Gewalt in Berlin: Vor fünf Jahren starb Jonny K. am Alexanderplatz
In der Nacht zum 14. Oktober 2012 wurde Jonny K. am Berliner Alexanderplatz zu Tode geprügelt. Seine Familie leidet bis heute unter dem Verlust – die Täter sind alle wieder in Freiheit.
Tina K. ist schwanger. 37. Woche, das ungeborene Kind drückt auf die Blase, alle paar Minuten muss sie aufs Klo. Keine schöne Vorstellung auf dem Alexanderplatz, dieser Stadt gewordenen Betonpiste, wo es immer zieht, wo keiner hin und jeder weg will. „Kein schöner Ort“, sagt sie, aber es geht nun mal nicht anders.
Tina posiert für ein paar Fotos, sie gibt dem RBB ein Interview, dann ist es Zeit für eine Begegnung mit der Vergangenheit. Von der Weltzeituhr Richtung Rotes Rathaus, immer am Bauzaun lang bis zu einer kleinen Linde. „Bitte hier keine Fahrräder abstellen“, steht auf einem Schild, und die meisten halten sich sogar daran.
Fünf schwere Jahre
Am Samstag, den 14. Oktober, ist es auf den Tag genau fünf Jahre her, dass Tinas Bruder auf dem Alexanderplatz sein Leben verlor. Jonny K., ein Zwanzigjähriger, von sechs Jugendlichen zu Tode geprügelt. Eine in den Boden eingelassene Gedenktafel erinnert an das, was hier passiert ist.
In der Mitte der Tafel wurde Jonnys Hand modelliert, Tina streichelt sie kurz und flüstert ein paar Worte. So wird sie es auch am Samstag halten, nachmittags um fünf bei einer Mahnwache zum fünften Todestag.
In der Nacht vom 13. zum 14. Oktober 2012 war Jonny K. mit Freunden auf dem Heimweg von einer Geburtstagsfeier. Er kannten keinen der sechs, die aus dem Nichts heraus einen Streit mit Kaze provozierten, dem Lebensgefährten seiner Schwester.
Jonny wollte schlichten. Ein paar Stunden später war er tot. Der Tag hat etwas verändert. Auf dem Alexanderplatz, in Berlin, ja in ganz Deutschland. Seit fünf Jahren diskutiert dieses Land in einem anderen Ton über Jugend-Kriminalität.
Dazu kommt, dass die sechs Täter über das verfügen, was die Politik verschämt einen Migrationshintergrund nennt. Ihre Eltern kommen aus der Türkei und aus Griechenland. Die Familien haben beim Prozess im Publikum gesessen und Tina angesehen, „als wenn ich schuld daran wäre, dass ihre Kinder in den Knast gehen müssen“.
Tina K. hat der Trauer, der ohnmächtigen Wut ein Gesicht gegeben. Sie ist in Talkshows gegangen, zu Anne Will und Maybrit Illner. Sie hat eine Stiftung ins Leben gerufen „I am Jonny“, alle paar Tage besucht sie Schulen und spricht zu Jungs, die nicht so werden sollen wie die sechs, die ihren Bruder in den Tod geprügelt haben.
Gespräche gegen das Vergessen und gegen die Gewalt
Zum Gespräch lädt Tina K. in ihre Wohnung nach Zehlendorf. Vor ein paar Wochen hat sie ihren 33. Geburtstag gefeiert, eine junge Frau mit rundem, ewig freundlichem Gesicht, es fällt ihr schwer, einen Gast nicht zu umarmen. Das Wohnzimmer wird dominiert von Erinnerungen an den Bruder. Die eine Wand mit Erinnerungsfotos, sie zeigen die Geschwister in allen Altersstufen.
Daneben ein Porträt von Jonny, gemalt von dem Freund, der damals zu der Geburtstagsparty am Alexanderplatz geladen hatte. Es dominieren Blau und Schwarz. Dunkle Farben, und doch strahlt das Bild eine ganze eigene Wärme aus „Schön, nicht wahr?“, sagt Tina. „So habe ich ihn Erinnerung.“
Hat sie manchmal Angst, den Tätern zu begegnen, ganz zufällig auf der Straße? „Eigentlich nicht. Ich fürchte mich eher, dass ich sie gar nicht mehr erkennen würde“, es sind schließlich ein paar Jahre vergangen. „Stellen Sie sich mal vor, ich nehme ein Taxi, einer von denen sitzt hinterm Steuer und wir unterhalten uns ganz unbefangen.“ Keiner der sechs sitzt mehr im Gefängnis, keiner hat sich je zu seiner Schuld bekannt.
Tina K. hat auch Vorträge im Wedding gehalten, wo ein paar der Täter zu Hause sind. Es ist dabei verstörende Begegnungen gekommen, mit Schülern, die ihr erzählt haben, „dass die Jungs immer noch stolz auf das sind, was sie uns angetan haben“.
Neues Leben
Nichts ist mehr, wie es einmal war in Familie K. Die Mutter, eine gebürtige Thai, hat sich in einen Tempel zurückgezogen. Der Vater ist nach zwei Schlaganfällen und einem Herzinfarkt auf einen Rollstuhl angewiesen. Die jüngere Schwester leidet still. „Sie will das alles nicht wahrhaben und war bis heute kein einziges Mal am Grab“, sagt Tina.
Ihre Beziehung zu Kaze hat nicht gehalten. „Er gibt sich bis heute eine Mitschuld an Jonnys Tod“, sagt sie. Vor zwei Jahren haben sie sich getrennt, „aber Kaze ist bis heute mein bester Freund“. Wenn Tinas Vater von Zehlendorf nach Spandau chauffiert werden muss, dann übernimmt er diesen Job, den die hochschwangere Tina nicht mehr übernehmen kann.
37. Woche, es wird ein Junge. Tina sagt, nach dem Tod ihres Bruders sei für sie völlig klar gewesen, dass ihr Sohn nur Jonny heißen könne. Als Buddhistin glaubt sie an die Wiedergeburt, dann kam die Schwangerschaft und sie hat sich gefragt: „Kommt mein Bruder jetzt schon zurück? Bin ich dafür schon bereit?“
Tina hat entschieden, den Sohn nicht zu stark mit der Vergangenheit zu belasten. Es sei denn, er kommt an einem ganz besonderen Tag zur Welt. Am heutigen Samstag, genau fünf Jahre nach dem Tod des Bruders. „Dann muss er einfach Jonny heißen!“