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Die Invalidenstraße in Berlin-Mitte – hier geschah im September 2019 ein schwerer Verkehrsunfall mit vier Toten.
© Kai-Uwe Heinrich

Nach tödlichem SUV-Unfall in Berlin-Mitte: Verkehrssicherer Modellkiez rund um die Invalidenstraße abgesagt

Neun Monate nach dem schweren SUV-Unfall an der Invalidenstraße stockt der Umbau. Anwohner sind sauer. Senat und Bezirk müssen das Modellprojekt ganz absagen.

Beispielhaft sollte es werden, mit Mut vorangehen, eine konzertierte Aktion sein: Nach dem schweren SUV-Unfall an der Invalidenstraße im vergangenen September mit vier Toten hatte sich der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) eingeschaltet, Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) und der Bezirk Mitte hatten mitgemacht: An einem hochkarätig besetzten Runden Tisch sollte gemeinsam mit einer Anwohnerinitiative die Unfallstelle an der Ecke zur Ackerstraße verkehrssicher umgebaut werden.

Das Versprechen: der gesamte Kiez sollte zu einem Modellprojekt werden. Tempo 30, Fahrradwege, insgesamt weniger Autoverkehr – ab in die Zukunft.

Knapp neun Monate später ist von diesem Plan nicht mehr viel übrig, und das Verhältnis zwischen Anwohnern, Politik und Verwaltung angespannt.

Ein Satz aus einem Schreiben an die politisch Verantwortlichen von Ende Mai drückt den wachsenden Unmut aus: „Sollten Senatskanzlei und Verkehrsverwaltung allerdings gar kein Interesse mehr an diesem Projekt haben oder aber keine Kapazitäten, dann sagen Sie es bitte“, steht dort.

Was ist an diesem Runden Tisch schiefgelaufen, an dem alle wohl das Beste wollten?

Modellprojekt im Invalidenkiez abgesagt

Den Modellkiez, so viel steht fest, gibt es nicht mehr. Und zwar schon seit März. „Das Projekt einer modellhaften Entwicklung des Invalidenkiezes ist in der Tat abgesagt worden“, teilte Jan Thomsen, Sprecher der Verkehrsverwaltung, dem Tagesspiegel jetzt mit.

Der Bezirk Mitte habe bereits 2009 ein Verkehrskonzept für den Kiez realisiert und sehe „keinen weiteren Bedarf für eine prioritäre Gesamtbefassung“. Die personellen Ressourcen für ein solches Projekt habe weder der Bezirk noch die Senatsverwaltung.

Bei dem schweren Verkehrsunfall in Berlin-Mitte sind vier Menschen getötet worden.
Bei dem schweren Verkehrsunfall in Berlin-Mitte sind vier Menschen getötet worden.
© Britta Pedersen/dpa

Allerdings werde man sich weiter um bessere Schulwegsicherheit im Kiez kümmern. „Dass damit Zusagen zurückgenommen werden mussten, ist natürlich zu bedauern.“

Im Bezirk werden nach Tagesspiegel-Informationen andere Prioritäten gesehen, Orte etwa, an denen mehr Unfälle geschehen. Denn die Gegend um die Invalidenstraße ist trotz des schweren SUV-Unfalls kein besonders gefährlicher Ort. In der Liste der Berliner „Unfallhäufungsstellen“ stand sie auf Platz 701 von 1500.

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Es scheint, als wolle der Bezirk seine Kapazitäten lieber woanders investieren. Selbst wenn die Verkehrsverwaltung am Plan festhalten wollte: Gegen den Willen von Mitte wäre der Umbau des Kiezes nicht durchführbar. Der Senat ist in Berlin nur für übergeordnete Straßen wie die Invalidenstraße zuständig, die Nebenstraßen beplanen die Bezirke.

Für die Anwohnerinitiative um Julian Kopmann kam diese Kehrtwende aus dem Nichts. Gemeinsam mit dem Verein Changing Cities hatten er und weitere engagierte Bürger umfangreiche Vorschläge gemacht, viel Zeit investiert – besonders nachdem im Dezember die endgültige Zusage für ein Modellprojekt im ganzen Kiez kam. „Dann gibt es drei Monate später die Absage, das hat uns schon enttäuscht“, sagt Kopmann.

Die Verwaltung sagt: Trotz der Unstimmigkeiten sei das Beteiligungsverfahren ein Erfolg

Eine bunte Skizze zeigt die vielen Ideen für einen verkehrssicheren Kiez: Neben Tempo 30 auf der Invalidenstraße und einem beidseitig geschützten Radweg sollte es durchgehende, aber überfahrbare Gehwege auf mehreren Straßen rund um die Papagenogrundschule geben.

So sollte etwa die Unfallkreuzung an der Ecke Ackerstraße/Invalidenstraßen eine solche Gehwegüberfahrung bekommen. Der Fußweg liefe dann auf einer Höhe weiter über die Ackerstraße, abbiegende Autos müssten verlangsamen.

Später hatten Kopmann und seine Mitstreiter die Pläne mit den Verkehrsexperten von Changing Cities, Lobbyverein für verkehrssichere Städte, präzisiert, ausgebaut. Es wurde debattiert, Straßen zu unterbrechen, zu Einbahnstraßen zu machen, neue Plätze zu schaffen. Doch das wird so bald nicht passieren.

Julian Kopmann steht mit seiner Tochter an der Kreuzung Chaussestraße/Invalidenstraße in Berlin-Mitte.
Julian Kopmann steht mit seiner Tochter an der Kreuzung Chaussestraße/Invalidenstraße in Berlin-Mitte.
© Thilo Rückeis

Sechsmal hat sich der Runde Tisch bisher getroffen. Die Verkehrsverwaltung sagt: Trotz der Unstimmigkeiten sei das Beteiligungsverfahren ein Erfolg.

Tempo 30 wurde schon Ende Oktober an der Invalidenstraße eingerichtet, der beidseitige Radweg angeschoben, der Bau könne „bestenfalls“ Ende 2020 starten – 15 Monate nach dem Unfall. „Das dauert sonst Jahre und wir haben bereits im März eine Firma mit der Planung beauftragt“, sagt Sprecher Jan Thomsen. Aus Berliner Verwaltungssicht ist das Lichtgeschwindigkeit.

Aus Bürgersicht wurden Erwartungen enttäuscht: Zwischendurch waren Planungsunterlagen des Bezirks nicht auffindbar, es gab Ärger um die Finanzierung. Termine wurden einfach verschoben und, so sehen das die Anwohner, nur nach öffentlichem Druck und Brandbriefen nachgeholt.

Die Coronakrise, die auch die Verwaltung getroffen hat, tat ihr Übriges, damit das mit großen Hoffnungen gestartete Projekt „zum Stillstand“ kommt, so steht es in einem Brief der Anwohner an den Regierenden Bürgermeister.

Behörden-Pingpong, aber in Zeitlupe

Es geht in dieser Geschichte viel um enttäuschte Erwartungen – aber auch um die Irren und Wirren der Berliner Verwaltung. Behörden-Pingpong, aber in Zeitlupe.

Für die Unfallopfer wurde an der Unfallstelle in der Invalidenstraße eine Mahnwache abgehalten.
Für die Unfallopfer wurde an der Unfallstelle in der Invalidenstraße eine Mahnwache abgehalten.
© imago images / Rolf Zöllner

So tauchte noch im Januar 2020 in der Gartenstraße, kurz vor der Invalidenstraße, ein neues Tempo-50-Schild auf, direkt vor der Grundschule von Kopmanns Kindern. Dabei galt wenige Meter weiter längst Tempo 30.

Kopmann schrieb an die Verwaltung, nach einigen Wochen wurde das Schild entfernt. Es war wohl ein alter Vorgang, irgendjemand hatte ihn einfach noch ausgeführt. Kopfschütteln bei den Anwohnern.

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Die Lage an der Invalidenstraße ist nicht einfach. Straßenbahnen, Parkplätze für Behinderte und komplizierte Ampelschaltungen verhindern, dass sich schnell etwas bewegt. Verwaltungssprecher Thomsen spricht von einer „unvermeidlichen Komplexität“ – die Anwohner schauen derweil in andere Bezirke.

Nach Kreuzberg etwa, wo die Coronakrise genutzt wurde, Pop-up-Radwege zu schaffen. Thomsen verspricht, das auch für die Invalidenstraße zu prüfen. Die Voraussetzungen seien aber schwierig.

Einen Hoffnungsschimmer für den Modellkiez gibt es immerhin noch: Eventuell könnte eine Universität eingebunden werden, die Verkehrsverwaltung könnte finanziell unterstützen. Aber es ist wie so oft in Berlin: Alles nicht so einfach.

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