Berliner Abfall: Was uns der Müll über die Städter verrät
Eva Becker ist Deutschlands einzige Müll-Archäologin. Winfried Becker leitet die Straßenreinigung. Zwei Menschen, eine Passion – und was uns der Abfall über das Leben der Städter lehrt.
Neukölln, Hermannstraße, ein kühler Frühlingstag. Eine unauffällig gekleidete Frau um die 50 bleibt fasziniert vor einem Baum stehen. Zwei Kühlschränke stehen daneben, deren Türen Eva Becker neugierig öffnet, aus beruflichem Interesse. Im einen: nichts. Aus dem anderen zieht Frau Becker eine bräunliche Bananenschale, gefolgt von einer Papiertüte und einem verschlossenen Kaffeebecher. Ein wissendes Lächeln erhellt ihr Gesicht, als sie den Becherdeckel lüftet. „Da ist noch was drin“, konstatiert die Archäologin.
Die Müll-Archäologie ist eine recht junge Wissenschaft. Oder eine sehr alte, die Meinungen gehen da auseinander. Als „Garbology“, als Wissenschaft vom Müll, englisch „Garbage“, wurde sie in den 70er Jahren in den USA ins Leben gerufen, von einem Forscher namens William Rathje, der seine Müllstudien in Arizona betrieb. Eva Becker, die ihres Wissens die einzige Garbologin in Deutschland ist, wurde vor einigen Jahren auf Rathjes Arbeiten aufmerksam. Seitdem hat die Berlinerin, die vorher als klassische Siedlungsarchäologin in Deutschland und Zentralasien gearbeitet hatte, ihr Leben der Müllkunde verschrieben.
Für wirklich neu hält Frau Becker die Forschungsrichtung nicht. Was tut schließlich ein Archäologe? Er gräbt die Hinterlassenschaften vergangener Zeiten aus. Wenn er Siedlungsarchäologe ist wie Frau Becker, stößt er dabei selten auf intakte Fundstücke, sondern meist auf das, was Menschen weggeworfen haben: zerscherbte Gefäße, zersplitterte Werkzeuge, Essensabfälle - kurz: „Alles, was heute in die schwarze Tonne käme“, wie Frau Becker sagt. Aus dem Müll der Vergangenheit schließt der Archäologe auf die Arbeits-, Wohn- und Essgewohnheiten der Vergangenheit. Was aber macht eine moderne Müll-Archäologin? Dasselbe - bloß kommt sie ihren klassisch arbeitenden Kollegen zuvor: Sie studiert den Müll, der noch keine Zeit hatte, unter der Erde zu verschwinden.
Am Zaun hängt ein rostendes Fahrradschloss
Wie das praktisch aussieht, demonstriert Eva Becker am liebsten in Neukölln, dem Bezirk, der ihr das reichhaltigste Anschauungsmaterial bietet, sprich: den vielfältigsten Straßenmüll. Zu den beiden Kühlschränken gesellen sich bald weitere Funde. Ein Sofa, dreisitzig und lilafarben, steht herrenlos an einer Straßenecke. Ineinandergestapelte Farbeimer zieren den Bürgersteig. Am Zaun eines Friedhofs hängt ein rostendes Fahrradschloss, nicht weit entfernt wartet ein Berliner Klassiker: ein klobiger Fernseher, die Fernbedienung säuberlich mit Kreppband an den Rahmen geklebt, daneben ein regenverwaschener Zettel: „Zu verschenken!“
Andere Funde, die interessanteren vielleicht, springen nicht so leicht ins Auge, man nimmt sie erst mit garbologisch geschärftem Blick richtig wahr. Zum Beispiel hat der kleinteiligere Straßenmüll - Zigarettenkippen, Kronkorken, Kaffeebecher, Taschentücher - die Eigenschaft, sich an bestimmten Orten zu ballen. Gehäuft findet er sich etwa auf den „Baumscheiben“, wie im städteplanerischen Jargon die erdgefüllten Pflasteraussparungen heißen, in denen Bäume wurzeln. Warum Menschen ihren Müll gerne unter Bäumen abwerfen, hat Eva Becker noch nicht herausgefunden, aber fotografisch festgehalten hat sie es hundert-, wenn nicht tausendfach.
Überhaupt spielt bei der Müll-Archäologie die Dokumentation eine zentrale Rolle. Frau Becker hütet sich davor, aus Einzelbeobachtungen Schlüsse zu ziehen - kein guter Archäologe würde das tun. Wenn sie mit der Kamera durch die Straßen zieht, geht es ihr vielmehr um genaues Beobachten, über längere Zeiträume hinweg. Regelmäßig fotografiert sie die gleichen Fundstellen, sie kartiert und quantifiziert den Müll, in der Hoffnung, auf Muster zu stoßen. Was sie findet, dokumentiert sie auf ihrem müllarchäologischen Forschungsblog, ihr Wissen vermittelt sie außerdem in Schulen und Erwachsenenbildungsstätten, wo sie Workshops und Spaziergänge anbietet, um den Blick der Berliner für ihren Müll zu schärfen.
Müll lügt nicht
Wem in der Stadt ist schließlich bewusst, wie viel Abfall auf sein Konto geht? Knapp 50 000 Tonnen Straßenkehricht verzeichnet die Abfallbilanz der Berliner Stadtreinigung von 2015. Heruntergebrochen auf jeden Einwohner sind das knapp 14 Kilo, deren Beseitigung die Stadt inklusive Schnee- und Laubräumung rund 220 Millionen Euro im Jahr kostet.
Hinzu kommen für jeden Berliner etwa 305 Kilo Haushalts- und Kleingewerbemüll, dessen größter Teil - rund 235 Kilo pro Kopf - in der grauen Tonne landet. Bezieht man in die Rechnung auch den Müll ein, der von anderen Unternehmen als der BSR gesammelt wird, entfielen laut Landesabfallbilanz von 2014 auf jeden Berliner rund ein Zentner Altpapier, 25 Kilo Leichtverpackungen, 19 Kilo Bioabfall, 18 Kilo Altglas, 15 Kilo Sperrmüll, dreieinhalb Kilo Elektroschrott und ein gutes Pfund Weihnachtsbäume.
Viel Material also für die Müll-Archäologie. Deren deutscher Zweig stecke bisher allerdings noch in den Kinderschuhen, sagt Eva Becker, die ihre Untersuchungen vorläufig ohne institutionelle Unterstützung betreibt, sozusagen als Privatgelehrte. Wenn es nach ihr ginge, ließe sich die Forschungsrichtung viel breiter aufstellen, sie könnte wichtige Fragen beantworten, etwa in der Städteplanung oder der Marktforschung. Wie ein Park genutzt wird, lasse sich am Müll erkennen. Welche Lebensmittel unter Schülern beliebt sind, welche Bier- und Zigarettenmarken in welchen Stadtteilen konsumiert werden, all das verrate der Müll.
Nun könnte man einwenden, dass solche Fragen auch ohne Müll zu beantworten sind, nämlich durch die Befragung der müllproduzierenden Menschen. Im Prinzip schon, antwortet Eva Becker - aber was, wenn diese nicht die Wahrheit sagen? Sie zitiert eine garbologische Studie aus den USA: Bei einer Ernährungsumfrage hatten die Teilnehmer angegeben, bevorzugt gesunde, frische Lebensmittel zu konsumieren. Als man ihren Abfall überprüfte, fand man vorwiegend Fast-Food- Verpackungen. Müll lügt nicht.
Der Berliner bekennt sich stolz zum Schmuddelimage
Umso mehr erregt er die Gemüter. Auch die der Berliner, denen man ein entspanntes Verhältnis zur Reinlichkeit nachsagt. In Wirklichkeit scheint die Stadt gemischte Gefühle für ihren Müll zu hegen. Nach außen hin bekennt sie sich mit trotzigem Stolz zum Schmuddelimage, auch der Touristen wegen, von denen viele nach Berlin kommen, weil es so schön rough und dirty ist. Gleichzeitig dürfte es wenige Themen geben, über die sich der Berliner so gerne aufregt wie über verdreckte Straßen und Parks. Gerade jetzt, wo die Freiluftsaison beginnt, wird es bald wieder anheben: das allgemeine Schimpfen über zurückgelassene Grill-, Sauf- und Feierabfälle. Rund 150 000 Euro musste etwa der Bezirk Mitte im vergangenen Jahr ausgeben, um 1000 Tonnen Müll aus seinen Parks zu entfernen.
Wer sich für den Berliner Abfall interessiert, landet schnell bei einem zweiten Becker. Winfried ist sein Vorname, und er leitet den Bereich Straßenreinigung bei der BSR. Dass die beiden intimsten Kenner des städtischen Mülls denselben Nachnamen tragen, ist ein Zufall. Verwandt sind sie nicht miteinander, zudem nähern sie sich ihrem Fachgebiet aus entgegengesetzten Richtungen. Frau Becker interessiert sich dafür, wie der Müll auf die Straße kommt. Herrn Becker interessiert, wie er da wieder runterkommt.
Mitte, Alexanderplatz. Ein krawattierter Herr in den Sechzigern bleibt neben einem kugelförmigen Großmülleimer stehen. „Bubbles“ nennen sie die 350-Liter-Behälter bei der BSR, „ästhetisch ansprechend“ findet Winfried Becker sie, sogar „zeitlos“. Anders als die Müll-Archäologin hat der Straßenreinungschef für den gemeinsamen Spaziergang einen Stadtbereich ausgewählt, in dem so gut wie kein Müll zu sehen ist - der Alexanderplatz gehört zu den Straßenzügen mit der höchsten Reinigungsklasse, Stufe 1a, zehnmal in der Woche wird hier sauber gemacht. Weniger als ein Prozent der Berliner Straßen genießen diese Behandlung - die weitaus meisten, fast 50 Prozent, gehören zur Reinigungsklasse 4, sie werden einmal pro Woche gesäubert.
Am Alexanderplatz reinigt die BSR nur den Platz selbst, während für den Bahnhofsbereich die S-Bahn zuständig ist und für die Parkanlagen das Grünflächenamt. Wo der Platz aufhört und der Park anfängt, ist hier jedoch nicht leicht zu erkennen - nur ein Hinweisschild des Grünflächenamts markiert den Übergang. Im Unterschied zum Platz, erklärt Winfried Becker, werde der Parkbereich an Feiertagen vom Bezirk nicht gereinigt. „Da denken die Leute dann natürlich: Warum räumt die BSR hier nicht auf?“ In einem Pilotversuch wird Beckers Unternehmen deshalb ab dem 1. Juni die Reinigung ausgewählter Berliner Parkanlagen übernehmen, auch am Alexanderplatz.
Ein reinigungstechnischer Alptraum
Noch etwas möchte Winfried Becker hier zeigen: die Baumscheiben. Anders als in Neukölln liegt die Erde unter den Bäumen hier nicht offen, sie ist mit Gittern abgedeckt. Ein reinigungstechnischer Albtraum: In den Gittermaschen steckt kleinteiliger Müll, an den keine Rotierbürste herankommt, man bräuchte schon eine Pinzette, um ihn aus den Löchern zu pulen. Total unpraktisch, sagt Becker. „Man würde sich ja auch in der Wohnung keinen weißen Teppich vor die Eingangstür legen.“
Ein Straßenreinigungsspezialist sieht die Stadt eben mit anderen Augen als ein Architekt oder Städteplaner. Baumscheiben mit Gitterabdeckung mag er genauso wenig wie solche mit Splittbelag, auch die lassen sich kaum säubern. Ähnliches gilt für Pflasterungen, die keine Hochdruckreinigung aushalten, oder für Knicke in der Bordsteinführung, die den Bürsten der Reinigungsfahrzeuge entgehen, oder für den hellen Granit am Alex - jeden Fleck sieht man da! Viel zu selten werde in Berlin die BSR bei Bauvorhaben konsultiert, um reinigungstechnische Fehlplanungen zu verhindern.
Winfried Becker interessiert am Abfall mehr die Quantität als die Qualität. In der Menge gebe es durchaus bezirkliche Unterschiede, etwa beim illegal abgelagerten Sperrmüll. „Niemand stellt sich eine alte Matratze vor das eigene Einfamilienhaus.“ Eher außerhalb der Vorgartenviertel sammeln sich deshalb jene rund 23 000 Kubikmeter Wildsperrmüll an, die die BSR Jahr für Jahr einsammeln muss - zehn randvolle 50-Meter-Schwimmbecken sind das, deren Entsorgung die Stadt jährlich um die fünf Millionen Euro kostet. Beim Umgang mit den illegalen Ablagerungen stehe die BSR immer vor dem gleichen Dilemma, sagt Becker: „Wenn der Müll zu schnell eingesammelt wird, entsteht der Eindruck: geht doch, wird ja abgeholt. Wenn zu lange gewartet wird, kommt immer mehr Müll dazu.“
Es hat keinen Sinn, die Stadt mit Mülleimern zuzupflastern
Während der Umfang des illegal abgelagerten Sperrmülls relativ konstant bleibt, schwankt der des eingesammelten Straßenkehrichts zwischen 50 000 und 100 000 Tonnen im Jahr. Die erheblichen Unterschiede führt man bei der BSR auf Klimaschwankungen zurück: In schneereichen Wintern kehren die rund 800 Reinigungsfahrzeuge des Unternehmens tonnenweise Streusplitt mit auf.
Generell sammele sich der meiste Straßenmüll dort, wo die meisten Leute unterwegs seien. Natürlich gebe es Ecken, wo niemand einen Kaffeebecher fallen lasse, weil sich dann gleich der Nachbar hinterm Gartenzaun beschwere. „In solchen Vierteln fällt aber auch von vorneherein weniger Müll an, weil es da nicht so viele Imbisse gibt wie in der Innenstadt.“ Fehlen also in den imbissreichen Stadtteilen womöglich einfach Abfallbehälter? Becker schüttelt vehement den Kopf. „Es hat keinen Sinn, die ganze Stadt mit Papierkörben zuzupflastern.“ Vor ein paar Jahren erst habe die BSR die Auslastung der 22 000 Berliner Abfallbehälter untersuchen lassen. Ergebnis: Nur 40 Prozent des Volumens werden genutzt. Trotzdem komme es natürlich vor, dass hier und da mal ein Papierkorb überquelle. Wenn Anwohner darauf hinweisen, reagiere die BSR im Einzelfall flexibel, sagt Becker, der ansonsten auf die Einschätzung seiner Straßenreiniger vertraut. „Die kehren jeden Tag ihren Viereinhalb-Kilometer-Abschnitt. Wenn irgendwo ein Korb fehlt, melden die uns das.“
Was passiert nun, wenn sich ein Straßenreinigungsspezialist und eine Müll-Archäologin über den Weg laufen, die nicht nur ein gemeinsames Interesse haben, sondern auch denselben Nachnamen? Erstaunlich wenig. Die beiden Beckers, die sich beim Spaziergang am Alexanderplatz zum ersten Mal begegnen, finden keine gemeinsame Sprache. Eva Becker denkt darüber nach, wie der Müll auf die Straße kommt, Winfried Becker erklärt, wie er da wieder runterkommt. Frau Becker findet schmutzige Kaffeebecher fotogen, Herr Becker begeistert sich für schöne Mülleimer. Die Müll-Archäologin sucht nach Abfall, der Reinigungschef ist froh, wenn er keinen findet. Wer den beiden zuhört, könnte meinen, sie sprächen nicht über den gleichen Müll.
Jens Mühling