Gästeliste oder nicht?: Wenn das Weihnachtsessen mit Omi zur Veranstaltung mutiert
Auf der Website des Landes Berlin ist auch für Familientreffen eine Gästelisten-Pflicht erwähnt. Für unseren Autor beginnt damit eine absurde Paragrafen-Reise.
Es begab sich am Mittwoch um 10.58 Uhr, dass der Regierende Bürgermeister Michael Müller (vermutlich nicht persönlich) über seinen Twitter-Kanal einen Link verschickte, der zu den Feiertagsregeln für Berlin auf der offiziellen Website des Landes führte. Dort war zu lesen, wer in welcher Konstellation zu "Weihnachtsfeiern im kleinsten Kreis" zusammenkommen darf. Die Kurzfassung: Es läuft auf eine kleine Volkszählung hinaus.
Und dann: "Die Verantwortlichen bzw. Gastgeber:innen müssen eine Anwesenheitsdokumentation erstellen, welche Namen, Kontaktdaten sowie die Anwesenheitszeit und -dauer der Gäste festhält. Die Dokumentation ist im Falle möglicher Infektionen der zuständigen Behörde auf Verlangen auszuhändigen." Bitte, wie?
In neun Monaten Pandemie hat man sich ja an manche Umständlichkeit gewöhnt, trägt Maske in der Bahn, wechselt schon mal die Straßenseite, wenn sich vor einem der wenigen noch geöffneten Läden eine Schlange gebildet hat, und rechnet wie ein Ahnenforscher durch, wen man wann überhaupt noch treffen darf. Doch selbst als rechtstreuer Bürger mag man kaum glauben, dass beim Weihnachtsessen zu Hause mit der Omi in diesem Jahr Buch geführt werden muss.
Bevor der Tagesspiegel das einfach so berichtet, rufen wir lieber beim Presse- und Informationsamt des Landes an, um zu fragen, ob das auch stimmt. Eine freundliche Frau am Telefon muss glucksen, als sie vom Besuch der Oma mit Anwesenheitsdokumentation hört, und verweist an einen Sprecher. Der staunt ebenfalls und verspricht eine Überprüfung. Nur sind leider gerade lauter Auslegungshilfen zu schreiben, um all die Verordnungen und Verfügungen verständlich zu machen, sodass der zuständige Beamte am Mittwochnachmittag einfach nicht mehr zu erreichen ist.
Zweckbestimmung: O du fröhliche
Werfen wir also in der Zwischenzeit einen Blick in die "Sars-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung" des Landes Berlin. Erste Vermutung: Es wird wohl in Paragraf 5 "Anwesenheitsdokumentation" zu finden sein. Da ist nur leider von Weihnachten nicht die Rede, aber Veranstaltungen sind immerhin als erster Punkt erwähnt. Kann das sein?
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Zum Glück finden wir gleich in Paragraf 1 einige Begriffsbestimmungen. Eine Veranstaltung ist demnach "ein zeitlich begrenztes und geplantes Ereignis" (Treffen am 24. oder 25. Dezember) "mit einer definierten Zielsetzung oder Absicht" (Omi glücklich machen, Gans essen), "einer Programmfolge mit thematischer, inhaltlicher Bindung oder Zweckbestimmung" (O du fröhliche, Geschenke, Essen, Streit) "in der abgegrenzten Verantwortung einer Veranstalterin oder eines Veranstalters, einer Person, Organisation oder Institution" (Vati und Mutti), "an dem eine Gruppe von Menschen teilnimmt" (Familie). Könnte also passen. Nur dass vernunftbegabte Menschen das für völlig übertrieben halten würden.
Tatsächlich steht gleich unter der Veranstaltung der Begriff der Zusammenkunft, womit jegliche Treffen gemeint sind, die nicht so aufwendig sind wie eine geplante Veranstaltung oder Demonstration. Das scheint dem privaten Weihnachtsbesuch irgendwie besser zu entsprechen, auch wenn man sich plötzlich nicht mehr ganz so sicher ist.
Veranstaltung, Zusammenkunft: Alles eine Sauce
Zweiter Verdacht: Vielleicht ist die Dokumentationspflicht dort erwähnt, wo die Regeln für Weihnachten stehen. Moment, aha, gleich gefunden: Paragraf 9, Absatz 7, Satz 2. Explizit steht auch dort nichts von einer Gästeliste, doch Paragraf 9 ist der Abschnitt für: Veranstaltungen. Langsam dämmert es - und es kommt noch schlimmer.
Denn während die Verordnung zu Beginn fein säuberlich zwischen Veranstaltungen und schlichten Zusammenkünften unterscheidet, werden in Absatz 7 Zusammenkünfte im Familien-, Bekannten- oder Freundeskreis von hinten durch die (Gänse-)Brust ins Auge in "private Veranstaltungen" umbenannt. Womit wir wieder bei Paragraf 5 landen. Alles eine Bratensauce.
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Demnach lässt sich also, wenn man die Paragrafen nur lange genug studiert, tatsächlich eine Dokumentationspflicht fürs Weihnachtsessen mit Omi aus der Berliner Corona-Verordnung herleiten. Es scheint zu stimmen, was die Senatskanzlei auf ihrer Website verkündet hat - wobei offen bleibt, ob auch die Gans als Gast zählt.
Die Freude über ein bisschen Normalität
24 Stunden später ein letzter Anruf aus dem Presse- und Informationsamt, es gibt ein Prüfungsergebnis. Weihnachten mit der Familie sei natürlich eine private Zusammenkunft, sagt der Sprecher, eine Anwesenheitsdokumentation müsse nicht erstellt werden, die entsprechende Passage im Internet werde bald geändert. Aber natürlich sei es sinnvoll, die Gäste zu notieren, wer könne sich denn Tage später immer noch an alles genau erinnern.
Klar, dafür gibt es doch auch Kontakttagebücher, die bis Jahresende sogar Teil der Corona-App werden sollen. Und der Aufwand ist im engsten Familienkreis gar nicht mal so groß.
Trotzdem freut man sich nach außen über ein bisschen Normalität, fragt sich innerlich, wo das denn nun genau in der Corona-Verordnung steht, und behält lieber für sich, dass darin rein theoretisch sogar eine Dokumentationspflicht zu finden ist. Wer will schon Ochs und Esel wecken, wenn sie gerade so schön schlafen?