Barbiere in Neukölln: Von Messern und Männern
Kanake bleibt Kanake. Damit hat sich der Neuköllner Frisör Araz Brefky abgefunden. Hussein Seif hat seinen Laden nebenan – aber in einer ganz anderen Welt.
Hussein Seif weiß noch ziemlich genau, wann es losging, wann die Dinge in Bewegung kamen, draußen vor seinem Frisörsalon, und bald dann auch drinnen, im Laden, in seinem Kopf. Neue Gesichter tauchten vor seinem Fenster auf, junge, hippe, anfangs bloß ein paar, die auffielen, dann immer mehr. Irgendwann dachte er: Okay, da mache ich mit.
Das war vor genau fünf Jahren. Damals begann sie, seine Verwandlung.
Vorher war Hussein Seif ein typischer orientalischer Herrenfrisör, wie es ihn in Berlin hundertfach gibt, in Neukölln, in Kreuzberg, in Wedding und anderswo. Kein Schnickschnack, schnelle, günstige Schnitte und Rasuren. Seine Kundschaft war fast ausschließlich türkisch- und arabischstämmig, der Trockenschnitt kostete zehn Euro.
Heute hat Hussein Seif einen Werbedeal mit Panasonic, er tritt bei der Internationalen Funkausstellung auf, beschäftigt einen eigenen PR-Berater. Zur Arbeit trägt er ein weißes Hemd, Anzughose mit Hosenträgern und schwarze Lackschuhe. Sein Salon steht voll mit alten Vitrinen und Vintage-Möbeln, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos hängen an der Wand, auf einigen ist er selbst zu sehen. Auf einem zusammen mit Matt Damon. Seine Kunden warten auf geknöpften Ledersofas. Bart und Haare kosten bei ihm jetzt zusammen 50 Euro.
„Old School Barber“, steht draußen über der Tür. „Gentleman-Schiene“, sagt Hussein Seif. Er sitzt schräg auf einem seiner Frisiersessel, eine braune Cohiba paffend, eine dieser dicken Zigarren, die stets auch Statement sind.
Haarschnitt für zehn Euro: Ein Blick in die Vergangenheit
Noch immer heißt der Salon „Kücük Istanbul“, Klein Istanbul. Seif, 45 Jahre alt, betreibt ihn mit seinem sechs Jahre jüngeren Bruder Raed, auch das ist noch so wie früher. Genau wie die Adresse: Flughafenstraße 15, im Schatten der mächtigen Neukölln Arcaden, dem Einkaufszentrum.
Seifs Geschichte ist die einer kompromisslosen Neuausrichtung. Eine, die auch von den Umwälzungen draußen vor der Ladentür erzählen kann, von Veränderungen, die diesen Ort erfasst haben, den Neuköllner Norden vielleicht noch schneller und tiefgreifender als andere Gegenden Berlins.
400 Meter den Hügel rauf, kurz vor der Hermannstraße, in der Flughafenstraße 52, liegt der Herrenfrisör „Orient Style“, in dem Araz Brefky frisiert, wo es den Haarschnitt immer noch für zehn Euro gibt. Man kann hier gewissermaßen in die Vergangenheit gucken, die auch Hussein Seifs Vergangenheit ist. Es ist genau so ein Salon, wie er ihn früher betrieben hat.
Zwei Welten in unmittelbarer Nähe, hier das Neue, dort das Alte.
Zwei Enden einer Stadt, die in diesem Fall sogar den gleichen Ursprung haben. Zwei Frisöre, die jeden Tag hierherkommen, um ihren Job zu machen. Zwei Menschen, die fern von hier geboren wurden. Beide haben fast gleichzeitig ihren Weg nach Berlin gefunden, vor gut 20 Jahren. Sie sind Kollegen und quasi Nachbarn, das selbe Handwerk, die selbe Straße, sie wissen voneinander und doch haben sie sich nie getroffen, den Salon des jeweils anderen nie betreten.
Beim Barber
BEIM BARBER
Über dem großen gezackten Spiegel in Hussein Seifs Barber Shop hängen lederbespannte Holzrahmen, die verschiedene Bartstile präsentieren. Seif hat sie selbst gebaut, sagt er, mit Material aus dem Baumarkt. Hat lange gedauert, war mühsam. Ein ruhiger Mittwochmorgen. „Vor fünf Jahren“, sagt Seif und nimmt einen Zug von seiner Zigarre, „habe ich vielleicht einmal im Jahr Englisch gesprochen. Jetzt rede ich mehr Englisch als Deutsch.“
Hussein Seif zeigt die Broschüre, in der Panasonic mit ihm für Rasierapparate und Trimmer wirbt. Holt eine Visitenkarte hervor, auf der ein gelber amerikanischer Schulbus zu sehen ist. Seif will den Bus umbauen, mit allem Pipapo, Frisierplätzen, Bar, Zigarrenverkauf. Er habe schon Sponsoren an Bord. Der Bus soll auf Festivals stehen, für Events gemietet werden können. „Ist weltweit einmalig“, sagt Seif.
"Ich habe Pläne", sagt er und streicht sich über den Bart
Barber-Busse gibt es zwar schon, aber er liebt es, sich zu präsentieren. Bald will er auch mit dem Klunkerkranich kooperieren, der Dachbar auf dem Einkaufszentrum gegenüber, einem dieser Hotspots des neuen Berlin, wo sich sommerabends stundenlange Schlangen bilden, weil jeder dabei sein will, den Blick haben will über die ganze, weite Stadt. Seif möchte einen seiner Frisörsessel da hochschleppen lassen und dann die Leute unter freiem Himmel frisieren, rasieren, epilieren, „zum Afterwork“.
„Ich habe Pläne“, sagt der Barbier und streicht sich über den Bart. „Manchmal große Pläne.“ Es klingt stolz, wie er das sagt, aber auch ein bisschen ehrfürchtig. Als habe er Respekt vor den eigenen Träumen.
Den Bart, dicht und schwarz, hat er sich vor zwei Jahren wachsen lassen, auf manchen Fotos an der Wand sieht man ihn noch glattrasiert. Eine kleine Ewigkeit liegt dazwischen. Wenn man es nicht wüsste, man würde ihn fast nicht erkennen.
Hussein Seif ist jetzt Teil des globalen Labels Berlin, er lässt sich mitreißen von diesem Strom, der die Stadt erfasst hat, scheint darin aufzugehen. Auch sein Bruder und seine Angestellten tragen weiße Hemden und schwarze Anzugshosen. Sie nehmen sich Zeit. Für Haare und Bart blocken sie im Terminkalender eine Stunde. Während Seif redet, schneidet sein albanischer Mitarbeiter einem jungen Schnurrbartträger hinten im Salon die Haare. Später wird jemand kommen, um sich die Ohrenhaare wegbrennen zu lassen. Machen sie alles, immer noch, mit dem Faden oder der Maschine oder mit heißem Wachs. Das Kerngeschäft ist das gleiche geblieben, das Handwerk.
Wenn Hussein Seif über die alte Zeit redet, die Zehn-Euro-Zeit, einmal alles für kaum Geld, dann immer vorausgesetzt, dass es jetzt und heute besser ist als damals. Ein voller Laden und abends trotzdem schlechte Laune. So beschreibt er das Früher.
Seit der Herrenfrisör zum Barber Shop wurde, hat sich seine Kundschaft einmal komplett ausgetauscht. Waren es früher, als er neben diesem Laden auch Filialen in Kreuzberg hatte, Wiener Straße, Oranienstraße, Adalbertstraße, noch 90 Prozent Türken und Araber, schätzt Seif heute den gleichen Anteil aus der westlichen Welt: „Europäer, Kanadier, Amerikaner, so was.“
Von den alten Stammkunden sei kein einziger geblieben. „Das hat sich aussortiert, ganz von selbst“, sagt Seif, der nach und nach den Haarschnitt von zehn auf 15, dann 17 und schließlich 25 Euro erhöht hat. „Ist besser so“, sagt er, „glaub mir.“
Ähnlich extrem sind hier im Kiez in den vergangenen Jahren auch die Mieten gestiegen. Von 4,74 Euro im Jahr 2007 auf zuletzt über zehn Euro pro Quadratmeter.
Hussein Seif selbst wohnt nach wie vor in Neukölln, wie immer, seit seinem ersten Tag in Deutschland. Da war er 24. Ein bisschen weiter südlich an der Grenzallee, eine ruhige Wohngegend, mit seiner Frau und den Zwillingssöhnen. „Hier könnte ich nicht leben“, sagt er und deutet nach draußen. Zu viel Action, zu viel Lärm. „Andere brauchen das“, sagt er, „den Lifestyle, die Lebendigkeit.“
„Die Türken und Araber die verstehen mich nicht"
Genau das hat er genutzt, um aus seinem Frisörgeschäft ein Business zu machen. Ein neues Leben im alten. Nur ab und zu gibt es noch Anknüpfungspunkte. „Merhaba“, sagt ein junger Mann, der den Laden betritt. „Wie immer?“, fragt Hussein Seif. Dann rasiert er dem Kunden schweigend den Nacken aus. Später fragt er ihn: „Bilal, wie bist du auf uns gestoßen?“ - „Ich hab' doch früher hier gewohnt.“ Nicken.
„Die Türken und Araber“, sagt Hussein Seif etwas später, „die verstehen mich nicht. Das ist eine andere Kultur.“ Ein Satz, der zunächst seltsam klingt aus dem Mund eines gebürtigen Arabers aus Jerusalem, der einen Salon mit türkischem Namen führt. Als er damals angefangen habe, sich alte Möbel in den Salon zu stellen, erzählt Hussein Seif, die mächtige National-Registrierkasse aus der Jahrhundertwendezeit zum Beispiel, da hätten ihn die meisten Kunden nur komisch angeguckt. Was kaufst du da, hätten sie ihn gefragt, bist du ein Trödelladen? Nein, du bist ein Frisör!
Hussein Seif dreht sich um und deutet auf einen der drei schweren Frisierstühle, die im vorderen Raum seines Salons stehen. „Der ist aus London“, sagt er, „2500 Euro.“ Er legt eine kurze Bedeutungspause ein. Zug von der Zigarre. „Ein Araber würde für 800 Euro einen made in China bestellen, den Kunden drauf setzen, für zehn Euro die Haare schneiden, Geld in die Tasche, tschüss.“
Jetzt kommen die Leute aus der ganzen Stadt
Er habe von den Deutschen viel gelernt, sagt er. „Investieren, Werbung, das ist alles sehr wichtig.“ Es sei eben wie draußen, im Kiez, in der Flughafenstraße: Manche hätten mitgemacht bei den Veränderungen, andere bis heute nicht mitbekommen, dass sich ihre Straße gewandelt hat.
Vielleicht sind die einen bloß bei sich geblieben, während die anderen ganz woandershin wollen? Sind Seif in 20 Jahren Deutschland die eigenen Landsleute fremd geworden?
Früher war die Nachbarschaft zu Gast in seinen Salons, ein ständiges Kommen und Gehen, laute Diskussionen, manchmal Schreierei, so beschreibt er es. Hussein Seif schüttelt den Kopf. „Gut, dass das vorbei ist.“ Jetzt kommen die Leute aus der ganzen Stadt, manchmal sogar von außerhalb. Seif ist ein gefragter Mann, weit über Neukölln hinaus. Er war in Mailand, in Warschau. Für das Werbeshooting setzten die Produzenten ihn in ein Studio in Hamburg, komplett durchdesignt. Ein Fake-Salon.
Und diejenigen, die keine 25 Euro für einen Haarschnitt ausgeben wollen oder können, die gehen jetzt eben woandershin. Es ist, wie so oft im Kiez, eine Frage von Ansprüchen und Möglichkeiten. Vom Selbstbild auch.
Die Straße
DIE STRASSE
Die Flughafenstraße ist, speziell an ihrem unteren Ende, ein wahrhaft atemloses Stück Stadt. Immer in Herzanfall-Stimmung. Ständig meint man, dass gleich irgendwas passiert, ganz grundsätzlich kippt, aber dann geht, wie durch ein Wunder, doch noch mal alles gut.
Draußen vor dem Laden ist es jetzt windig. Kühl. Es nieselt. Autos brausen vorbei: Das ewige Dröhnen. Gewühl.
Nicht weit von Hussein Seifs Barber Shop schert auf dem Weg den Berg runter ein junger Typ, Mitte 20 vielleicht, mit seinem minimal ausgestatteten Fahrrad mit winzigem Lenker in vollem Schwung nach links aus, ohne Armzeichen, ohne alles. Der Handwerker in seinem Kastenwagen hinter ihm, der gerade überholen wollte, geht voll in die Eisen, ein Quietschen, ein Fluchen, eine halblaute Entschuldigung. Der Radfahrer ist schon drüben auf dem Gehweg, der Autofahrer fährt wieder an und ruft dem übermütigen Hipsterchen noch durchs offene Autofenster hinterher, lässig, fast freundlich, jedenfalls ohne Zorn: „Na, guck dich doch beim nächsten Mal vielleicht einfach um!“ Und schon ist wieder jeder seines Weges.
Es war ja nie eine noble Gegend, im Gegenteil
In diesem ungleichen Nebeneinander, das einfach nicht schiefgehen will. Neben Kiosken und Wettbüros, wirkt der Barber Shop mit seinen beiden sich drehenden Barber-Poles, Erkennungszeichen der Zunft, diesen senkrechten blau-weiß-roten Walzen, der schicken Einrichtung und den beiden schweren roten Kordeln vor dem Eingang wie ein Luxushotel, irgendwie seltsam, fremd.
Es war ja nie eine noble Gegend, im Gegenteil. Das Quartiersmanagement versucht, seit seiner Gründung vor zwölf Jahren, die sozialen und kulturellen Probleme in den Griff zu bekommen, den Drogenhandel am Boddinplatz und oben an der Hasenheide, den Vandalismus, die Raubüberfälle, die Perspektivlosigkeit der vielen Jugendlichen. Es sitzt nur ein paar Meter die Querstraße runter, auf halbem Weg zum Käpt'n-Blaubär-Spielplatz, der niedlich klingt, im Herbst 2014 aber wegen eskalierender Jugendgewalt in die Schlagzeilen geriet.
Ebenso wie ein Vierteljahr später die Helene-Nathan-Bibliothek nebenan in den Arcaden, die Wachschutz bekam, weil es anders nicht ging. Es gibt hier im Viertel viele junge Leute, und die haben oft wenig Sinnvolles zu tun.
Die Flughafenstraße mit ihren engen Gehwegen und zwei einspurigen Fahrbahnen, wirkt wie ein ewiger Beschleuniger, eine einzige große Kugelbahn, die in beide Richtungen funktioniert. Die einen jagen mit jaulendem Motor die Steigung hoch Richtung Hermannstraße, die anderen lassen in die Gegenrichtung laufen bis zur ständig verstopften Einmündung zur Karl-Marx-Straße.
Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - ist die Gegend in den letzten zehn Jahren zu einem Hipness-Magneten geworden. Wo früher die Alteingesessenen eher unter sich blieben, wo Leerstand herrschte und mancherorts Verwahrlosung, da wuchs die Anwohnerzahl allein zwischen 2006 und 2015 um 15 Prozent. Es sind die jungen, gut ausgebildeten Leute aus aller Welt, die es hierher gezogen hat. Auf der Suche nach billigem Wohnraum und den seltener werdenen Brachen der Stadt, die sie füllen konnten mit ihren Ideen. Einer Nische am Rand der Innenstadt.
Und dann sind da die, die seit 20, 30, 40 Jahren hier sind. Den „ambitionierten Migranten“, denjenigen mit „sehr progressiver, moderner Grundhaltung“, zu denen laut Statistik des Bundesverbands für Wohnen und Stadtentwicklung rings um die Flughafenstraße 35,5 Prozent zählen, stehen knapp 50 Prozent gegenüber, die „kulturell eher distanziert“ sind, wie es im Soziologendeutsch heißt. Die Folgen sind: fehlende Bildung und Probleme auf dem Arbeitsmarkt, teils Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft, teils starke Hinwendung zur Herkunftskultur.
Das Migrantenviertel ist plötzlich Milieuschutzgebiet. Spekulationsobjekt.
Avocado-Toast und Eggs Benedict, Frühstück mit Kaffee für knapp zehn Euro
Der Weg in Hussein Seifs Vergangenheit, die Straße hoch zum „Orient Style“, wo Araz Brefky im Akkord frisiert, führt vorbei an Spätis und Imbissen, an Trödelläden, türkischen Männercafés und Wettbüros. Und diesen neuen Orten der Straße, den „alternativen Konzepten“, wie Hussein Seif sie nennt. Dazu gehört das „Papilles“, ein Café-Restaurant französischer Herkunft, Avocado-Toast und Eggs Benedict, Frühstück mit Kaffee für knapp zehn Euro. Oder das „Trude Ruth und Goldammer“, Logo: ein knallgelber Vogel mit Hipsterhütchen schräg auf dem Köpfchen, eine Junge-Leute-Bar, die mit Drinks, Tischtennis-Rundlauf und Tatort-TV wirbt und auf der Karte alles hat, was die Klientel gerne trinkt, von Flaschen-Sterni bis Club Mate und Wodka-Apfelsaft. Oder die in einem Hinterhof versteckte „Lavanderia Vecchia“, der alte Waschsalon, jetzt: Trattoria mit „ländlicher Küche, Weinen und Öl aus dem Land der Sabiner“, Mehr-Gänge-Menüs, Reservierung erforderlich.
Und er führt vorbei an der mittlerweile geschlossenen Bäckerei zwischen Reuterstraße und Mainzer Straße. Anfang 2013 wurden hier am hellichten Tag zwei Frauen erschossen. Eine Beziehungstat, der Täter, Ex-Freund der Verkäuferin, wurde noch vor dem Laden von einer zufällig vorbeikommenden Polizeistreife festgenommen und bekam lebenslang.
Das Menü Flughafenstraße? Einmal alles, bitte.
Zum Hierbleiben oder To-Go?
Beim Orient-Frisör
BEIM ORIENT-FRISÖR
„Ja, hier sind Geschichten am Start, die glaubt man nicht“, sagt Araz Brefky und setzt den Rasierer ab, sieht kurz von dem Fassonschnitt auf, den er gerade in Arbeit hat. „Wenn du Skandale willst“, sagt er, mit einem kleinen bisschen Ghettostolz, „dann kommst du nach Neukölln.“ Bei all den Kunden jeden Tag kennt jeder immer jemanden, der irgendwo dabei war, oder zumindest so tut. Beim Überfall auf den Apple-Store, beim Klau der riesigen Goldmünze auf der Museumsinsel.
Am Morgen der Schießerei, flatterte im Wind das Absperrband der Polizei, als er zur Arbeit kam.
Der „Orient Style“ Herrenfrisör liegt direkt an der mächtigen Kreuzung Flughafenstraße/Hermannstraße, gegenüber vom Bungalow des Café Aleppo und der rauen Brandwand mit dem schwarzen Graffiti, das nach unten ausgewaschen ist wie tränenzerlaufene Wimperntusche. Einmal die Straße hoch von Hussein Seifs Barber Shop aus.
Den kennen sie hier, klar, so was spricht sich herum, die neue Ausrichtung, der Werbedeal. Handwerklich seien die Barber sehr gut, sagt Araz Brefky, habe er jedenfalls gehört. So wie auch Hussein Seif den anderen Salon kennt und ebenfalls kein schlechtes Wort verlieren will. „Der hat natürlich auch seine Berechtigung“, sagt er, zuckt dann die Schultern, schweigt. Hier wie da wissen sie, sie kommen sich nicht ins Gehege, spielen nicht in der gleichen Liga, nicht mehr.
Es ist ein Samstagvormittag im „Orient Style“, der Laden brummt: Man hört die Geräusche von elektrischen Rasierern. Popmusik kommt aus den winzigen Lautsprechern unter der Decke. Rechts vom Eingang sitzt ein halbes Dutzend Männer auf zerschlissenen Kunstledersesseln und wartet. Fünf Frisöre sind an der Arbeit. Sie laufen um ihre Kunden herum, schauen von links, von rechts, prüfen im Spiegel. Die Angestellten tragen T-Shirt, dunkle Jeans und Turnschuhe. Alle paar Sekunden fliegen ein paar Worte durch den Salon, manchmal auf Deutsch, oft nicht. Die Luft ist trotz offener Tür warm vom Fönen, es riecht nach Shampoo und Haarwachs. Araz Brefky lässt seinen Kunden den ausrasierten Nacken im Handspiegel begutachten. Noch waschen? Okay.
Klar könne man was über den Laden schreiben, hat Brefky bei der ersten Begegnung gesagt. Aber bitte nur mit Hinweis, dass das ein kurdischer Frisör sei. Der RBB habe hier mal gedreht und die Bilder am Ende mit Bushido-Rap unterlegt. Das war ihm dann doch zu viel Klischee. Die Neukölln-Labels: heimlich und unheimlich, das große Gangsterding.
Den „besten Boxerschnitt“, heißt es im Netz, könne man im „Orient Style“ bekommen. Also: rundherum komplett ausrasiert und dann, mit klarer Kante, oben ein Töpfchen Haare drauflassen. So wie früher eben auch der Rapper Bushido herumlief. So, wie es jahrelang auch in den Läden der Brüder Seif alle wollten. Ein Haarschnitt als Kampfansage.
Zeiten ändern sich. „Die Kunden wollen jetzt wieder fließende Übergänge und oben länger“, sagt Brefky. Bedeutet für ihn schlicht und ergreifend: „mehr Fummelarbeit“. Da müssen er und die Kollegen jetzt also ein bisschen schneller arbeiten, damit es sich lohnt. 15, maximal 20 Minuten bräuchten sie für einen normalen Schnitt, sagt er. Und das für zehn Euro trocken, zwölf mit Waschen, sieben bis acht Euro der Bart, je nachdem, wie viel zu machen ist.
Der Plasmafernseher überträgt stumm N24
Termine werden gar keine vergeben. First come, first serve, so kann sich keiner beschweren.
Größeres Dekor gibt es nicht, bis auf den Schriftzug „Orient Style“ in goldenen Großbuchstaben über den Spiegeln und dem Plasmafernseher über dem Kassentisch, der stumm den Nachrichtensender N24 überträgt. Für die zusammengefegten Haare haben sie in der Mitte des Raums ein kleines Loch in den Boden geschlagen, komplett durch Fliesen und alles bis ins Kellergeschoss. Wenn es nicht gebraucht wird, steht ein Jackenständer darüber.
Es herrscht die Pragmatik einer leicht chaotischen Jungs-WG. Für Schnickschnack scheint schlicht kein Raum bei 9,99 Euro für den Trockenschnitt - so steht es in schräg angebrachten Lettern lockend am Schaufenster.
Im Frisiersessel sitzt nun Felix, gebürtiger Westfale, der im August mit seiner Freundin nach einem Jahr in der Reuterstraße schon wieder aus Neukölln weggezogen ist. „War uns zu trubelig“, sagt er. Ein Satz, der vor ein paar Jahren noch Kopfschütteln, vielleicht Gelächter ausgelöst hätte. Heute erntet er verständnisvolles Nicken.
Deutschstämmige Kunden gibt es auch, aber sie sind deutlich in der Minderheit. „Wenn hier die echten Deutschen in den Laden gucken und sehen einen Haufen Schwarzköppe...“, sagt Araz Brefky und lässt den Satz unvollendet. Lacht. Brefky, der kurdischstämmige Deutsche, kann viele Geschichten erzählen von Zurückweisung und Missachtung. Wie er in die schicke Bar am Zoo nicht reinkam, obwohl es vorher hieß, er brauche nicht zu reservieren. Ein Blick durch die Klappe hatte den Türstehern genügt. Wie er ein anderes Mal mit einer Gruppe Freunde am Tresen eines Restaurants versauerte. Sorry, kein Tisch frei für euch. Geschichten aus der Stadt, aus dem Alltag, die ihm über die Jahre eingehämmert haben: Er wird nie ganz dazugehören. Er drückt das tatsächlich so hart aus. „Ein Deutscher mit Bart“, sagt Araz Brefky, „ist ein cooler Holzfäller. Ein Kanake mit Bart ist immer noch ein Kanake.“
Es kämen auch Kunden zu ihm, die explizit ein neues Image wollen, wie ein Italiener aussehen oder wie ein Deutscher. Den Klischees entkommen.
Er hat sich of als Vagabund gefühlt
Auch Brefky selber trägt einen Vollbart, bis vor Kurzem länger, jetzt kurz gestutzt, aus den beiden simpelsten Gründen, die man sich vorstellen kann, wie er erklärt: aus Bequemlichkeit und weil es eben ganz gut aussieht. Sein Bart sei kein Statement.
Mit fünf Jahren ist Araz Brefky nach Deutschland gekommen, 1994, ein Kind kurdischer Eltern aus dem Irak, seine Familie und die seines Chefs kennen sich noch aus der alten Heimat. Nach der Tour durch verschiedene Flüchtlingsheime bekamen sie eine erste Wohnung, im Osten, in Friedrichshain. Er, sein Bruder und ein Kumpel waren die einzigen Ausländerkinder in der Klasse. Er war viel unterwegs in Kreuzberg, Neukölln, aber gewohnt hat er hier nie. Er lebt seit zehn Jahren in Lichtenberg. Mittlerweile sind die Wohnungen dort günstiger.
„Früher wollte keiner hier wohnen“, wirft ein Stammkunde ein. „Heute musst du für eine Vierzimmerwohnung schon einsvier, einsfünf hinlegen. Und wer ist schuld? Die Studenten.“ - „Hast du ein Problem damit?“, ruft Brefky, gespielt zornig, „ich bin auch Student!“ - „Was, Student?“ - „Ich hab Straßen-Abi!“
Immer geht es auch darum, sich nicht unterkriegen zu lassen. Zu zeigen: ich bin da.
Als „Vagabund“ habe er sich oft gefühlt, so beschreibt er seine Kindheit und Jugend im Osten Berlins, als Wandler zwischen den Stadtteilen, den Kulturen. Ein Mensch, der wie alle irgendwo dazugehören wollte. Irgendwann sei er angekommen. „Der Moment, wenn du dich damit abgefunden hast: Okay, ich bin Kanake, ist doch egal.“
In diesem Herbst wäre er gerne wieder in den Irak gereist, in die Heimat, wie er sagt, wenn die politische Situation im Grenzland Türkei eine andere wäre. Als ihm einer der Kunden spaßeshalber mit der flachen Hand in den Nacken klatscht, zieht er die Schultern hoch, macht ein saures Gesicht. „Lass das!“, zischt er. „Ich hasse das!“
Das sei eigentlich ein riesiger Jugendclub, erklärt er später, nun grinsend, als ein Stammkunde über die Couch im Pausenraum klettert, um Nachschub an Haarprodukten aus dem Regal dahinter zu holen. „Manchmal nervt das auch.“
Heimat
HEIMAT
Hussein Seif steht in seinem Barber Shop über einen Kunden gebeugt, das Ende eines Bindfadens zwischen den Fingern, beide Hände zum Trapez gestreckt. Ein paar schnelle, gekonnte Bewegungen, zackzack, und fertig. Der Kunde blinzelt, die Haut um die Augenbrauen ist gerötet und haarfrei.
Die Techniken hat Hussein Seif in Jerusalem gelernt, wo er aufgewachsen ist. Als Junge schon schickte ihn sein Vater in den Ferien zum Stammbarbier der Familie. Die ist heute in alle Welt verstreut. Der Vater lebt in den USA wie auch eine Schwester, andere in Jordanien. Er selber hatte eigentlich ein Flugticket nach Holland, aber beim Transit in Frankfurt überlegte Hussein Seif es es sich anders, eine intuitive Entscheidung. Er setzte sich in den Zug nach Berlin, ließ sich mit einer Sondergenehmigung sein Handwerk bescheinigen, übernahm seinen ersten türkischen Frisörsalon in der Wiener Straße in Kreuzberg. Er hieß „Kücük Istanbul“. Wie der heutige.
In der alten Heimat war er lange nicht mehr. Acht Jahre, sagt er. Er habe viel zu tun. Es bedrückt ihn, dass sich nichts gebessert hat, da, wo er herkommt. „Es wird sich nie ändern“, sagt er.
Über Religion und Politik spricht Seif mit seinen Kunden nie. Nicht mal privat mache er das gerne. Er schaue auch keine Nachrichten, die machten ihn nur depressiv. „Es reicht“, sagt Hussein Seif mit matter Stimme, und dann, nach kurzer Pause noch mal: „Es reicht.“ Zum ersten Mal wirkt er, der Macher, erschöpft. Er schließt kurz die Augen. „Ich bin ein normaler Mensch.“
Einer, der einfach weiter erfolgreich sein will mit seiner Idee, seinem Konzept, der Gentleman-Schiene. Ein gutes Leben für seine Kinder, ein guter Vater sein. An einem Morgen verlässt er den Salon und fährt mit seiner Frau in die Schule der Söhne zum Elterngespräch. „Ist wichtig“, sagt er.
Sonst ist er immer, wenn es geht, im Salon, sechs Tage die Woche, neun Stunden am Tag. „Von nix kommt nix“, sagt er. Ein sehr deutscher Satz. Oft sieht man ihn auf dem Gehweg vor dem Laden stehen, die Zigarre in der Hand, das iPhone am Ohr. Da ist immer das nächste Projekt. Der Schulbus. Vielleicht ein, zwei weitere Filialen. Hussein Seif sucht schon nach neuen Standorten, er will expandieren, dorthin, wo seine neue Kundschaft sitzt. „Friedrichshain, Mitte, Charlottenburg“, das sind so die Ideen. Aber den Salon in der Flughafenstraße will er nicht aufgeben, den Ort, wo sein neues Leben den Anfang nahm, seine Verwandlung.
„Neukölln ist meine Stadt“, sagt Hussein Seif, „ich kenne nur Neukölln.“ Seine Anmeldung hat er damals im Rathaus Neukölln gemacht. „Hier habe ich meine Existenz aufgebaut, meine Kinder sind hier zur Welt gekommen, ich habe hier geheiratet. In Neukölln war ich glücklich.“
Er will Ruhe, für sich, die Familie
Es war nie die beste Gegend, aber es war seine. Wegziehen würde er nur mit seiner Familie, wenn es an der Grenzallee irgendwann genau so laut und hektisch wie hier werden sollte. Er will Ruhe, für sich, die Familie. Irgendwann, in ein paar Jahren, will auch Araz Brefky seinen eigenen Salon aufmachen. Vielleicht am Ende sogar mehrere betreiben, wenn es machbar ist. Sein Traum wäre, in verschiedene Berliner Bezirke zu gehen mit diesen Läden, in den Osten und den Westen, an den Rand und in die Mitte. „Überall ein komplett anderer Schlag Menschen“, sagt er. Das ist ja das, was ihn interessiert an seinem Beruf. Die Menschen, die durch die Tür kommen, jeder mit einer neuen, eigenen Geschichte.