baumann aus. "Dann müsst ihr noch ein bisschen Geduld haben." Dutzende Kinder, ein Optimist, der Mann. Aber wäre er das nicht, hätte er das alles hier nie aufgebaut. Fast alle bleiben stehen, das Paar kommt. Ein Mädchen reicht Kate einen Blumenstrauß. Dann fallen ihr die Kinder reihenweise um den Hals. "Ameisenscheiße", ruft Baumann zum Foto. Kate winkt. Berlins Bürgermeister Michael Müller lächelt. Nach einer Viertelstunde Spielwiese geht es weiter zum Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue.
Der kleine Tyler läuft sofort zum Kickertisch. Es gibt Eis. Die Zeugnisparty geht weiter.