"Sozialismustage" in Berlin: Was bei drei nicht auf dem Baum ist, wird verstaatlicht
Bei den Berliner „Sozialismustagen“ wurde über die Enteignung von Miethaien debattiert. Und es wurde auch vom Weltfrieden geträumt.
Ausgerechnet Ostern! Einen besseren Termin hätte man für die „Sozialismustage“ gar nicht wählen können als das christliche Fest der Auferstehung. Denn in der deutschen Hauptstadt erleben die politischen Ideen von Karl Marx in diesen Tagen eine bemerkenswerte Renaissance, wie die Debatte über die Enteignung großer Immobilienkonzerne zeigt. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ befand kürzlich gar, dass Berlin nicht länger nur Hauptstadt der deutschen Republik, sondern auch Hauptstadt des Sozialismus sei.
Ziel und Zweck des sozialistischen Stelldicheins fasst René Arnsburg am Sonnabendmorgen kurz und knapp zusammen. „Wir sind hier, um den Kapitalismus infrage zu stellen“, sagt er, während er in einem Seminar die Grundlagen der marxistischen Wirtschaftslehre vermittelt. Seine Ausführungen stoßen auf reges Interesse: Es wird viel diskutiert an diesem Morgen – über Lohnarbeit und Arbeitskraft, über Produktivität und Profite und natürlich über das Kapital.
Und auch ansonsten brauchen sich die Veranstalter nicht über mangelndes Interesse zu beschweren. Hunderte Menschen sind ins Berliner Verlagsgebäude der Zeitung „Neues Deutschland“ gekommen, um in Seminaren und Diskussionsrunden über die Kubanische Revolution („Wofür kämpften Castro und Che?“), den Mauerfall („Gab es eine Alternative zur kapitalistischen Wiedervereinigung?“) oder Miethaie („Enteigenen – aber wie?“) zu beraten.
„Der Sozialismus gewinnt wieder an Attraktivität, weil die Menschen auf der Suche nach einer Alternative zum System sind“, glaubt Arnsburg. Den Einwand, dass man gerade in Berlin schmerzhafte Erfahrungen mit der sozialistischen Realität machen musste, lässt Arnsburg nicht gelten: „Bei den realen Beispielen des Sozialismus handelte es sich nicht um wirklichen Sozialismus“, sagt er. Denn: „Sozialismus ohne eine demokratische Organisation der Gesellschaft gibt es nicht.“
Marx und die Ökonomie
Leiden die Marx’schen Ideen also bloß unter einem schlechten Leumund? Anruf bei einem, den man guten Gewissens einen Sozialismus-Skeptiker nennen kann: Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Und tatsächlich, selbst er muss zugeben: „Analytisch gibt es bei Marx bis heute viel Interessantes für Volkswirte zu entdecken“, sagt er. Dann jedoch folgt ein großes Aber: „Problematisch sind die politischen Handlungsanweisungen, die daraus entstanden“, sagt er. Und meint damit nicht zuletzt die Berliner Initiative, die eine Enteignung von Immobilienkonzernen fordert.
Die wiederum beteiligt sich in Gestalt ihres Sprechers Rouzbeh Taheri ebenfalls an den Sozialismustagen. Klar, das gibt Taheri zu, seine Kampagne habe eine überaus radikale Forderung aufgestellt. Warum sie dennoch auf viel Zuspruch stößt? „Weil wir einen realen Weg aufgezeigt haben, wie unser Anliegen umgesetzt werden kann.“ Und überhaupt: „Nicht wir haben die Menschen radikalisiert“, sagt Taheri. „Der vielgepriesene freie Markt hat die Menschen radikalisiert.“ Taheri wirkt gut gelaunt und angriffslustig. „Wir haben zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtige Forderung erhoben“, sagt er. Und sich zudem den richtigen Gegner ausgesucht: Die Deutsche Wohnen habe sich wie eine „Besatzungsmacht“ in Berlin aufgeführt und die gesetzlichen Regulierungen missachtet, behauptet Taheri.
Mit ihm auf dem Podium sitzt auch Kurzzeit-Staatssekretär Andrej Holm, der seinerseits ins Schwärmen gerät, als er über die Initiative spricht. „Ich bin dankbar für den großen Furor, den der Volksentscheid ausgelöst hat“, sagt er. In Berlin stünden 371.000 geförderte Wohnungen einem Bedarf von 687.000 Wohnungen gegenüber, rechnet Holm vor. Um diese Lücke zu schließen, seien Enteignungen ein gutes Instrument.
Kopfnicken wohin man blickt
Und zu diesem Schluss kommt nicht nur er, sondern auch das Gros der Anwesenden Genossen. Es herrscht überhaupt eine bemerkenswerte Einigkeit unter den Teilnehmern: Kopfnicken wohin man blickt. Allenfalls bei Details gibt es kleine Differenzen. Etwa bei der Frage, ob den enteigneten Unternehmen eine Entschädigung zusteht. Ein grauhaariger Mann befürwortet das, „zumindest eine symbolische in Höhe von einem Euro“. Lucy Redler hingegen, Mitglied im Parteivorstand der Linken, plädiert dafür, die Unternehmen in Naturalien zu entschädigen. Die Wohnungen seien damals für „nen Appel und nen Ei“ vom Land an die Konzerne verkauft worden, deshalb sollten die Firmen bei einer Enteignung nun allenfalls mit einem Apfel und einem Ei entschädigt werden. Erneut heftiges Kopfnicken unter den Klassenkämpfern.
Dann meldet sich ein junger Sozialist aus Neukölln und fordert, dass die Verstaatlichung der Wohnungen nur ein erster Schritt sein könne. Um die Wohnungsnot zu lösen, müssten auch neue Wohnungen entstehen. Aber sollen die von profitorientierten Unternehmen gebaut werden, fragt er in die Runde – und meint es natürlich rhetorisch. Der Wohnungsbau gehöre in die Hand von öffentlichen Unternehmen, sagt er. Und setzt sein Gedankenspiel fort: Sollen die Neubauten wirklich von profitorientierten Banken finanziert werden? Man solle lieber eine staatliche Förderbank für den Wohnungsbau gründen, empfiehlt er. Die Dynamik auf den Sozialismustagen ist klar: Was bei drei nicht auf dem Baum ist, wird verstaatlicht.
Mehr Staat für den Markt also? Keine gute Idee, glaubt IW-Direktor Hüther und verweist auf den hauptstädtischen Kampf für niedrige Wohnungsmieten. „Der Berliner Senat hat ja bereits weitreichende Instrumente und greift ja auch längst tief in den Markt ein”, sagt er. Etwa das Instrument des Milieuschutzes, mit dem Luxussanierungen auf Kosten der Mieter verhindert werden sollen: „Der Senat kann seit Jahren den Vermietern den Einbau eines zweiten Klos oder eines dritten Waschbeckens verbieten“, sagt Hüther. „Geholfen hat das aber nichts, die Mieten steigen weiter.“ Mit dem Vorhaben, Immobilienkonzerne zu enteignen, ginge die Diskussion, welche Instrumente dem Staat noch in die Hand gegeben werden können, in die nächste Runde. „Aber auch dieser Plan wird scheitern.”
Frust über die Marktwirtschaft
Hüther kann allerdings nachvollziehen, woher der Frust über die Marktwirtschaft kommt. „Mit der Finanzkrise und der anschließenden europäischen Staatsschuldenkrise haben die Menschen in den vergangenen Jahren schwere Enttäuschungen über die marktwirtschaftliche Ordnung erlebt.“ Doch Hüther warnt: Über diese Krise werde der Blick auf die positiven Entwicklungen verstellt. „Wir haben den Höchststand der Erwerbstätigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik erreicht und gleichzeitig haben sich auch die Reallöhne gut entwickelt”, sagt er. „Im internationalen Vergleich stehen wir eigentlich grandios da.“
Es sei dabei nicht nur die Ignoranz gegenüber den Fakten, hinzu komme bei vielen das Gefühl eines Kontrollverlusts. „Die Menschen sehen einerseits, wie die Wirtschaftsunternehmen immer globaler agieren. Andererseits beobachten sie, wie die lokale Verwaltung mit dem Bau eines Flughafens völlig überfordert ist.“ Bei vielen führe das zu dem Schluss, dass dem Staat die richtigen Instrumente fehlten, um durchzugreifen. „Und deshalb gibt es derzeit wieder viele Sympathien dafür, den Markt auszuhebeln“, glaubt Hüther.
Doch für René Arnsburg ist der Sozialismus mehr als ein Instrumentenkasten zur Regulierung der Märkte. „Der Sozialismus bietet die Vision einer zukünftigen Gesellschaft, in der nicht privilegierte Minderheiten, sondern die Mehrheit darüber entscheidet, wie wir leben wollen“, sagt er. „Der Sozialismus gibt uns die Möglichkeit, frei von Krieg und Ausbeutung zu leben.“
Bringt der Sozialismus Frieden auf Erden? Michael Hüther hat Zweifel: „Was Marx anbietet, ist die Formulierung eines Paradieses – nur halt nicht religiös-theologisch“, sagt er. „Der Sozialismus ist letztlich nichts anderes als ein säkulares Heilsversprechen; ein Versprechen darauf, dass der Mensch in ihm nicht mehr im Konflikt leben wird, weil er durch ihn vollkommen wird.“ Und dieses quasi-religiöse Versprechen erfreut sich großer Beliebtheit: „Das ist ja bis heute das Selbstverständnis der Linken, dass man Tag und Nacht an der Vervollkommnung des Menschen arbeite.“ Die Erfolgsaussichten? Hält Hüther für gering. „Denn der Mensch bleibt nun mal, was er ist: unvollkommen. Das wird sich nicht ändern lassen – auch nicht durch marxistische Theorien.“
Hüther jedenfalls ist skeptisch, was die sozialistische Auferstehung in der Hauptstadt angeht. „In Berlin kann ich mir ja viel vorstellen – aber es wird ein regionales Phänomen bleiben. Insgesamt wissen die Menschen schon, was sie mit der Freiheitsordnung haben.“
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