Fähren in Berlin: Unterwegs mit dem Kapitän vom Wannsee
4 Kilometer, 20 Minuten, 1000 Geschichten: Dietmar Scholz steuert seit 25 Jahren die BVG-Fähre. Wir haben ihn einen Tag begleitet.
Früh am Morgen liegt der Wannsee fast spiegelglatt da. Nur Hechte, die auf dem letzten Raubzug der Nacht aus der Tiefe schnellen, stören das Bild der unberührten Wasseroberfläche. Für den Kapitän der Wannseefähre Dietmar Scholz, 62, ist es die schönste Zeit des Tages. Fast bereut er es, wenn der Dieselmotor des Schiffes die Stille durchbricht. Doch die ersten Fahrgäste des Tages warten pünktlich am Morgen – um 6 Uhr legt die Fähre in Wannsee los, um 6.31 Uhr ist Abfahrt in Kladow. Mit an Bord: Pendler und auch Schulkinder. Viele von ihnen kennt Scholz persönlich. Wenn jemand fehlt, wartet er auch schon mal einen Moment. Manche Stammgäste melden sich bei ihm sogar für den Urlaub ab.
Seit 25 Jahren fährt der Kapitän auf den sechs Berliner Fährverbindungen. Die meiste Zeit davon auf den vier Kilometern der Linie F 10 – sie ist die beliebteste BVG-Fähre der Stadt, pendelt im Stundentakt zwischen Wannsee und Kladow, dem Dorf im Spandauer Süden. Fahrzeit: exakt 20 Minuten. Seit den 1940er Jahren existiert die Verbindung einmal quer über Wannsee und Havel – wer mit Bus und S-Bahn außenrum fährt, benötigt eine Stunde Abertausende Male legte Scholz in Wannsee ab, abertausende Male lief er im Kladower Hafen ein. Eine Sache habe er trotzdem bis heute nicht verstanden: „Was wollen die Leute da drüben?“ Mittlerweile koste die Bratwurst in Kladow drei Euro. Viel zu teuer, sagt Scholz.
Rundfahrten sind verboten
Die Taue werden gelöst, der Schiffsmotor rotiert und die MS Wannsee gleitet auf das Wasser hinaus. Mit seinem dichten Vollbart wirkt der Schiffsführer wie ein gestandener Seebär. Doch die Weltmeere hat Scholz noch nicht befahren. Er legt den Finger auf sein Schulterabzeichen: „Das bedeutet Schiffsführer der Binnenschifffahrt.“ Bis er dahin kam, durchlief er die komplette berufliche Ausbildung. Anfangs als Matrose, später als Bootsmann und schließlich als Kapitän. Heute hat er seine eigene Besatzung. Sie besteht aus einer Person: Bootsmann Uwe Hochmut. Gemeutert hat dieser noch nie. Dafür sorgen die Fahrgäste für Aufruhr.
Vor allem dann, wenn die Sonne am Wochenende Scharen von Ausflüglern hinaus zum Wannsee lockt. Alle dreißig Minuten müssen dann 300 Passagiere von Bord gebracht werden. Und das innerhalb von zehn Minuten. Eine stolze Leistung für ein öffentliches Verkehrsmittel. Trotzdem muss Scholz manchmal Fahrgäste stehen lassen. Das Rettungsmaterial ist begrenzt: „Wenn doch mal einer schimpft, betrachte ich das als Lob für meine Sorgfalt.“ Ärger gibt es ohnehin oft an Bord – meist wegen dem Versuch, aus der Fahrt eine Rundfahrt zu machen, denn die ist verboten. Eine nervenaufreibende Endlosdiskussion, die für die Besatzung alle 30 Minuten von vorne beginnt: „Wir sind nun mal ein Linienverkehrsmittel. Und eine Linie fängt bei A an und hört bei B auf.“ Auch bei Rollstuhlfahrern oder Betagten mache man keine Ausnahme. Runter müssen alle.
Kein Außendeck mehr an Bord
Es ist Mittag. Die Schlangen an den Piers werden von Mal zu Mal länger. Der Kapitän hilft beim Einrangieren von Kinderwagen, plaudert mit potenziellen Nachwuchsmatrosen und korrigiert seinen Bootsmann beim Vertäuen. Die ehemaligen Wannseefähren „Kohlhase“ und „Lichterfelde“ boten noch die Möglichkeit, sich draußen aufzuhalten. Beim neuen Modell setzt man hingegen auf praktische Aspekte: Hydraulisch ausfahrbare Rampen garantieren Barrierefreiheit. Und auch die Kapazität wurde deutlich erhöht. Bis zu 60 Fahrräder können pro Fahrt mitgenommen werden.
Der Charme des Ausflugdampfers wird schmerzlich vermisst. Ein Passagier trauert noch heute: „Früher saßen die Lehrer auf Deck in der Sonne und haben Klassenarbeiten korrigiert. Und daneben beugten sich die Schüler über die Hausaufgaben.“ Bei so viel Nostalgie verdreht Kapitän Scholz die Augen. Auch drei Jahre nach der Einführung der neuen Fähre sei die meistgestellte Frage: „Warum kann ich nicht draußen sitzen?“ Möwenfüttern und Sonnendeck gehören für ihn ein für alle Mal der Vergangenheit an.
Beruf mit Naturverbundenheit
Es geht wieder hinaus. Auf Steuerbord haben sich blinde Passagiere niedergelassen: Krähen blicken erwartungsvoll durch das Fensterglas. Oft sind sie für Scholz die einzige Gefährten im Steuerstand. Und diese Gesellschaft lässt er sich auch etwas kosten. Dann und wann beglückt er die Rabenvögel mit einer Handvoll Trockenfutter für Katzen.
Als Kapitän der Wannseefähre braucht man ein Gespür für die Natur. Auf jeder Runde passiert Scholz die Insel Imchen am Kladower Hafen. Das von Röhrichtflächen umgebene Eiland ist ein Naturschutzgebiet – und Scholz ihr strengster Bewacher. Er weiß, wann welcher Baum vom Biber angenagt wurde und kennt jede Episode vom verzweifelten Revierkampf der Graureiher gegen Kormorane. Diese Beobachtungsgabe ist nicht nur dem entschleunigten Berufsbild geschuldet. Die Schifffahrt auf dem Wannsee ist seit ihrem Beginn im Jahr 1892 vom Wetter abhängig: „Wenn Nebel war, war eben Nebel. Dann fuhr man nicht raus.“ Heute gibt es Radar, Echolot und Funkverkehr. Im Zweifelsfall vertraut der Kapitän lieber seinem Instinkt als der Technik. Auch bei Eisgang bleibt das Schiff im Hafen.
Geschichten von Seenot und Unfällen
Im Frühjahr hat die MS Wannsee die Wasserstraße noch weitestgehend für sich. Doch sobald die Segelsaison beginnt, muss Scholz höchste Konzentration aufbringen. Immer wieder kreuzen dann Boote seine Fahrrinne. Das knapp 45 Meter lange Schiff ist schwer zu bremsen. Ausweichen darf der Kapitän nicht, dafür müsste er die vorgeschriebene Route verlassen – und so kommt es auch alle paar Jahre mal zu Kollisionen mit Hobbykapitänen auf dem Wasser. Viele Geschichten kann Scholz erzählen: Als betrunkene Jugendliche neulich mit einem gestohlenen Schlauchboot kenterten, wurde die „MS Wannsee“ gar als Rettungsschiff eingesetzt.
Langsam dämmert es. Der Himmel ist bedeckt. Aus Trotz präsentiert Scholz Bilder von Sonnenuntergängen am Wannsee auf seinem Smartphone. Ein Foto ist spektakulärer als das andere. „Langweilig wird es hier draußen nie“, sagt der Kapitän. Dann greift er noch einmal zum Katzenfutter und verabschiedet sich von den Vögeln. Sie werden die Einzigen sein, die heute Abend sitzen bleiben dürfen.