Berliner Krankenhäuser: Warum Rettungsstellen an Brückentagen überfüllt sind
Die Rettungsstellen von Krankenhäusern sind gerade an Brückentagen und Wochenenden überfüllt. Das liegt an fehlenden Kinderärzten, schlechten Abrechnungen – und auch einigen Patienten. Ein Report.
An manchen Tagen kommt sie sich vor wie eine Marathonläuferin. Obwohl ihr Körper unter der anhaltenden Belastung von Minute zu Minute müder wird, rennt sie weiter. Immer weiter. Aufgeben? Unmöglich. „Doch irgendwann wird das Limit erreicht sein. Und was passiert dann?“
Noch funktioniere sie, sagt Juliane Heidel, die in Wirklichkeit anders heißt. „Aber langsam geht die Puste aus.“ Die 30-Jährige Chirurgin fühlt sich am Ende in einem kranken System: Der Notfallbehandlung in Berliner Krankenhäusern. Am Ende einer Kette, die sich – fragt man Menschen, die in dieser Branche arbeiten – aus einer fehlenden Zusammenarbeit von Krankenhäusern und Praxen, nicht gedeckten Kosten und dem Fehlverhalten einiger Patienten zusammensetzt.
Die Luft ist stickig. Kleine Stühle stehen aneinander, auf dem Tisch liegen Buntstifte, die Wände sind in knalligen Farben mit Gänsen und Blumen bemalt. Für Johann ist das alles uninteressant. Er liegt mit müden Augen auf dem Schoß seines Vaters, sein Gesicht schaut fiebrig aus, er röchelt. Gunnar Graupner streicht ihm die Haare aus der Stirn. „Noch ein bisschen warten“, sagt er leise. In der Nacht habe Johann schlecht Luft bekommen. Eine Bronchitis, sagt Graupner. Seit zwei Stunden sitzen die beiden in der Kinderrettungsstelle. Muss Johann die Nacht hier bleiben? Graupner sagt: „Ich glaube, so lange habe ich noch nie gewartet.“
Streit zwischen Kliniken und Kassenärztlicher Vereinigung
Die fünfjährige Maike und ihre Eltern laufen den Flur rauf und runter, machen Halt an der Fensterbank, laufen wieder zurück. „Da drinnen im Warteraum halte ich es nicht aus“, sagt Maikes Mutter. Das Mädchen hat Fieber. Verdacht auf Scharlach. „Das haben jetzt alle in der Kita.“
Ein junger Mann starrt gelangweilt auf einen Fernseher, auf dem seit Stunden eine Quizshow läuft. Er sitzt am anderen Ende der Klinik, in der Notaufnahme für Erwachsene. Der 30-Jährige mit der dunklen Mütze auf dem Kopf hat seit zwei Tagen eine starke Erkältung, erzählt er. Vor Kurzem habe er eine Chemotherapie bekommen. „Der Husten macht mir Angst.“ Fragt man ihn nach seiner bisherigen Wartezeit, antwortet er abgeklärt: fünf Stunden. „Was soll ich denn schon tun?“
Überfüllte Warteräume, quengelnde Kinder, verärgerte Eltern – Szenen, die sich immer wieder in Berliner Rettungsstellen abspielen – besonders an Wochenenden und Brückentagen. Die Liste der Probleme ist lang: eine mangelhafte Versorgung an Feiertagen, zu wenig Personal, Sanierungsstau in Notaufnahmen und immerzu Streit zwischen Kliniken und Kassenärztlicher Vereinigung. Warum werden die Rettungsstellen so vernachlässigt?
Wenn Juliane Heidel morgens das Krankenhaus betritt,fragt sie sich: „Wo soll ich anfangen?“ Die junge Chirurgin ist eine derjenigen, die sie hier alle sehnsüchtig erwarten. Ihr Dienst sieht etwa so aus: Tagsüber arbeitet sie mit einem anderen Arzt aus ihrem Fachbereich zusammen. Übernimmt er die Station, dann ist sie für die Rettungsstelle verantwortlich. Ist die Visite vorbei, ist sie für beide Abteilungen zuständig – Station und Rettungsstelle. 12- oder 24-Stunden-Schichten macht sie dann. Und was passiert, wenn der Patient auf der Station einen Blinddarmdurchbruch erleidet und gleichzeitig jemand in der Rettungsstelle mit Magenkrämpfen eingeliefert wird? „Das ist schlecht. Ich kann mich ja nicht zweiteilen“, sagt die junge Ärztin. Etwa 30 Fälle habe sie am Tag, eine Viertelstunde müsse sie durchschnittlich pro Person aufbringen. Und immer sei der Warteraum voll. „Die Nachtdienste schlauchen extrem. Aber krank werden darf ich nicht. Dann ist kein Ersatz da“, sagt sie und hält kurz inne: „Ich fühle mich manchmal wie der letzte Idiot.“
Hinzu kommen die starren Öffnungszeiten
In den 39 Notaufnahmekrankenhäusern Berlins werden laut Senatsverwaltung für Gesundheit jährlich 1,2 Millionen Menschen behandelt. Doch nur etwa ein Drittel muss stationär betreut werden. 800 000 Patienten zählen zu den sogenannten ambulanten Notfällen, wie ein Gutachten der Krankenhausgesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Notfall- und Akutmedizin (DGINA) ergeben hat. Und die Zahl der Patienten in den Notaufnahmen steigt: Jährlich um fünf Prozent, sagt Christoph Dodt, Präsident der DGINA. Dazu kommt, dass die Rettungsstellen ein Minusgeschäft sind. Pro ambulant versorgtem Patienten erhält das Krankenhaus etwa 32 Euro durchschnittlich. Die eigentlichen Kosten für den Notfall betragen im Durchschnitt aber 120 Euro.
„Das Krankenhaus ist zum Hauptanlaufpunkt für Patienten geworden“, sagt Dodt. Die Menschen erwarteten hier eine bessere Versorgung durch den 24-Stunden-Dienst und hochwertigere Geräte. Hinzu kommen die starren Öffnungszeiten der Haus- und Kinderärzte, die zu Feiertagen und an Wochenenden nicht erreichbar sind. Chirurgin Juliane Heidel beklagt auch eine Bequemlichkeit. „Manche Patienten nutzen die Notaufnahme auch, um sich vor dem Urlaub durchchecken zu lassen. Echte Notfälle leiden darunter.“
Krankenhäuser, Gesundheitsexperten, Ärzte und sogar der Gesetzgeber sind sich einig: Die Zahl der ambulanten Notfallpatienten in Krankenhäusern muss gesenkt, die Rettungsstellen sollen entlastet werden. Nur wie soll das gelingen? Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin (KV) hat seit Februar eine neue Regelung.
Bessere Abstimmung zwischen Krankenhäusern und Praxen
Während der Sprechzeiten von Vertragsärzten (7 bis 19 Uhr) sollen Patienten die Rettungsstellen nur in Notfällen aufsuchen. Ärzte sollen nur behandeln, um sie „in die Lage zu versetzen, einen niedergelassenen Arzt aufzusuchen“. Jede Versorgung müssen Ärzte schriftlich begründen. Ansonsten vergütet die KV nicht. Die Sprecherin eines Krankenhauses, die ungenannt bleiben will, nennt die Dokumentationspflicht eine „Schikane“. Auch Oliver Heide, stellvertretender Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft, sieht für die Ärzte Mehraufwand statt Entlastung. „Wenn jemand aus der Tür geht und tot umfällt, bin ich dafür verantwortlich“, sagt Chirurgin Juliane Heidel.
Christoph Dodt von der DGINA plädiert lieber für eine bessere Abstimmung zwischen Krankenhäusern und Praxen. Das Krankenhausstrukturgesetz verlangt deshalb, dass die KVs Notdienstpraxen für die ambulante Versorgung in oder an Krankenhäusern einrichten. Bislang hat Berlin keine solche Praxis. Als „einziges Bundesland nicht“, wie Heide kritisiert. Er sieht die KV in der Pflicht, dringend zu handeln. Sprecherin Susanne Rossbach teilt mit, dass die KV aktuell mit verschiedenen Krankenhäusern Verhandlungen führe. Verträge gebe es aber noch nicht.
Für Christoph Dodt muss eine solche Einrichtung ein zentraler Anlaufpunkt sein, von dem aus der Patient verteilt wird. „Er kann nicht immer selbst entscheiden, wo er die beste Versorgung bekommt.“ Bessere Kommunikation – das wünscht sich auch Juliane Heidel. Damit sie mehr Zeit für ihre Patienten hat. Damit sie endlich wieder Luft bekommt.
Von Julia Bernewasser
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