Verfassungsrechtler kritisiert Berlins Bildungssenatorin: „Was Sandra Scheeres macht, ist skandalös und hätte vor keinem Gericht Bestand“
Die Bildungssenatorin will Schüler „unabhängig von Inzidenzen“ im Wechselmodell behalten. Rechtswissenschaftler Möllers von der HU kritisiert das scharf.
Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers von der Humboldt-Universität zu Berlin hält das Vorgehen von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hinsichtlich ihrer Schulöffnungspolitik für gesetzeswidrig. Scheeres hatte angekündigt, dass das Wechselmodell „unabhängig von Inzidenzen“ bis zu den Sommerferien fortgeführt werde.
Zunächst hatte sie dies den Schulleitern in einem Brief mitgeteilt. In der Senatssitzung am Dienstag beharrte Scheeres trotz Einwände der Grünen darauf, dass ein Wechsel zum normalen Unterrichtsmodell in Präsenz kurz vor den sechswöchigen Ferien keinen Sinn ergebe – auch um die Schulen mit einer erneuten Umstrukturierung nicht zusätzlich zu belasten.
Auf Nachfrage sagte Möllers dem Tagesspiegel: „Ich halte das, was die Senatorin macht, für skandalös. Das hätte vor keinem Gericht Bestand.“ Eine Schulschließung oder Einschränkung des Unterrichts müsse epidemiologisch oder gesundheitlich begründet werden. „Einfach nur zu sagen, es lohne sich nicht, reicht für eine Begründung nicht aus“, sagte der Jurist, der an der Humboldt-Universität den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungsrecht leitet.
Das Grundrecht auf Bildung ist in der Berliner Verfassung (Art. 20) verankert. Das Berliner Schulgesetz gibt jedem jungen Menschen ein Recht auf „zukunftsfähige, diskriminierungsfreie schulische Bildung und Erziehung“ (§2 Abs. 1). Weiterhin ist im Schulgesetz (§ 20 Abs. 6) für die Grundschule ein zeitlicher Umfang von „in der Regel jeweils sechs Zeitstunden an fünf Unterrichtstagen“ vorgeschrieben, für Gymnasien ist ein Umfang von vier „Ganztagen“ festgelegt.
Momentan befinden sich die Schüler der Klassen 1 bis 13 im sogenannten Wechselmodell. Das bedeutet, dass die Schüler nur etwa die Hälfte der sonst üblichen Zeit in Präsenz unterrichtet werden. Die restlichen Aufgaben müssen selbstständig zu Hause alleine oder mit den Eltern erledigt werden. Für Grundschulkinder, die nicht in der Notbetreuung untergebracht sind, fällt die Hortbetreuung komplett weg.
Grundrechtseinschränkungen müssen gut begründet werden
Verfassungsrechtler sind sich insgesamt einig, dass Grundrechtseinschränkungen stets gut begründet werden müssen. Während der Pandemie hatte es in verschiedenen Bundesländern Klagen gegen Schulschließungen gegeben. Diese wurden stets mit Verweisen auf ein hohes Infektionsgeschehen zurückgewiesen.
Derzeit liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in Berlin bei 61. Der Deutsche Lehrerverband hält eine Rückkehr zum vollständigen Präsenzunterricht ab einer Inzidenz von 50 für empfehlenswert. Andere Bundesländer wie Bremen kehren bereits jetzt in Schritten zum normalen Präsenzunterricht zurück oder planen eine rasche Rückkehr wie Brandenburg, gekoppelt an Inzidenzwerte.
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Nur in Berlin hat die Senatsbildungsverwaltung überhaupt keinen Stufenplan vorgelegt, mit der Begründung, dass das Unterrichtsjahr nur noch fünf Wochen andauere, am 24. Juni beginnen die Sommerferien.
Das Schulhalbjahr 2021 umfasst insgesamt 18 Wochen Unterricht. Fünf Wochen sind damit ein gutes Viertel der gesamten Unterrichtszeit. Ob sich das Ganze nicht „mehr lohne“, wird von sehr vielen Berliner Eltern, die sich derzeit vielfach telefonisch und mit Mails an den Tagesspiegel wenden, anders bewertet. Mittlerweile melden sich auch andere Familien, die den Kurs unterstützen. Auch die Schulleiter stünden laut der Senatsbildungsverwaltung hinter dem Vorgehen.
Die GEW begrüßt das Vorgehen des Berliner Senats
Zahlreiche Bundespolitiker wie der Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch oder auch die gerade zurückgetretene Familienministerin Franziska Giffey (SPD) fordern eine schnelle Rückkehr zum Regelunterricht. Und auch in der Berliner Koalition und Opposition regt sich derzeit der Widerstand gegen das Vorgehen der Bildungsverwaltung.
Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat den Kurs des Berliner Senats allerdings ausdrücklich begrüßt. GEW-Vorsitzender Tom Erdmann sagte: „Es wäre gut, wenn nun wenigstens in den letzten Wochen des Schuljahres etwas Ruhe reinkommt“. Viele Lehrkräfte und die meisten Schülerinnen und Schüler seien außerdem weiterhin noch nicht geimpft.
Die Inzidenzwerte bei den Kinder und Jugendlichen sind höher als bei den Erwachsenen (je nach Altersgruppe zwischen 89 und 124). Allerdings werden alle Schulkinder zweimal die Woche getestet. Ein Impfstoff für unter 16-Jährige ist noch nicht zugelassen. Als Grundlage für andere Öffnungsschritte wird auch die Inzidenz der Gesamtbevölkerung herangezogen.