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Ein Teilnehmer trägt eine Gasmaske bei der Demonstration gegen Corona-Maßnahmen unweit des Brandenburger Tores. Dazu aufgerufen hat die Initiative «Querdenken 711». Das Motto der Demonstration lautet «Das Ende der Pandemie - Tag der Freiheit».
© Paul Zinken/dpa-zentralbild/dpa

Coronaleugner demonstrieren in Berlin: „Ihr denkt, ihr werdet verschont von den Tribunalen? Werdet ihr nicht!“

Mehr als 20.000 Menschen demonstrieren in Berlin-Mitte gegen die Corona-Regeln. Aus anfänglicher Partyatmosphäre entwickelt sich Umsturzstimmung

Sie sind früh aufgestanden. Haben ihre Deutschlandfahnen eingepackt und bunt bemalte Transparente. „Jesus lebt!“, lernen Zuschauer. Und dass die „Corona-Rebellen Düsseldorf“ nach Berlin gekommen sind. Außerdem dass Angela Merkel und der Chef des Robert-Koch-Instituts hinter Gitter gehörten: „Sperrt Sie weg!“, steht auf einem Plakat.

Und Bill Gates, der habe das Virus entwickelt. Es sind laut Polizei bis zu 20.000 Protestierende, die am Sonnabend im Herzen Berlins gegen die wenigen verbliebenen Corona-Regeln und für verschwörungsideologische Weltbilder protestieren. Erst in Party-, später mit Umsturzstimmung.

Gegen elf Uhr schon sammeln sich hunderte Menschen Unter den Linden, Sonnenschein, warme Stadtluft. Maske trägt kaum jemand, Passanten und Journalisten werden aufgefordert, ihre abzunehmen. Gesicht zeigen, schreien sie. Dicht an dicht drängen sich die Protestler. Abstandsregeln sind nicht nur schwierig einzuhalten, sondern den meisten hörbar egal.

In den Bahnen Richtung Innenstadt ist es eng – kaum jemand trägt Maske, viele Berlin-Erinnerungsselfies werden gemacht. Klatschen, Pfeifen, Johlen und Singspiele mitten in der Hauptstadt. „Lasst euch nicht von der Regierung spalten!“, ruft eine Rednerin in der Nähe des Brandenburger Tors in ihr Megafon. Von einem anderen Wagen fragt ein Mann: „Wollt ihr alle Party machen?“

Jemand wirft Süßigkeiten vom Wagen wie beim Karneval. Die Menge johlt: „Berlin, Berlin! Wir ziehen durch Berlin!“ Und, prophetisch: „Wir, wir, wir sind die zweite Welle!“

Den ganzen Demo-Tag in Berlin noch einmal nachverfolgen können Sie hier im Newsblog zu den Protesten am Samstag.

Es sollte ihr „Tag der Freiheit“ werden. Sie wollten das Ende der Pandemie feiern – während die Covid-19-Infektionszahlen steigen, Wissenschaftler vor der zweiten Welle warnen. Ursprünglich hatten die Organisatoren 500.000 Menschen angekündigt, sie hatten in ganz Deutschland mobilisiert.
Die 20.000 Teilnehmer, die letztlich dabei sind, sind schwer unter einen Hut zu bringen: Viele ältere Menschen mit schwäbischem Zungenschlag, muskulöse Jungmänner in Partystimmung, Frauen mit esoterischen Schildchen, aber auch Familien mit Kindern und Rechtsextremisten aus der Reichsbürgerbewegung und Kader der NPD.

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Vereinzelt sind Hakenkreuztattoos zu sehen, schwarz-weiß-rote Reichsfahnen wehen. Niemand stört sich daran. Die Protestler eint das Misstrauen gegen Medien, Politik, der Glaube an alternative Wahrheiten.

Dicht gedrängt und ohne die Abstandsregeln zu beachten, stehen Tausende bei einer Kundgebung gegen die Corona-Beschränkungen auf der Straße des 17. Juni. 20.000 Menschen sollen laut Polizei gekommen sein.
Dicht gedrängt und ohne die Abstandsregeln zu beachten, stehen Tausende bei einer Kundgebung gegen die Corona-Beschränkungen auf der Straße des 17. Juni. 20.000 Menschen sollen laut Polizei gekommen sein.
© Christoph Soeder/dpa

Torstraße, 13:45 Uhr. Auf einem Wagen steht ein Mann im Superman-Kostüm. „Warum ist alles verboten, was Spaß macht?”, ruft er. Die Corona-Verordnungen würden die Clubszene zerstören und jeder, der etwas dagegen habe, werde kriminalisiert. Neben ihm legt ein „Captain Future” Musik auf.

Der Mann mit Superhelden-Cape ist schon seit den ersten „Hygienedemos” im April dabei. Am Rand der Demonstrationsstrecke stehen Gegendemonstranten mit Mundschutz, sie halten meist Abstand. Wortgefechte. „Maske runter, Gesicht zeigen!“, rufen die einen. „Nazis raus!“, brüllen andere.

Gesundheitssenatorin bezeichnet die Corona-Protestler als „irre“

Die Polizei berichtet bis zum frühen Nachmittag von einem ruhigen Verlauf. Die beständigen Verstöße gegen die Hygieneauflagen werden mit Lautsprecheransagen beantwortet. Eine Teilnehmerin mit Hakenkreuztattoo und ihr Begleiter, der für ein antisemitisches Schriftstück wirbt, marschieren unbehelligt mit. Journalisten werden angespuckt und bedroht.

Demonstranten fordern am Samstag häufiger, Politiker abzusetzen, wegzusperren oder vor Gericht zu stellen. In diesem Fall, weil sie angeblich einer „gemeingefährlichen Sekte Zeugen Coronas“ angehörten.
Demonstranten fordern am Samstag häufiger, Politiker abzusetzen, wegzusperren oder vor Gericht zu stellen. In diesem Fall, weil sie angeblich einer „gemeingefährlichen Sekte Zeugen Coronas“ angehörten.
© John Macdougall/AFP

Sawsan Chebli (SPD), Berliner Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement, schreibt unter dem Eindruck der Videos von tausenden Protestlern auf Twitter: „Viele blicken nach Deutschland, bewundern uns dafür, wie wir mit Corona umgegangen sind. Solche Bilder sind eine Katastrophe. Sie zerstören alles.“ Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) bezeichnet die Corona-Proteste am Abend als „irre“ angesichts steigender Infektionszahlen weltweit.

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Erst kurz vor Ende des großen Demonstrationszuges hatte die Polizei genug. Um kurz vor 15 Uhr muss der Veranstalter beenden, ein Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen den Infektionsschutz läuft. Die anschließende Großdemonstration der Corona-Protestler findet trotzdem auf der Straße des 17. Juni statt – zumindest kurzzeitig.

Tausende stehen dort ohne Mundschutz und präsentierten sich als jubelnde Fanschar falscher Fakten: Von einer Bühne verkünden die Veranstalter eine ausgedachte Teilnehmerzahl von 1,3 Millionen Menschen, die selbst diverse Falschmeldungen im Internet bei weitem übersteigt, „Mainstreammedien“ werden verdammt, Polizisten zur Befehlsverweigerung aufgerufen, sollte geräumt werden. Merkel werde abtreten müssen, ruft ein Redner, wenn die Veranstaltung beendet würde. Staatsstreichstimmung.

Die Laune kippt endgültig, als ein Polizist gegen 17 Uhr das Ende der Demonstration wegen dauerhafter Verstöße gegen die Hygieneregeln verkündet. Minutenlange Buhrufe, die Stimmung wird aggressiv, Demonstranten skandieren „Widerstand!“, einige brechen zur eigentlich gesperrten Reichstagswiese durch.

Nach und nach treten dann aber doch die Meisten den Heimweg an. Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagt am Abend: „Wer glaubt nach Berlin kommen zu können, um hier die geltenden Regeln zu brechen, hat sich geirrt.“ Die Polizei habe auf Verstöße gegen die Demonstrationsauflagen „angemessen und professionell“ reagiert. Deshalb sei darauf hingewirkt worden, den Demonstrationszug zu beenden.

Ein harter Kern aus Hunderten meist Männern feiert dagegen recht ungestört von der Polizei in den Abend hinein. Taucht die Polizei auf, setzen sich die Demonstranten auf den Boden, rufen „Haut ab“.

Durch Parks und Straßen von Berlin-Mitte laufen versprengte Gruppen. Gegen 19 Uhr ruft ein Mann einer Gruppe behelmter Polizisten zu: „Ihr denkt, ihr werdet verschont von den Tribunalen? Werdet ihr nicht!“ Er steht auf der Straße des 17. Juni.

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