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Im Schatten der Ringe. Aus dem olympischen Dorf in London-Stratford ist längst ein begehrtes Wohngebiet geworden.
© Michael Kappeler/dpa

Olympische Spiele und Stadtplanung: Was Berlin von London lernen kann

Olympia soll dem Berliner Wohnungsbau nutzen. Wie das funktionieren kann, ist in London zu besichtigen. Dort entstand für die Sommerspiele 2012 ein neues, teures Stadtviertel. Das wertet nun die Nachbarkieze auf.

Shamial flucht und wiederholt verzweifelt wie ein Mantra, was auf den gelben Straßenschildern steht: „Deviation“. Immer diese Umleitungen, überall wird gebaut in London! Aber weil ein Feuer die Bahn vom Flughafen lahm gelegt hat, steuert nun eben der Taxifahrer aus Pakistan das Ziel an: Stratford in East End. Da habe er auch mal gelebt, sagt Shamial, sogar eine Wohnung gekauft. Für 175 000 Pfund. Tatsächlich? Gar nicht so teuer für vier Zimmer! Er lacht und sagt: Das war 2007. Heute koste die 250 000 Pfund.

Und schon ist man mitten im Thema. Denn wer wissen will, was Olympia für den Berliner Wohnungsbau bringen könnte, sollte sich in London umschauen. Das nach den Sommerspielen 2012 zum Wohnviertel umgebaute Olympiadorf in Stratford liegt, ähnlich wie das geplante Quartier in Tegel, ziemlich zentrumsfern. Für beide Viertel gilt: In der Nachbarschaft gibt es ein Arbeiterquartier. In mancher Hinsicht lässt sich sagen, Stratford ist das Reinickendorf von London.

An Wochenenden im Sommer ist hier was los

Auch der Londoner mit spanischen Wurzeln, der mit im Taxi sitzt, lebt in Stratford. Ob sich das Viertel berappelt habe, seitdem gleich um die Ecke für die Olympischen Spiele ein Stadion, Schwimm-, Rad- und Sporthallen, der rostrote Orbit-Turm und vor allem viele Wohnungen auf der früheren Bahn- und Industriebrache aus den Boden gestampft wurden? „An Wochenenden schon“, sagt er, „im Sommer jedenfalls.“ Dann streunen die Leute durch den Queen-Viktoria-Olympia-Park und das East Village, wie Investoren das ehemalige Olympiadorf in Anspielung auf New Yorks Szeneviertel nennen.

Begeisterung klingt anders. Aber wer in Stratford lebt, ist auch noch nicht wirklich in London angekommen: Der Stadtteil gilt als erste Station mittelloser Migranten, die ihr Glück in der 8,4-Millionen-Metropole suchen. Die Kioske werben auf vergilbten Plakaten für „Alcohol from Russia, Ukraine, Bulgaria“. An Olympia erinnern in den langen Reihen zweigeschossiger „period homes“ aus der ersten Industrialisierungsperiode nur seltene Inschriften wie die einer Werkstatt: „Olympic Hand Car Wash“. Stratford ist eben Vorstadt, eine halbe U-Bahn-Stunde vom Zentrum entfernt. Aber direkt nebenan sind das East Village und dessen Umfeld nun fest im Griff der Immobilienmultis. Deshalb steigen auch rundherum Mieten und Wohnungspreise.

Erst Olympia verband die beiden unterschiedlichen Viertel

Dabei ist das ehemalige Olympische Dorf mit seinen gut 3000 Wohnungen sauber abgegrenzt vom Arbeiterviertel: Bahngleise im Osten sowie Autobahn im Westen schneiden Schneisen zwischen dem neuen Dorf und dem alten Kiez. Erst Olympia schlug Brücken zwischen den zwei Welten, der alten mit seinen verwitterten Reihenhäusern und der neuen, das East Village, mit dicht gedrängten Elfgeschossern und der etwas großspurig „Victory Park“ genannten Grünfläche mit Kinderspielplatz inmitten des Asphalts.

Da sitzt Irina, auf einer der Bänke aus Beton. Vor drei Monaten zog sie her. Ihre Tochter tollt über den Rasen, den die Landschaftsgärtner aufgeböscht haben, was einen guten Blick auf das gewaltige rote Studentenwohnheim (1000 Plätze) und der Einkaufsmall „Westfield“ bietet. Irina spricht gebrochen Englisch mit italienischem Akzent, denn die Russin hat zuvor 17 Jahre in Rom gelebt. Ihr Mann nennt sich Stefano, macht angeblich in Versicherungen, hat aber Allüre und Statur eines Preisboxers. „Es gibt zwar eine Schule, aber keine Plätze für meine Kinder“, sagt Irina. Die „Chobham Academy“, benannt nach dem Investor der im East Village Townhäuser bauen will, zählt 1800 Schüler. Doch Irinas Kinder müssen auf die „Carpenters School“ im Arbeiterviertel.

Durch Olympia entstand das größte Shoppingcenter Europas - aber nicht nur

Stratford, neu. Das Olympiastadion wird gerade zur Fußballarena umgebaut.
Stratford, neu. Das Olympiastadion wird gerade zur Fußballarena umgebaut.
© Ralf Schönball

Weiter unten, nahe am Bahnhof, liegt das Büro von „Getlivinglondon“. Für mehr als 600 Millionen Euro kaufte die Firma das Olympiadorf der Stadt ab und vermietet die Wohnungen nun. Mieter aus 80 verschiedenen Nationen lebten hier, sagt Vorstandschef Neil Young, 60 Prozent der Wohnungen seien vergeben. Young steht vor einem Modell des Quartiers, von den Klötzchen aus Holz heben sich die noch geplanten zwei Hochhäuser und drei Wohnblöcke durch Plexiglas ab. Nicht nur Youngs Firma baut im Quartier, auch andere wittern Geschäfte: ein Bagger treibt eine Sonde in den Boden neben dem Bahnhof. Hier entsteht das 42-geschossige „Manhattan Loft Garden“ mit 248 Wohnungen, Design-Hotel und Pool. Und zwischen Westfield und olympischer Schwimmhalle entsteht das „International Quartier“ mit einer Million Quadratmeter Bürofläche: „Gesunde Arbeitsplätze für 25 000 Menschen“ prangt es auf den Bauzäunen.

1339 von den 2818 Apartments seien Sozialwohnungen – aber dafür sei er nicht zuständig, sagt Young. Die Bewohnerschaft ist säuberlich getrennt: Von vier Blöcken ist jeweils einer für Haushalte mit geringen Einkünften reserviert. Gerüchten, wonach die einen sich über das bunte Treiben der anderen in den Höfen beschweren und „Klassenkampf“ droht, begegnet der Manager so: „Am Anfang lebten hier nur wenige Menschen, jetzt sind es 7000. Das ruckelt sich zurecht“. Hilfe von außen ist dabei willkommen: Wer morgens durch East Village läuft, begegnet einer Streife aus einem Polizisten und zwei breitschultrigen Sicherheitsleuten.

Im Sommer feiern die Menschen hier auf der Straße

Emily Alexander, eine sommersprossige 30-Jährige, redet so schnell wie ihre Absätze auf den Steinboden schlagen. Sie vermarktet das Gebiet, hat selbst vor einigen Jahren eine Wohnung in Stratford gekauft. Profitiert sie nun vom Boom? Oh god, nein, schon damals habe sie über die Preise gestöhnt. Unerschwinglich ist für sie die Wohnung im elften Stock des „Venetian House“, deren Tür sie aufschließt: 670 Pfund kostet die, der Ausblick will bezahlt sein – pro Woche ist diese Miete fällig. Dafür ist in der Ferne die „Scherbe“ zu sehen, der scharfkantige 87-Geschosser im Zentrum Londons. Die Wohnung hat zwei Balkone, die Brüstung ist voll verglast, schwindelerregend wie die Miete.

„Im Sommer bauen wir eine Kino-Leinwand auf, und die Bewohner veranstalten Straßenfeste“, sagt Emily Alexander. Einer der Väter – Familien bilden unter den Mietern im East Village eine Minderheit von neun Prozent – biete eine Fußball-AG für die Kids im Block an. Der Mann arbeite bei Westham United. Der Fußballverein soll das Olympiastadion nutzen, das zu diesem Zweck gerade umgebaut wird. Der Blogger Mark Peryman nennt das den „größten Skandal“ um Olympia: Fußball sei die umsatzstärkste Sportart, sorge aber kaum für Beschäftigung, „trotzdem schenkt die Stadt ausgerechnet denen ein Stadion“.

Neue Jobs für die Menschen aus Stratford gibt es nach Olympia vor allem im Westfield. Das kilometerlange Shoppingcenter verbindet den Fernbahnhof an ihrem einen Ende mit dem U- und S-Bahnhof am anderen. Mit den Galerien unter dem verglasten Dach erinnert der Block an die Potsdamer Platz Arkaden, wobei das Berliner Center gefühlt drei Mal ins Westfield passen würde: 300 Läden, 70 Restaurants, 17 Kino-Säle, ein Hotel. 10 000 Beschäftigte an Ladentheken, Tresen und in den Küchen – größer als das Westfield ist kein Center in Europa.

„Westfield entwickelt nicht nur Shopping-Malls, sondern ganze Quartiere und hat sich Grundstücke rundherum gesichert“, sagt Gavin Poynter, emeritierter Professor der University of East London. London wächst um 100 000 Menschen im Jahr, 42 000 Wohnungen lässt Bürgermeister Boris Johnson deshalb jährlich bauen und hat dafür 20 „Wohnungszonen“ ausgewiesen. East Village und das Umfeld komme dabei eine besondere Rolle zu wegen seiner Nähe zum Canary Wharf.

Die Spiele haben die Stadtplanung vorangebracht

Bekannt ist dieses Geschäftsviertel für einen der höchsten Türme Englands, dessen polierte Stahlfassade in der Abendsonne leuchtet, ein Symbol des Big Business. Canary Wharf ist nur elf U-Bahn- Minuten entfernt, besteht aber ausschließlich aus Bürohäusern. East End könnte die Banker und Berater mit Wohnraum versorgen. Gavin Poynter jedenfalls sagt, dass das Olympia-Quartier schrittweise mit Canary Wharf zusammenwachsen wird, entlang der Ufer vom River Lea. Der Fluss fließt am East Village vorbei und mündet auf Höhe des Geschäftsviertels in der Themse. Häuser am Wasser, das geht immer.

Stratford, alt. Niedrige Reihenhäuser prägen das Arbeiter- und Einwandererviertel.
Stratford, alt. Niedrige Reihenhäuser prägen das Arbeiter- und Einwandererviertel.
© Ralf Schönball

„Die Spiele in London waren der Katalysator für eine seit Langem existierende, wiederholt optimierte Stadtplanung. Das erklärt den Erfolg des Olympiadorfes“, sagt Klaus Grewe, der deutschstämmige Koordinator von Londons Olympia-Planung. Ähnlich wie die Schöneberger „Rote Insel“ einst durch Bahntrassen von Berlin abgeschieden war, erging es Stratford, bis Olympia den Stadtteil mit umliegenden Vierteln verband. „Ich bin mir nicht sicher, ob Berlin 2024 einer solchen übergeordneten Planungsidee folgt“, sagt Grewe – oder ob Olympia nicht vielmehr kurzfristig den Wohnungsbedarf der wachsenden Stadt stillen soll. Zumal Berlins Olympiadorf in Sichtweite zum geplanten Technologie-Standort in Tegel entstehen würde. Grewe warnt: „Produktion verursacht Verkehr, Lärm und riecht auch mal“ – das vertrage sich schlecht mit dem Bedürfnis nach Ruhe von Menschen in Wohnvierteln.

In Hinblick auf das städtebauliche Erbe sieht der Manager deshalb Hamburg im Vorteil: Die Spiele dort würden dem Stadtteil Kleiner Grasbrook zum Sprung über die Elbe verhelfen. Und durch den Anschluss an die Stadt würden die Wohnungen im Olympischen Dorf nach den Spielen sicher ähnlich begehrt sein wie jene in Hamburgs Hafencity.

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