Streit bei Rot-Rot-Grün in Berlin: Warum die Debatte ums Kopftuch politische Sprengkraft besitzt
Mit dem Kopftuch ins Gericht – das will Justizsenator Behrendt Rechtsreferendarinnen erlauben. Worum es geht und warum die Debatte die Koalition spaltet.
Ein Jahr vor der Abgeordnetenhauswahl in Berlin gibt die einst so elanvoll gestartete rot-rot-grüne Koalition ein zerrüttetes Bild ab.
Bei den Themen Bildung, Verkehr, Wohnungsbau und Innere Sicherheit stehen die Koalitionäre nicht nur weit hinter den selbst gesteckten Zielen zurück. Vielmehr wird die Schwäche des einen zum Angriffsziel des anderen „Partners“. Eine Dreierkonstellation mit paritätisch verteilten Schwachpunkten bietet dafür die perfekte Szenerie.
Neueste Episode: Der Streit um die Befreiung angehender Staatsanwältinnen von dem durch das Berliner Neutralitätsgesetz geregelten Kopftuchverbot. Von einem „Koalitionskrach mit Ansage“ ist die Rede in den Reihen der SPD, die von Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) düpiert wurde.
Klar ist: Auch wenn die Ausnahme vom Verbot praktisch nur wenige Fälle tangiert, ist die symbolische Strahlkraft der Entscheidung sehr groß. Und mit ihr die Sprengkraft für die Koalition.
Was treibt Behrendt an?
Die Haltung des Senators zu der juristisch hoch komplexen Frage des Umgangs mit religiösen und weltanschaulichen Symbolen im Staatsdienst ist hinlänglich bekannt: Behrendt will das Kopftuchverbot in seinem Zuständigkeitsbereich am liebsten loswerden, um ein Zeichen für Multikulturalismus und gegen Diskriminierung zu setzen.
Gegenspieler in dem Punkt ist die SPD-geführte Bildungsverwaltung, die genau das in den Klassenräumen der Stadt in jedem Fall verhindern will. Darüber hinaus bringt der Senator die ihm gegenüber mehrheitlich kritisch eingestellten Richter und Richterinnen weiter gegen sich auf. Ein Spannungsverhältnis, das Behrendt zuletzt gleich mehrfach verschärfte.
Was regelt das umstrittene Neutralitätsgesetz?
Lehrkräfte sowie Beamtinnen und Beamte, die im Bereich der Rechtspflege, des Justizvollzugs oder der Polizei beschäftigt sind, dürfen im Dienst grundsätzlich keine religiösen oder weltanschaulichen Symbole zeigen oder auffällige Kleidungsstücke tragen. Das Gesetz behandelt alle Religionen gleich, trifft aber vor allem Muslimas mit Kopftüchern.
Wie kam es zu der Befreiung von Rechtsreferendaren von dem Verbot?
Bevor Juristinnen und Juristen Richter, Staats- oder Rechtsanwälte werden dürfen, müssen sie nach dem Studium den so genannten Vorbereitungsdienst, das Referendariat, durchlaufen, das mit dem zweiten Staatsexamen endet. Hier galt bisher, dass Referendarinnen mit Kopftuch zwar in Behörden Dienst tun, aber keine hoheitlichen Aufgaben mit Außenwirkung wahrnehmen durften. Das ändert sich jetzt – wenn ein Ausbilder mit dabei ist.
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Die Justizverwaltung erklärt dazu, es handele sich um eine gemeinsame Entscheidung des Justizprüfungsamts und des Kammergerichts, das für die Referendarausbildung verantwortlich ist. Allerdings ist bekannt, dass Justizsenator Behrendt die Entscheidung offen unterstützt.
Was hat der Beschluss mit dem jüngsten Urteil zu Kopftüchern im Schuldienst zu tun?
Formal wenig. In dem arbeitsrechtlichen Streit vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt ging es um die Entschädigungsforderung einer Lehramtsbewerberin nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) gegen die Berliner Schulverwaltung. Diesen Anspruch hat das BAG bestätigt. Das Urteil bindet die Schulverwaltung nur im entschiedenen Fall. Theoretisch kann es die Senatorin Sandra Scheeres (SPD) darauf ankommen lassen, erneut verklagt zu werden.
Welche politische Bedeutung hat das Urteil?
Eine erhebliche. Das BAG hat festgestellt, dass das Neutralitätsgesetz verfassungskonform ausgelegt werden muss. Lehrerinnen können demnach ein Kopftuch tragen, solange dies nicht den Schulfrieden konkret gefährdet. Soll heißen: Was dort im Berliner Gesetz bezüglich Neutralität im Schuldienst steht, gilt so nicht mehr.
Mit dieser Ansage muss die Schulverwaltung umgehen. Sie vollständig zu ignorieren, würde Scheeres' Behörde schlecht zu Gesicht stehen, weil nach dem Grundgesetz alle Behörden an Recht und Gesetz gebunden sind, also auch an letztinstanzliche Gerichtsentscheidungen. Möglich ist aber auch, dass die Verwaltung es noch mit weiteren juristischen Mitteln versucht, etwa einer so genannten Anhörungsrüge beim BAG, in der behauptet wird, das eigentlich der Europäische Gerichtshof über den Fall zu urteilen habe.
Und worauf stützt sich das Vorgehen der Justiz jetzt bei den Referendarinnen?
Auf das Neutralitätsgesetz, wie es schon immer galt. Denn es sieht eine Ausnahme vor für „Beamtinnen und Beamte im Vorbereitungsdienst und andere in der Ausbildung befindliche Personen“. Davon wurde in der Vergangenheit, soweit bekannt, kein Gebrauch gemacht.
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Referendarinnen haben sich mit Beginn des Vorbereitungsdiensts regelmäßig bereit erklären müssen, ihr Kopftuch bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben abzulegen. Solche Aufgaben sind aber ohnehin selten im Referendariat. Vermutlich hat man aus politischen Gründen nicht schon früher so entschieden. Es galt als Konsens, vom Neutralitätsgesetz keine Ausnahmen zuzulassen.
Gab es früher darum keine Konflikte?
Vor fünf Jahren machte eine Rechtsreferendarin publik, dass ihr gegenüber bei der Bewerbung für eine Ausbildungsstation im Neuköllner Bezirksamt wegen ihres Kopftuchs Vorbehalte geäußert wurden – vom Leiter des Rechtsamts. Das war schon damals eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung.
Statt es kritisch aufzuarbeiten, stellte das Bezirksamt die Referendarin mit einer Pressemitteilung an den öffentlichen Pranger. Die damalige Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) warf ihr „inakzeptables Verhalten“ vor. Der heutige CDU-Landesvize Falko Liecke, der sich auch in der aktuellen Debatte zu Wort gemeldet hat, sprach von einer „Polit-Show“.
Kann es künftig auch Staatsanwältinnen und Richterinnen mit Kopftuch geben?
Nicht mit dem Neutralitätsgesetz in seiner aktuellen Fassung. Es sieht nur die genannte Ausnahme für die Ausbildung vor. Der Landesgesetzgeber hat allerdings die Möglichkeit, die Justiz insgesamt für Frauen mit Kopftüchern zu öffnen.
[Kommentar: Staatsanwältinnen mit Kopftuch – könnte das nicht ein Fortschritt sein?]
Maßgeblich ist dafür ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Anfang des Jahres zu einem Fall aus Hessen. Darin wurde das im Land geltende gesetzliche Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen bestätigt, zugleich aber festgestellt, dass dies nicht zwingend ist. Auf Richterinnen und Staatsanwältinnen dürfte dies übertragbar sein.
Warum fühlt sich nun die SPD düpiert?
Dass Behrendt im Alleingang agiert und die Verantwortung dafür dem Kammergericht sowie dem Gemeinsamen Juristischen Prüfungsamt zuschreibt, nehmen ihm die Sozialdemokraten mehr als übel. „Bestimmte Aktionen rufen Gegenreaktionen hervor. Dirk Behrendt musste vorher klar sein, dass er mit diesem Schritt einen Koalitionskrach billigend in Kauf nimmt“, erklärt Sven Kohlmeier, rechtspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion in Abstimmung mit Partei- und Fraktionsführung. Behrendt habe die Koalitionspartner im Vorfeld der Rechtsausschusssitzung am Mittwoch nicht von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt, hieß es weiter.
Mit Blick auf einen Dringlichkeitsantrag der CDU, bei der bisherigen Praxis zu bleiben und die von Behrendt überraschend vorgestellte Änderung rückgängig zu machen, erklärte Kohlmeier: „Wir werden uns als Koalition darüber verständigen müssen, wie wir mit dem Antrag der CDU umgehen. Inhaltlich unterstützen wir das Anliegen, Linke und Grüne lehnen es ab. Muss jetzt die SPD gegen ihre eigene Überzeugung stimmen, nur um den Koalitionsfrieden zu retten?“
Droht der Koalition in Berlin der Bruch?
Während Linke und Grüne den Streit am Freitag herunterkochten und den Sozialdemokraten vorwarfen, allzu empfindlich zu reagieren, beharren diese auf ihrem Standpunkt. Tagesspiegel-Informationen zufolge kritisierte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) das Vorgehen seines Senatskollegen in einer Vorstandssitzung seiner Partei am Freitagmorgen „deutlich“. Dem Tagesspiegel-Newsletter „Checkpoint“ sagte ein sozialdemokratisches Senatsmitglied: „Der Justizsenator verstößt gegen geltendes Recht.“ Müller wiederum kündigte an, das Thema im nächsten Koalitionsausschuss besprechen zu wollen.
Dort könnten noch andere Themen auf die Agenda kommen. Bei den Grünen ist der Ärger über Innensenator Geisel groß, der erstens im Zuge der teilweise eskalierten Corona-Proteste vom vergangenen Wochenende keine besonders glücklich Figur machte und zweitens bei einem der Kernthemen der Grünen, der Verkehrssicherheit für Fußgänger und Radfahrer, aus deren Sicht zu wenig tut.
Hinzu kommt der ewige Streit um die Bildung und die personellen Auflösungserscheinungen im Senat. Mit Dilek Kalayci, Sandra Scheeres und Michael Müller haben bereits drei Mitglieder ihr Ausscheiden angekündigt. Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) hatte ihren Posten vor wenigen Wochen geräumt.
Wie geht es jetzt weiter für die Koalition?
Die näher rückende Abgeordnetenhauswahl dürfte die Atmosphäre innerhalb der Koalition angespannter werden lassen. Spätestens wenn gegen Jahresende auch die Grünen ihre Kandidatenfrage geklärt haben, dürfte der Wahlkampf anlaufen – untereinander und trotz der geplanten Fortsetzung des Bündnisses wohl auch gegeneinander.
Unerledigte Aufgaben der jeweiligen Partner dürften dann noch rücksichtsloser als ohnehin schon thematisiert werden. Der selbsternannten „Reformkoalition“ droht die Entzauberung von innen heraus.