Wie viele Menschen waren beim Corona-Protest?: Warum die Veranstalter der Demonstration Falschmeldungen verbreiten
Die Polizei sprach von 20.000 Teilnehmern, die Veranstalter von bis zu 1,3 Millionen. Die Zahl der Organisatoren ist zwar völlig unrealistisch, aber bewusst gewählt.
Ein Foto, dass in den sozialen Netzwerken kursiert, zeichnet das beeindruckende Bild einer Massenbewegung. Dicht an dicht stehen tausende Menschen auf der Straße des 17. Juni. Vom Brandenburger Tor bis zur Siegessäule ist kaum ein Millimeter Asphalt zu erkennen. Triumphierend wird diese Aufnahme gerade auf Facebook, Twitter und in Messenger-Gruppen der Corona-Demonstranten vom Wochenende geteilt.
Nur ist dieses Bild nicht während des Corona-Protests entstanden, sondern bereits vor 19 Jahren: zur Loveparade 2001 – als angeblich insgesamt eine Million Menschen auf der völlig überfüllten Straße des 17. Juni tanzten. Das Foto ist fast zwei Dekaden nach seinem Entstehen zu einer Waffe in einem Zahlenkrieg geworden, der nicht neu ist, aber immer bizarrere Ausmaße annimmt.
In der Spitze sollen laut Polizei rund 20.000 Menschen bei der Abschlusskundgebung der Corona-Proteste am Samstag teilgenommen haben. Zuvor sollen bei einem Protestzug Unter den Linden rund 17.000 Menschen mitmarschiert sein. Diese Zahlen hatte auch der Tagesspiegel mit Bezug auf die Polizei übernommen.
Die Veranstalter von „Querdenken711“ dagegen sprechen von 800.000 oder mehr als 1,3 Millionen Menschen, die an der Demonstration teilgenommen haben sollen. Sie werfen Medien, die die Zahlen der Polizei übernehmen, und der Polizei selbst Falschberichterstattung vor. Wie sie ihre Zahlen errechnet haben wollen, geben die Veranstalter nicht an. Teils wird ein gefälschter Tweet der Polizei als Beleg angegeben.
Die Polizei teilt auf Tagesspiegel-Anfrage mit, es seien Übersichtsaufnahmen durch einen Hubschrauber gemacht worden. In der Einsatzleitstelle hätten erfahrene Beamte aufgrund der Aufnahmen die Zahl der Teilnehmer geschätzt. So passiert es mittlerweile bei fast allen größeren Demonstrationen.
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Mutmaßungen nach weit höheren Teilnehmerzahlen, die noch am Samstagabend auf der Bühne verkündet wurden und etwa auch vom AfD-Bundesvorstand Stephan Protschka und mehreren Berliner AfD-Abgeordneten verbreitet wurden, wies die Behörde explizit zurück: „Eine exorbitant höhere Zahl, die laut verschiedener Tweets durch uns genannt worden sein soll, können wir nicht bestätigen“, twitterte die Pressestelle der Behörde.
Für die Polizei ist ein Überblick über das Demonstrationsgeschehen und die Zahl der Teilnehmer aus einsatztaktischen Gründen wichtig. „Wir richten danach die Steuerung unserer Kräfte aus“, sagte ein Polizeisprecher am Montag. Die Polizei versuche so, die Menschenmassen zu leiten, mögliche Engpässe schnell zu entlasten. Die Aufnahmen würden allerdings weder gespeichert noch veröffentlicht. Dies sei nicht ohne Weiteres erlaubt.
Meist geben die Veranstalter mehr Teilnehmer an als die Polizei
Für die Veranstalter haben die Zahlen eine ganz andere Relevanz: Je mehr Menschen auf eine Demonstration gehen, desto größer der Erfolg für die Organisatoren. Hohe Teilnehmerzahlen sollen Bedeutsamkeit vermitteln, politischen Forderungen Relevanz verleihen.
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Dass diese Angaben zwischen Polizei und Veranstaltern variieren, passiert deshalb fast bei jeder größeren Demonstration. Meist schätzen die Veranstalter die Zahlen deutlich höher ein, als die Polizei. Wer letztlich recht hat, lässt sich oft nur schwer belegen. Es lassen sich allerdings Tendenzen erkennen.
So veröffentlichte etwa die in Teilen rechtsradikale Pegida-Bewegung Anfang März 2015 nach einer Kundgebung Teilnehmerzahlen von bis zu 15.000 Menschen, die Polizei sprach von rund 7000 Personen. Ein Forscherteam der Universität Leipzig untersuchte am gleichen Abend mit drei verschiedenen Methoden die Anzahl der Menschen und kam auf noch weniger Teilnehmer: je nach Zählmethode auf rund 5500 bis maximal 6000.
Eine Million zu Silvester? Gab es wohl niemals
Bei den Protesten um „Stuttgart21“ wurde ebenfalls andauernd um die Zahl der Teilnehmer gestritten. Während die Organisatoren im Februar 2011 von fast 40.000 Menschen sprachen, schätzte die Polizei die Zahl auf etwa 13.000.
Der Bürgerreferent des Polizeipräsidiums Stuttgart ließ daraufhin Luftaufnahmen machen, sie von mehreren Beamten durchzählen und diese zum Beweis veröffentlichen.
Ein anderes, unpolitisches Beispiel: Dass etwa eine Million Menschen auf die Straße des 17. Juni passen, behaupteten lange Jahre auch die Veranstalter der Silvestermeile am Brandenburger Tor. Erst nach einer Recherche der „taz“ räumte die Pressesprecherin des Veranstalters im Jahr 2013 ein, die Zahl werde aus Marketinggründen genannt.
Laut dem Online-Tool „Mapchecking“, das das Ausrechnen von Teilnehmerzahlen in ausgewählten Gebieten ermöglicht, beträgt der Straßenraum zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule knapp 55.000 Quadratmeter. Bei bis zu drei Personen pro Quadratmeter gebe es laut Bewegungsforschern ausreichend Platz, bereits ab vier Personen gibt es hohe Risiken zur stolpern. Will man kein Sicherheitsrisiko eingehen, passen zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor also rund 165.000 Menschen. Diese Zahl läge tatsächlich deutlich über den Schätzungen der Polizei für das Wochenende, aber noch deutlicher unter denen der Veranstalter.
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Wie sind die Schätzungen also zu beurteilen? Übersichtsfotos der Deutschen Presseagentur zeigen, dass die Straße des 17. Juni während der Demonstration gegen die Corona-Regeln nur zu einem kleinen Teil gefüllt war. Die Teilnehmer stehen auch nicht ansatzweise so dicht beieinander wie 2001 während der Loveparade.
Einen anderen fotografischen Vergleichswert bietet der Berlin-Marathon: Die Straße war durch die Corona-Protestler auch nicht so gut gefüllt wie bei dessen Start mit 40.000 Teilnehmern. Viele Demonstranten sitzen stattdessen weit verstreut auf den Straßen, nur für den Bühnen herrscht Gedränge.
Veranstalter verlassen sich auf die Restunsicherheit und fehlende Beweise
Allerdings hatte die Polizei am Samstag auch schon früh Zugänge gesperrt, um das Einhalten der Abstandregeln zumindest theoretisch zu ermöglichen – womöglich sammelten sich also einige Demonstranten auf Zubringerwegen.
Insgesamt sind die Zahlen der Polizei dennoch deutlich realistischer einzuschätzen, als die unbelegten Behauptungen der Veranstalter – auch wenn letztlich niemand beweisen kann, wie viele Menschen ganz genau auf der Demonstration waren.
Diese Restunsicherheit hatten die Stuttgarter Veranstalter von „Querdenken711“ schon im Vorhinein ausnutzen wollen: In Internetaufrufen hatten sie von 500.000 Menschen gesprochen, die aus ganz Deutschland nach Berlin reisen würden. Erst kurz vor dem Wochenende hatten sie die Demonstration dann offiziell bei der Polizei angemeldet: mit 10.000 Teilnehmern.
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