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Party oder Posemuckel? Berlin ganzjährig zur besten Stadt der Welt erklären und dann zum Jahreswechsel naserümpfend in die Landidylle fliehen – geht das?
©  Wolfram Kastl/dpa

Silvester in der Hauptstadt? Nie wieder! Oder doch?: Verknallt in Berlin – trotz Böller und Menschenmassen

Zu laut, zu stressig: Seit Jahren flieht unsere Autorin Silvester aus der Stadt. Nun überlegt sie, zurückzukehren.

Die Nacht, in der ich beschloss, den Jahreswechsel künftig um jeden Preis woanders zu verbringen – Paris, Posemuckel, egal – ist genau vier Jahre her. Silvester 2015/2016, Mitternacht durch, kurz vor zwei Uhr, ich auf dem Weg von einer Party zur nächsten, hochmotiviert, den Spaß meines Lebens zu haben.

Auf der Warschauer Straße war noch so viel los, als sei das neue Jahr erst vor wenigen Sekunden angebrochen. Die Leute grölten schiefe Melodien, gingen Arm in Arm, die Sektflaschen in den kalten Händen. Der Himmel sah aus, als ob dort oben jemand riesige Wunderkerzen angezündet hatte, auf dem Gehweg bildeten sich matschige Haufen zerfetzter Knaller. Ich mochte diese Stimmung. Das aufgekratzte Friedrichshain nochmal etwas aufgekratzter, und am nächsten Tag würde es so still sein wie sonst selten.

Zum ersten Mal fielen mir aber auch die ohrenbetäubenden Explosionen auf, die das Herz für einen Moment still stehen, den ganzen Körper zusammenzucken lassen, über die heute die ganze Stadt diskutiert. Weil diese geschützartigen Böller von manchen als Waffe benutzt werden, sind sie nun erstmals in drei Zonen verboten. Als ich Menschen sah, die fast nudelholzgroße Schwarzpulverrollen zwischen vorbeifahrende Autos warfen, ahnte ich: Das wird in den nächsten Jahren wohl nicht weniger.

Plötzlich wedelte ein Mann vor meinem Gesicht herum, wahrscheinlich auf der Suche nach einem Club, einer Bar – wie die meisten Touristen, die es über Silvester in die Partyhauptstadt treibt, weil es bei ihnen zuhause das ganze Jahr über schon langweilig genug ist.

Ich blieb stehen und dann ging alles ganz schnell, innerhalb einer Sekunde oder weniger, so kam es mir vor: Er versuchte mich an sich heranzuziehen, in meiner Panik riss ich ihm seine Brille von der Nase und schleuderte sie auf die Warschauer Straße. Er schubste mich gegen einen Bauzaun, wahrscheinlich schrie ich.

Ein Mann ging dazwischen, hielt den Wahnsinnigen fest, der brüllte nur: „My glasses!“ Die Freundin des Helfers stand daneben und bekniete meinen Retter, er möge sich nicht einmischen, es sei zu gefährlich. Fand ich auch – also trabte ich im Rückwärtsgang los, die Gefahr im Blick, sodass ich im Zweifelsfall lossprinten konnte. Das tat ich dann auch an der nächsten Straßenecke, fünf Minuten zu mir nach Hause. Außer Atem und zitternd schloss ich die Tür auf und fragte mich: Was zur Hölle war das?

Silvester? Hauptsache weit weg

Erst nach ein paar Wochen vergaß ich die Situation langsam und dachte erst wieder daran, als es im Freundeskreis um die Silvesterplanung ging. Zwei Freunde machten gerade eine längere Reise und waren in Spanien – warum die beiden nicht abpassen? Der Kälte, dem Grau und dem Lärm entfliehen? Weg von den irren Horden? Mir sollte es nur recht sein.

Besonders die importierten Pyrotechnik-Geschosse sind gefährlich.
Besonders die importierten Pyrotechnik-Geschosse sind gefährlich.
© Paul Zinken/ dpa

In Valencia ist Silvester mehr oder weniger eine Nacht wie jede andere, jedenfalls zündet niemand Raketen, das Konzept „Polenböller“ ist dort gänzlich unbekannt, man kaut stattdessen auf zwölf Weintrauben herum. Weil wir draußen sowieso nichts verpasst hätten, igelten wir uns in unserer Ferienwohnung ein und feierten ohne Angst vor betrunkenen Typen, ohne irgendwo hinstiefeln und vielleicht auch noch anstehen zu müssen, ohne den Anspruch, den Spaß unseres Lebens zu haben. Hatten wir dann aber doch, wahrscheinlich gerade deswegen.

Zurück in Berlin erzählte ich jedem ungefragt, dass Silvester in der Stadt für mich nicht mehr infrage käme, zu stressig, zu laut, zu viele Touristen. Ich zählte fortan zu denen, die mit leichtem Entsetzen und Mitleid reagierten, wenn jemand ankündigte, in Berlin bleiben zu wollen, war Teil jener Fraktion, die sich mit erleichtertem Seufzer kurz vor dem großen Geknalle verabschiedete. Wie man sich das nur geben kann!

Alles dreht sich? Dann ist es wohl Zeit, nach Hause zu gehen.
Alles dreht sich? Dann ist es wohl Zeit, nach Hause zu gehen.
© Kai-Uwe Heinrich

Im nächsten Jahr setzten wir noch einen drauf und fuhren in ein Häuschen im Harz, umgeben von Kleinfamilien und Rentnern in Glühweinlaune machten wir den 70er-Jahre-Partykeller zum angesagtesten (und einzigen) Club des Ortes, auf der Gästeliste nur wir. Mitternacht standen wir mit Knallern aus einem Kinderset auf der Straße, auf der sonst kaum jemand zu sehen war. Die Raketen über den Baumwipfeln am Hang konnte man an zwei Händen abzählen. Das Einzige, was man um ein Uhr auf der Straße noch hören konnte, war die Musik aus unserem Keller, wenn jemand die Tür aufmachte.

Stolze Berlinerin – außer an Silvester

Ein Jahr später: the same procedure. Und dieses Jahr: nochmal. Wir haben uns unsere selige Silvester-Blase geschaffen, in der niemand stört, geschweige denn Böller zündet. Aus der Wohnung darunter beschwert sich niemand, weil wir zu laut sind – in Ferienhaushausen gibt es niemanden, der unter uns wohnt.

Nun aber, kurz vor Silvester, durchfuhr mich ein unbequemer Gedanke, der mich nicht mehr loslässt: Dass es irgendwie nicht angehe, Berlin ganzjährig zur besten Stadt der Welt zu erklären, dann aber für den Jahreswechsel naserümpfend den Rückzug in die holzgetäfelte Biedermeier-Idylle anzutreten, immer wieder. Und jährlich grüßt das Mittelgebirge!

Ruhig war es lange genug

Einige Freunde fühlen offenbar ähnlich, jedenfalls ist die Gruppe deutlich dezimiert. Ich kenne ein paar Leute, die jetzt wieder ganz bewusst in Berlin bleiben, zu sechst Raclette machen oder große Partys in Wohnungen planen. Andere haben die Zeit der durchgefeierten Nächte eigentlich hinter sich, wollen es aber nochmal wissen und wählen die Profivariante: Den Countdown zu Hause mit einem kleinen Sekt begießen, früh ins Bett gehen und am 1. Januar abends in einen Club, von denen einige ohne Pause bis 5. Januar öffnen.

Muss man ja selbst nicht so machen, aber kann man mal zum Anlass nehmen, sich zu erinnern: Silvester in Berlin, das sind – natürlich, aber nicht nur – marodierende Böllergangs, verängstigte Tiere und Menschen, volle Notaufnahmen. Das sind eben auch Feuerwerk-Anbeter und Konfetti-Fans, das ist: eine gute Gelegenheit, Freunde aus der Ferne einzuladen, sich dem kollektiven Taumel hinzugeben, vielleicht den Spaß seines Lebens zu haben. Die Stadt nicht den Idioten überlassen, sondern so feiern, wie es einem selbst gefällt – das geht hier ja auch. Vielleicht gebe ich Berlin im nächsten Jahr mal wieder eine Chance. Ruhig war es jetzt lange genug.

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