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Vorfahrt, Check-In, Abflug. TXL besticht mit kurzen Wegen.
© Kitty Kleist-Heinrich

Ein Geniestreich aus Beton, Stahl und Glas: Warum uns die Architektur von TXL so begeistert hat

Tegel gilt als Revolution des Flughafenbaus. Dabei besticht nicht nur das omnipräsente Sechseck. Eine Architektur-Analyse von Einfachheit und Einheit.

Im Jahr 2016, als der Flughafen Tegel schon vier Jahre über seinen vorgesehenen Schließungszeitpunkt hinaus in Betrieb war, bekam er vom Bund Deutscher Architekten im Rahmen seiner alljährlichen Preisvergabe den Sonderpreis der „Klassik-Nike“ zugesprochen. Die „Klassik-Nike“, so die Erläuterung, wird „für den besonderen Wert eines Bauwerks oder städtebaulichen Projekts verliehen, das sich über Jahrzehnte in der Nutzung bewährt hat und noch immer als vorbildhaft gilt“.

Speziell zur Flughafen-Auszeichnung heißt es, Tegel stehe „für Zurückhaltung der Gestaltung und Zweckdienlichkeit, ja Genialität seiner Konzeption“. Der Airport habe „sich trotz drastisch gestiegener Fluggastzahlen seit über vierzig Jahren hervorragend bewährt“.

Der Preis, vom renommierten Berufsverband und also den Kollegen verliehen, gilt der Architektur und macht doch das Dilemma deutlich, vor dem jede Würdigung des Flughafens steht: Architektur und Funktionalität sind kaum zu unterscheiden.

Immer wieder werden vor allem die einmalig kurzen Wege betont, die der Fluggast zurückzulegen hat, die Anfahrt bis quasi vor das Abfluggate, überhaupt die hervorragende Übersichtlichkeit. Das ist alles richtig. Und natürlich sind diese lobenswerten Eigenschaften in Architektur gefasst, sie sind ja eingebettet in das Gebäude selbst. Und doch bedeutet die Architektur, um die es in diesem Beitrag gehen soll, noch etwas anderes.

Was die Qualität eines Bauwerks ausmacht, ist seit der Antike und ihrem – einzig überlieferten – Theoretiker Vitruv in die drei Begriffe der Festigkeit, der Nützlichkeit und der Schönheit gefasst. Über die Festigkeit muss man sich heute kaum mehr Gedanken mehr machen, und die Nützlichkeit deckt sich mit dem, was wir als Funktionalität bezeichnet haben. Bleibt die Schönheit als die eigentliche, nicht anders zuzuordnende Qualität von Architektur. Sie erschließt sich beim Flughafen Tegel auf unmerkliche, wenn man sie aber bemerkt, auf eindrückliche Weise.

Fluggäste haben selten ein Auge auf die Schönheit der äußeren Form von TXL

Das beginnt bei der Zufahrt, die auf einer geschwungenen Brücke erst auf den markanten Tower und dann seitlich ans einmal geknickte Hauptgebäude heranführt. Dieses Hauptgebäude ist in seinen beiden oberen Geschossen abgeschrägt, als müsste es sich gegen heftige Winde schützen. Es ist asymmetrisch in seinen Ausmaßen und doch harmonisch.

Viel zu selten haben Besucher ein Auge für die Schönheit der äußeren Form des Tegeler Flughafens; eine Schönheit, die sich in dem anschließenden Abfertigungs-Sechseck fortsetzt, wenngleich dieses nur dem Fluggast für einen Moment beim Blick aus seinem vorbeifahrenden oder gar startenden Flugzeug zugänglich ist.

[Adieu TXL: 46 Jahre flog Berlin auf Tegel, im November ist Schluss im Hexagon. Wir erinnern an Kofferberge, Prominenz im Provinz-Flair und schauen, wer in Zukunft im Berliner Norden landet. Die Themenseite TXL]

Tegel wird von außen also nicht wirklich wahrgenommen; von innen umso mehr. Denn anders als bei gewöhnlichen Bauten werden jedenfalls die öffentlichen Bereiche bis in den letzten Winkel intensiv genutzt. Meinhard von Gerkan und sein langjähriger Partner Volkwin Marg sowie Klaus Nickels, die im Jahr 1965 am Wettbewerb für den künftigen Flughafen teilnahmen, blutjung und ohne Berufserfahrung, und ihn nicht nur gewannen, sondern zur bis heute nachhallenden Verwunderung ohne fundamentale Eingriffe auch bauen durften, hatten – und das ist das Geniale – ein Grundkonzept, ein Raster, aus dem sich alle Bauteile ableiten ließen, ohne deswegen gezwungen zu wirken.

Es geht alles auf beim Flughafen Tegel, es ging zumindest solange, bis insbesondere die Anforderungen extrem gesteigerter Sicherheit im Verbund mit der permanenten, mehrfachen Überlastung zu Kompromissen zwangen, die das Ursprungskonzept mehr und mehr beschädigten.

Viel Tageslicht sorgt für eine gute Stimmung.
Viel Tageslicht sorgt für eine gute Stimmung.
© Kitty Kleist-Heinrich

Naturgemäß kennen die allermeisten Fluggäste Tegel nur aus der Zeit nach „Nine-eleven“, dieser Wasserscheide des Flugverkehrs. Fast niemand kennt Tegel noch in seinem Ursprungszustand, eröffnet im Herbst 1974 und – heute kaum noch vorstellbar – anfangs fast ein Jahr lang lediglich von zwei täglichen Flugpaaren der Air France bedient, ehe sich die beiden anderen Carrier der Alliierten auf beständiges Drängen des West-Berliner Senats hin dazu bequemten, aus Tempelhof nach Tegel umzuziehen. Richtig los in Tegel ging es also erst am 1. September 1975 – mit neun innerdeutschen und gerade einmal fünf internationalen Flugzielen, darunter einer Verbindung nach Washington (!), die bald wieder verschwand.

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Damals war das Konzept das allgegenwärtigen Sechsecks sowie seiner Teilung sechs Dreiecke in voller Blüte zu erleben. Der Großform des Flugsteigringes, der ein gleicher Ring auf der Ostseite der Zufahrt hätte folgen sollen, war das unvollständige Sechseck der Kraftfahrzeugzufahrt vorgelagert.

Im Inneren des Abfertigungsringes dominieren Dreiecke und die daraus sich ergebenden Winkel von 60 und 120 Grad. Sie fanden sich in den Bodenfliesen, in den Sitzgruppen der Warteinseln, in den Abfertigungsbereichen mit ihren schräg gestellten Trennwänden, schließlich in den Zugängen zu den eigentlichen Fluggastbrücken.

Als Architektur treten dem Besucher die roh belassenen Bauteile aus Beton entgegen, die Wände und Brüstungen, vor denen sich die warmtonigen Bodenfliesen, die gelb gepolsterten Sitze der Wartebereiche und außen die leuchtend roten Fluggastbrücken abheben. Hell und licht ist der Flughafen; überall kommt Tageslicht herein, so in dem – nach heutigen Maßstäben rührend kleinen – Shopping-Bereich vor dem eigentlichen Abfertigungsring durch das Glasdach über filigranen Metallverstrebungen.

[Lesen Sie auch: Wie ein Wohnzimmer am Stadtrand – Die BER-Architektur im weltweiten Vergleich.]

Aus den Wartebereichen der einzelnen Gates schaut man durch großformatige Fenster hinaus, und vor dem leider notwendig gewordenen Einbau der Sicherheitsschleusen konnte man vom Abfertigungsring aus über die den einzelnen Gates zugeordneten Check-in-Schalter hinweg bis aufs Rollfeld schauen.

Ein Geniestreich aus Beton, Stahl und Glas.
Ein Geniestreich aus Beton, Stahl und Glas.
© Kitty Kleist-Heinrich

Vom Anfang seiner Tätigkeit an hat das von Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg begründete Büro gmp auf die Materialität der Bauten große Sorgfalt verwandt und die „formale Zurückhaltung und die Einheitlichkeit der Materialien“ – so ihre Formulierung - betont. Als die vier Leitprinzipien ihrer Arbeit nennen die Architekten „Einfachheit, Vielfalt und Einheit, Unverwechselbarkeit, strukturelle Ordnung“. All das ist am Flughafen Tegel zu erkennen: die einfache Lösung mit dem alle (seinerzeitigen) Anforderungen erfüllenden Sechseck, die Vielfalt in der Einheit sowohl der Grundformen als auch der (teils zeitbedingten) Materialien, die Unverwechselbarkeit des gesamten Baukomplexes und schließlich die strukturelle Ordnung, die das Terminal und im Übrigen auch die zahlreichen Funktionsbauten zusammenfasst. Denn die wurden – was für ein Glücksfall! – ebenso nach dem Entwurf der Wettbewerbssieger ausgeführt, bis hin den Details der Rampen und Brücken in Sichtbeton. Oder der Lärmschutzkabine am Rand des Vorfeldes, die in ihrer markanten Dreiecksform wie ein Wahrzeichen des Flughafens wirkt. Wenn man nur hinschaut.

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Erst im April 2019 wurde der mittlerweile an vielen Stellen derangierte Flughafen Tegel in die Denkmalliste eingetragen. Landeskonservator Christoph Rauhut nannte zur Begründung als „das wirklich Besondere die Struktur, die die Fortschritts- und Technikgläubigkeit der Zeit spiegelt“. Aber auch bei ihm mischen sich architektonische und funktionale Gesichtspunkte, letztere zusammengefasst im Begriffsetikett des „Flughafens der kurzen Wege“.

Aber vielleicht ist eben das das Herausragende des Entwurfs, dass er sich gar nicht trennen lässt in Funktion und Architektur. Vielmehr hat die Erfüllung der funktionalen Anforderungen in einer ästhetisch ansprechenden und überzeugenden Architektur Ausdruck gefunden. Man muss nur in die benachbarte Billigfliegerkiste namens „Terminal C“ gehen, um bloße Funktionserfüllung ohne Architektur zu sehen – und sich augenblicklich in die Architektur, ja Baukunst zurückzuwünschen, die den Komplex des ursprünglichen Flughafens auszeichnet. Er hat sich nicht nur „seit über vierzig Jahren hervorragend bewährt“, wie der Bund Deutscher Architekten lobte, sondern mehr: Er ist und bleibt ein Geniestreich.

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