Obdachlose erzählen ihre Geschichten: „Verlust ist mein Lebenselixier“
Es ist leicht wegzuschauen, ein Berliner Zeichner und Autor hat hingeschaut – und Berliner Wohnungslosen zugehört. Sechs Protokolle gegen die Achtlosigkeit.
Sebastian Lörscher, Jahrgang 1985, ist Zeichner und Autor. Vier Monate recherchierte er dort, wo Wohnungslose Schutz suchen: am U-Bahnhof Lichtenberg, im Wärmezelt an der Frankfurter Allee. Diese Menschen hat er getroffen:
Wilfried
„Verlust ist mein Lebenselixier. Gestern hat man mir mein Handy geklaut, beim Schlafen aus der Hand heraus. Dafür hab ich heute einen Tennisball gefunden. Was war ich froh! Was man mit einem Tennisball alles machen kann! Und vor allem: was man darin alles sehen kann. Das Gesicht von Ronald Reagan, die Krallen eines Habichts, das Zepter Ludwigs des XVI ...
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Zu Ostzeiten war ich Bildhauer und habe aus meinen Holzklötzen all die Dinge geschnitzt, die ich darin gesehen habe. Dieses Leben habe ich verloren, trotzdem versuche ich, die positiven Seiten zu sehen. Ich bin einigermaßen gesund, habe gute Leute um mich herum und erfreue mich an den wenigen Dingen, die mir der Alltag so anspült. Auch wenn sie am nächsten Tag oft wieder weg sind.
Jaja, der eine sitzt in seinem Reichtum am Wannsee, der andere sitzt mit einem Tennisball in Lichtenberg am U-Bahnhof. Heißt aber nicht, dass der am Wannsee mehr Freude empfinden kann.“
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Thommi
“Ich war 20 Jahre bei der Bundeswehr. Ein Jahr im Kosovo, drei Jahre in Afghanistan. Gegen die Terroristen haben wir gekämpft! Denn bevor die uns abknallen, knallen wir die doch lieber ab, oder nicht?! Eines Tages haben wir eine Bombe kassiert. Drei Kameraden waren sofort tot, einige andere schwer verletzt. Bei mir war ein Finger ab, ein Splitter im Bein. Danach habe ich noch ein bisschen auf Intellektuellen gemacht und in Hannover an der Bundeswehruni unterrichtet, das war aber nicht mein Ding.
Dann ist meine Frau gestorben, nach 24 Jahren Ehe. Und ich habe mir gedacht, was mach ich noch hier? In der leeren Wohnung, ohne Olle, ohne Kameraden ... Da habe ich entschieden: Auszeit! Time Off! Raus hier, ab nach Berlin.
Den Sommer über hatte ich ein Zelt am Wannsee, jetzt im Winter bin ich hier. Es war meine freie Entscheidung, dieses Leben zu leben.
Ich könnte genauso gut in ein Hostel gehen, aber das will ich nicht. Weißt du, je weiter man in der Gesellschaft nach unten geht, desto mehr halten die Menschen zusammen. Und das ist das, was mir gefällt.“
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Jensen
„Ich gehe arbeiten wie jeder andere auch. Schnorren halt. Ist mein Traumberuf! Seit 28 Jahren mache ich das nun und ich könnte mir nichts Besseres vorstellen. Ich hatte ein Haus, eine Frau, einen Job. Aber als nach der Wende mein Malermeister-Abschluss nicht mehr das gleiche wert war und ich nochmal von vorne hätte anfangen müssen, da hatte ich die Schnauze voll. Also bin ich raus aus dem System.
Auf der Tasche liege ich damit auch keinem. Hartz IV habe ich nicht beantragt, wegen der ganzen Auflagen. Das ist nichts für mich. Ich will frei sein! Und mein Leben genießen. Ich schlafe, solange ich will, wache morgens auf und mache, wonach mir ist. Wenn ich wegfahren will, setze ich mich in den Bus und fahre nach Paris, nach Barcelona, nach Hamburg ... ich war schon überall, in jeder großen Stadt kenne ich Leute.
Eigentlich bin ich Berliner, aber lieber sage ich: Ich bin Erdenbürger. Wenn du freundlich bist, kommst du ganz schön weit auf dieser Erde.“
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Kerstin
„Ich war auf Alkohol-Entzug und habe im Betreuten Wohnen gelebt. Nebenbei habe ich ein unbezahltes Praktikum in einer Klinik gemacht und mich um demente Menschen gekümmert. Bei mir haben sich die Alten wohlgefühlt, mir haben sie ihre Lebensgeschichten anvertraut. Eine Frau, die nie einen Ton gesagt hat, konnte auf einmal wieder sprechen. Schauen Sie, ein Regenbogen!, hat sie gesagt.
Da war wirklich einer! Zwei Abteilungen habe ich quasi alleine geleitet. Meine Kollegen haben nichts anderes gemacht als rauchend im Mitarbeiterzimmer zu sitzen und gemein zu mir zu sein. An einem Tag ist mir alles zu viel geworden. Die Arbeit, die Kollegen, die vielen Termine, die ich wegen der Therapie hatte ... Ich bin in den Supermarkt gegangen und habe mir eine kleine Flasche Rotwein gekauft. Von da an ging alles bergab. Kurze Zeit später bin ich aus dem Betreuten Wohnen geflogen.
Jetzt bin ich hier, zwischen all den Leuten, die ständig am Rad drehen. Ich verstehe mich mit allen und wir sorgen füreinander. Aber ich will einfach mal wieder sein, wo es sich normal anfühlt. Bei meiner Tochter, tanzend auf einer Party ... Ich will den Regebogen wiedersehen.“
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Maggy
„Die Außerirdischen haben meine Kinder geklont. Die echten haben sie in der Badewanne zersägt. Die schwirren jetzt umher, als Teufelchen und Engelchen. Und die Geklonten laufen draußen herum. Ich habe mich sogar mit denen unterhalten! Ich habe das bei der Polizei gemeldet, aber die haben gemeint, ich sei psychisch krank und haben mich in die Klapse geschickt.
Die stecken natürlich unter einer Decke, die Polizei und die Außerirdischen. ,Bockwurstgesicht! Du Bockwurstgesicht!', haben sie zu mir gesagt, die Polizisten. Aber warum? Ich sehe doch cool aus. Wie Arnold Schwarzenegger sehe ich aus, sagt mein Mann. Der ist Filmproduzent und macht Action-Filme, glaub ich. Der hat schon mit richtigen Stars zusammengearbeitet.
Mit Til Schweiger und Tony Montana zum Beispiel. Den würde ich gern mal richtig kennenlernen, obwohl der auch Außerirdischer ist.“
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Stefan
„Eine Arbeit haben und trotzdem obdachlos sein? Gibt es nicht, habe ich gedacht. Bis es mir selbst passiert ist. Ich arbeite als Reinigungskraft in einem Kaufhaus und habe die letzten Jahre in einer WG gelebt. Im Sommer hat der Vermieter Eigenbedarf angemeldet. Und nachdem ich eine Zeitlang vergeblich nach einem neuen WG-Zimmer gesucht hab - es suchen ja alle entweder einen Studenten oder ein hübsches Mädchen, keinen 52-jährigen Mann! -, da bin ich auf die Straße gezogen.
Zuerst habe ich nachts kaum geschlafen. Oft war es nur Sekundenschlaf, weil ich immer aufpassen musste, dass man mir meine Sachen nicht klaut. Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Im Sommer bin ich nach der Arbeit immer in einen Park gegangen und hab mich ein bisschen langgelegt. Dann habe ich mich in ein Internetcafé gesetzt und habe die ganze Nacht über Dokus oder Rockkonzerte geschaut. Den gesamten Eichmann-Prozess von 1961 in Jerusalem habe ich gesehen. Alle 140 Prozesstage!“
Sebastian Lörscher