Jüdisches Leben unter Nationalsozialisten: Untergetaucht in Berlin: Wir waren Freiwild
Von über 5000 Juden, die in Berlin nach 1939 in den Untergrund gingen, überlebten nur 1800, darunter die Familie Segal. Der Aufwand, den sie betrieb, ist herausragend – und zugleich exemplarisch.
Ein grauer Morgen im November 1956. Welkes Laub bedeckt die Wege. Erna Segal blickt aus ihrem Haus im amerikanischen Denver. Nach einer halb durchwachten Nacht, müde, nicht ausgeschlafen. Sie sitzt am Frühstückstisch, allein, hört Radio und tippt auf ihrer Schreibmaschine. In deutscher Sprache. Ihre Geschichte vom Überleben als Jüdin im Berliner Untergrund zwischen 1942 und 1945. Eine Geschichte, die auch deshalb bemerkenswert ist, weil sie nicht nur das Schicksal einer einzelnen Person betrifft, sondern das einer vierköpfigen Familie. Und bis heute, 2014, noch nirgendwo einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde. Obwohl Erna Segal die Jahre im Untergrund, die Unzahl an Verstecken und Treffpunkten, an Helfern und ihren Motiven, besonders detailgenau und aus vergleichsweise großer zeitlicher Nähe rekonstruiert.
Auf beinahe 300 Seiten berichtet sie über die Jahre der Diskriminierung und Verfolgung im Hitler-Reich – und besonders über die 882 Tage in wechselnden Verstecken. An jenem Novembermorgen, an dem sie beim Schreiben am Fenster „den Klängen einer guten musikalischen Übertragung“ lauscht und fieberhaft auf den Postboten wartet, „der mir die Aufforderung, mein Citizenship machen zu dürfen, bringen sollte“, erinnert sich Erna Segal: „Wir hatten das Glück, mit Gottes und guter Menschen Hilfe diese unglaubliche und fürchterliche Zeit zu überleben.“
Eine Zeit, auf die zunächst noch nichts hinzudeuten scheint: Als die 28-Jährige im März 1927 mit ihrem Mann Aron und den drei kleinen Kindern Hugo, Gerda und Manfred von Wien in die pulsierende Hauptstadt der Weimarer Republik zieht, ahnt sie nichts von den schrecklichen Jahren, die sie hier erleben wird. Von Berlin ist sie begeistert: „Wir waren völlig unpolitisch und auch uninteressiert. Wir hörten ab und zu von politischen Reibereien der vielen Parteien, aber es berührte uns kaum. Berlin gefiel uns, und wir lebten uns daher schnell ein.“ Die Familie führt ein gutbürgerliches Leben. Die Segals wohnen in einer 5-Zimmer-Wohnung „Am Stadtpark 12“ in Lichtenberg und eröffnen in einem ihrer drei Mietshäuser, in der Revaler Straße 4 in Friedrichshain, ein Pelzwarengeschäft. Das Geschäft, nur einen Steinwurf von der Warschauer Straße entfernt, dort, wo heute der Parkplatz eines 24-Stunden-Supermarkts ist, läuft gut. Die Mieteinnahmen tragen zusätzlich zum Familieneinkommen bei.
Die größte jüdische Gemeinde befindet sich in Berlin
Doch mit der Machterlangung der Nationalsozialisten 1933 ändert sich ihr Leben schlagartig. „Jeder Tag brachte etwas Neues, neue Lügen und bösartige Verleumdungen, Hetzen, gar nicht zu sprechen von dem Erlass der Nürnberger Gesetze“, resümiert Erna Segal die folgenden Jahre. Noch vor 1935 geben die Segals das Geschäft auf, haben aber zunächst weiterhin die Mieteinnahmen ihrer Häuser – neben dem in der Revaler Straße sind das noch eins in der Neuköllner Weserstraße und eins in der Lichtenberger Rupprechtstraße. Doch auch die bereiten Schwierigkeiten – ein Mieter, der monatelang keine Miete zahlt, schlägt Aron sogar zusammen, als der ihn zur Rede stellen will. Die Folge: eine Vorladung der Gestapo – für Aron Segal. Dank der österreichischen Staatsbürgerschaft wird er nur verwarnt.
Die Segals selbst müssen in dieser Zeit mehrfach umziehen, werden in immer kleinere Wohnungen gedrängt. Trotz der wachsenden Diskriminierung bleiben sie aber in Berlin und schmieden erst 1938 erste Auswanderungspläne. Die platzen jedoch 1939, weil ihnen die Überfahrt mit einem italienischen Schiff nach Chile verboten wird. Im gleichen Jahr beschließt der erst 18-jährige älteste Sohn Hugo, auf eigene Faust nach Belgien zu gehen und von dort aus eine Auswanderung nach Amerika voranzutreiben. Erna und Aron sind „fassungslos und konnten sich nicht entschließen, sich von ihrem geliebten Sohn zu trennen“.
Im Herbst 1941 leben noch ungefähr 164.000 Juden in Deutschland. Die größte jüdische Gemeinde befindet sich in Berlin und zählt circa 73.000 Menschen. Viele von ihnen sind nach 1933 hergezogen, um in der Anonymität der Großstadt Schutz zu finden. Außerdem sind Auswanderungsbestrebungen durch die vielen ausländischen Vertretungen in Berlin besser zu organisieren. Am 23. Oktober 1941 wird den Juden dann die Auswanderung per Gesetz verboten. Die ungefähr zur gleichen Zeit beginnenden Deportationen geben Juden nur noch wenige Möglichkeiten, dem drohenden Unheil zu entkommen.
Mit Sorge beobachtet Erna die Entwicklungen im Bekanntenkreis: „Jeden Tag wurden andere jüdische Mieter abgeholt und einige verschwanden.“ Auch von ihren Verwandten in Wien erhält sie nach deren Deportationen kein Lebenszeichen mehr; Sohn Hugo ist zu dieser Zeit schon in einem Internierungslager in Frankreich gelandet und schreibt ihr von den schrecklichen Zuständen.
Ein Wehrmachtssoldat warnt die Familie
Den Anstoß zum Untertauchen gibt ihnen ein unbekannter Wehrmachtsoldat auf Heimaturlaub, um Ostern 1942. Er folgt Erna, die zu dieser Zeit Zwangsarbeit in einer Uniformfabrik leistet, als sie aus der Straßenbahn aussteigt. Er bittet sie, ihren Stern zu verdecken, damit er mit ihr reden könne. Der Soldat berichtet Erna von seinen Erlebnissen in Polen und Russland. Erna ist über diesen Bericht „starr und konnte es nicht glauben“. Zu Hause angekommen, berichtet sie alles ihrer Familie. Ihr Mann will an einen Scherz glauben. Segals befragen deshalb einen Freund, der Kontakte zum rumänischen Konsulat hat. Dieser bestätigt die Schilderungen des Soldaten. Und der unbekannte Wehrmachtssoldat ist nicht der Einzige, der die Familie warnt. Auch ein Mieter ihres Hauses in der Weserstraße 24, ein SS-Mann, äußert seine Bedenken: „Wenn ich Ihnen raten darf, lassen Sie alles liegen und stehen, retten Sie Ihre Familie und sich selbst, ehe es zu spät ist.“
Für Erna steht nun fest, dass sie, sollte der Deportationsbefehl kommen, ihm nicht folgen würde. Während Aron zögerlich bleibt, wird seine Frau die treibende Kraft: „Ich habe all die Jahre seine Wünsche respektiert und war nun gewillt, allein zu handeln“, schreibt sie über die Meinungsverschiedenheiten mit ihrem Mann. Die beiden jüngeren Kinder Gerda und Manfred, zu diesem Zeitpunkt 18 und 16 Jahre alt, unterstützen die Mutter bei dem Plan, in den Untergrund zu gehen.
Das Hauptproblem, das ahnt Erna, wird die Suche nach einer Unterkunft sein: „Ich zerbrach mir Tag und Nacht den Kopf.“ Als erste Anlaufstationen wählt sie, die selbst jahrelang ehrenamtlich für das Jüdische Wohlfahrts- und Jugendamt in Lichtenberg arbeitete, einen Priester und einen evangelischen Arzt in der Nähe ihrer Wohnung. Beide hören ihr zu und reagieren gleich: mit einem Nein zur Frage nach Hilfe. Der Priester, weil er „selbst vorläufig keinem Menschen trauen würde und die Kirche viel zu klein wäre“; der Arzt ist zunächst sprachlos und „wusste zwar von den Verschleppungen der Juden, konnte sich aber nicht vorstellen, dass deutsche Menschen diese Grausamkeiten vollbringen können“.
Die erste Person, die ihr Hilfe zusichert, ist die gebürtige Polin Wanda Feuerherm. Die 37-jährige Näherin lebt selbst äußert bescheiden mit ihrem Mann und zwei Kindern in einer aus Brettern zusammengestellten Laube in der Kolonie „Dreieinigkeit“ in Lichtenberg, jener heute längst für Wohnhäuser verschwundenen Kolonie, in der sich auch der spätere Entertainer und Fernsehmoderator Hans Rosenthal versteckt hielt. Sie ist die „arische“ Nachbarin eines älteren jüdischen Ehepaars, das Erna Segal jahrelang im Rahmen ihres Ehrenamtes unterstützt hat. Über das Ehepaar lernen sich die beiden Frauen kennen. Wanda ist laut Erna empört über die Nazis und hasst sie. „Sie wollte uns helfen, soweit es in ihrem Bereich war.“ Zunächst gibt sie der Familie Lebensmittel, im Spätsommer 1942 erklärt sie sich nach Ernas Bitte bereit, die 18-jährige Gerda aufzunehmen, wenn die Familie in den Untergrund gehen sollte. So wird sie in den kommenden Jahren eine wichtige Anlaufstelle für Segals – und damit laut Erna zum „Meilenstein“ in dem Kampf ums Überleben.
Das Untertauchen als letzte Möglichkeit sich der Verfolgung und Deportation zu entziehen.
Der Zeitpunkt des Untertauchens kommt dann auch bald. Eines Abends kehrt der 16-jährige Manfred später als sonst und völlig erschöpft und ohne Judenstern von seiner Zwangsarbeit in Wannsee nach Hause zurück. Nur knapp, berichtet er der Familie, sei er durch einen Sprung von einem Lastwagen der direkten Deportation von seiner Arbeitsstelle entkommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Gestapo Manfred suchen wird.
Gerda bezieht ihr Versteck bei Feuerherms in der Laubenkolonie. Auch für sich und Manfred hat Erna rechtzeitig eine Unterkunft organisiert. Sie können bei einem Schneiderehepaar in der Schützenstraße 56 in Mitte schlafen – gegen Miete und Hilfe im Haushalt. Einzig Aron ist am Tag von Manfreds Flucht ohne Anlaufstation, und so bleibt er in der Wohnung. Erna muss einen Freund anrufen und ihn bitten, Aron „zu überreden, in die Illegalität zu gehen“. Wenig später kommt er über den Freund bei einem Polizistenehepaar unter.
Erna beschreibt die Situation so: „Wir waren nun Illegale, Menschen ohne jeden Ausweis, ohne die Berechtigung, frei leben und atmen zu dürfen. Menschen, verfolgt, gejagt und gehetzt. Freiwild, ohne je einem Menschen geschadet zu haben.“
Nur ein Gutes hat die Sache: Den gelben, verräterischen und verhassten Judenstern tragen sie von nun an nicht mehr. Damit laufen sie seit dem 1. September 1941 erstmals wieder wie „ganz normale“ Berliner auf der Straße, nehmen sich in der U-Bahn oder S-Bahn einen Sitzplatz und fahren so lange, wie sie wollen. Dinge, die ihnen als Juden verboten wurden. Sie können auch von nun an zu jeder Tageszeit einkaufen gehen – und nicht mehr nur in der seit dem 4. Juli 1940 für Juden festgelegten Zeit von 16 bis 17 Uhr.
Vorsicht wird zum ständigen Begleiter
Doch was soll einkaufen, wer ohne festen Wohnsitz und damit auch ohne die damals so wichtigen Lebensmittelkarten ist? Segals können nur noch Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt besorgen, natürlich zu höheren Preisen, die im Laufe des Krieges weiter steigen. „Es wurde auch immer schwieriger, selbst zu hohen Preisen etwas zu bekommen. Dabei hieß es große Vorsicht walten zu lassen, um auch da nicht an die unrichtigen Hände zu kommen“, erinnert sich Erna.
Die Vorsicht, sie wird zum ständigen Begleiter. Besonders wichtig wird sie bei der Suche nach einem Versteck. Eine Unterkunft zu finden, in der Ehepartner oder gar Familien gemeinsam leben können, ist kaum möglich. So gibt es auch für Segals keine Möglichkeit, ein gemeinsames Versteck für alle vier Familienmitglieder zu finden. Sie benötigen verschiedene Schlafmöglichkeiten, was den Aufwand der Suche nach Helfern vervielfacht. Während der gesamten Zeit im Untergrund müssen sich Segals durchgängig um neue Schlafmöglichkeiten bemühen.
Mehr als einmal entpuppt sich dabei ein als sicher geglaubtes Versteck als große Gefahr. So auch das erste Versteck von Erna und Manfred bei dem Schneiderehepaar. Das scheint zunächst sehr geeignet, da durch das häufige Ein- und Ausgehen der Kunden in der Wohnung der Heimarbeiter weitere Personen nicht so schnell auffallen. Klingelt es an der Tür, so verschwinden Erna und Manfred schnell in einer kleinen Kammer oberhalb des Bades, zu der sie über eine schmale Treppe vom Korridor aus gelangen.
Unterkunft wird beinahe zur tödlichen Falle
Doch eines Abends bringt die Tochter des Paares einen SS-Mann mit nach Hause, der über Nacht bleibt. Erna ist darüber fassungslos: „Wir waren rat- und hilflos dem unsicheren Schicksal preisgegeben. Die ganze Nacht hielt ich Wache, unsere Kammer lag direkt über dem Badezimmer, jede leiseste Bewegung oben konnte uns verraten. Dieser SS-Mann, der viel Bier getrunken hatte, ging mehrere Male in der Nacht ins Badezimmer. Sowie er hineinging, weckte ich meinen Sohn, hielt ihn fest, damit er sich nicht bewegte.“ Als beide die Schreckensnacht unentdeckt überstanden haben, mischt sich in das Aufatmen ein bitterer Beigeschmack: Das Versteck ist nicht länger sicher. Auch wenn das Ehepaar, der Mann ist Pole und hasst die Nazis, Erna sagt, dass sie nichts zu befürchten hätten. Wenig später, es ist das Frühjahr 1943, verlassen die beiden die Wohnung.
Über eine Zufallsbekanntschaft im Park wird Erna an eine Familie vermittelt, die in Motzen südlich von Berlin wohnt. Ohne zu wissen, dass es sich bei ihr um eine untergetauchte Jüdin handelt, vermieten sie ihr ein Dachzimmer. Für Erna und Manfred wird auch diese Unterkunft nach einigen Wochen beinahe zur tödlichen Falle. Nur knapp wird Erna von einer anderen Untermieterin gewarnt, dass sich ihre Vermieterin am nächsten Tag über sie „bei der Partei“ erkundigen will. Umgehend flüchtet Erna zusammen mit Manfred zurück nach Berlin.
Treffen an wechselnden Punkten
Ohne feste Bleibe und Aussicht darauf machen sich die beiden auf den Weg in die Laubenkolonie, zu ihrer Helferin Wanda. Diese ist für die Familie immer wieder eine Anlaufstelle, oft übernachtet Erna zusätzlich zu ihrer Tochter dort. Sogar die beiden Kinder Vera und Hans, damals acht und sechs Jahre alt, sind in die Hilfe eingeweiht. Wanda hilft auch immer wieder bei der Beschaffung von Lebensmitteln – oft kommen die aus ihrem Garten, in dem es einige Hühner, Gänse, Kaninchen, eine Ziege und jede Menge Obst und Gemüse gibt. Als im Frühjahr 1943 die Nächte wieder kürzer werden, wird der Familie das Untertauchen erheblich erschwert: „Mit dem Beginn der längeren Tage begann für uns eine sehr schwere Zeit. Im Dunkeln hatten wir mehr Bewegungsfreiheit, wagten uns mehr auf die Straßen, fühlten uns dort etwas sicherer.“
Einmal im Monat trifft sich die Familie auf überfüllten U-Bahnsteigen oder an Straßenbahnhaltestellen, manchmal auch in einem Park. Aus Vorsicht wechseln sie die Treffpunkte; bei jedem Treffen wird ein nächster Termin festgelegt. Bei diesen Zusammenkünften muss Erna ihren Mann beruhigen: „Immer und immer fragte er mich, wie lange dieser Zustand dauern könnte. Ich beruhigte ihn und meinte, hoffentlich nicht lange.“ Arons Situation ist am prekärsten. In den ersten Monaten findet sich für ihn nur ein Versteck in einem baufälligen Laden in einer Einkaufspassage in der Nähe des Moritzplatzes, ohne Heizung oder Licht. Lediglich über Nacht kann er das Versteck aufsuchen. Ein Notbett befindet sich in einem der hinteren Räume. Die Verwalterin des Hauses hat es dort aufgestellt, sie ist in alles eingeweiht.
Bei Fliegeralarm muss er in seinem Versteck ausharren, alleine und in vollkommener Finsternis. Am Tag kann er ab und zu die Wohnung der Verwalterin aufsuchen. Ansonsten irrt Aron ziel- und planlos durch die Straßen von Berlin. Wie ihm ergeht es zu dieser Zeit mehreren tausend untergetauchten Juden, die gezwungen sind, ihre Verstecke tagsüber zu verlassen, um nicht bei den Nachbarn aufzufallen. Zwangsläufig verbringen sie deshalb viel Zeit auf öffentlichen Plätzen, in Parks, Gaststätten, Kinos oder Theatern. So auch Erna: „Ich irrte in den Straßen herum, in Parkanlagen, fuhr mit der Stadtbahn ringsherum, um Zeit vergehen zu lassen.“ Für Aron, der noch im wehrfähigen Alter ist, ist das besonders gefährlich. Gegen viel Geld bekommt er im Sommer 1943 eine Kennkarte auf den Namen „Paul Müller“, laut der er zehn Jahre älter ist. Daraufhin nimmt die ganze Familie den Decknamen „Müller“ an. Da die Karte täuschend echt ist, übersteht Aron mit ihr sogar Kontrollen in einigen Luftschutzbunkern.
Ein Arzt und mehrere Nonnen werden zu wichtigen Helfern.
Im Juni 1943 erklärt Joseph Goebbels Berlin offiziell für „judenrein“. Immer auf der Suche nach der nächsten Unterkunft, landet Erna etwa zu dieser Zeit über eine Bekannte in dem Behandlungszimmer eines Arztes in der Frankfurter Allee 336, der auch anderen Juden hilft. Fritz Aub ist Katholik und gilt durch seinen jüdischen Großvater nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 als „Vierteljude“. Zusammen mit seiner Frau Hedwig nutzt er seine Arztpraxis, um jüdischen Mitmenschen zu helfen. Sie organisieren Unterkünfte, Lebensmittel oder geben Geld. Er vermittelt Erna an einen Ordensbruder aus dem Christkönigshaus, Petersburger Straße 77. Darüber hinaus können Segals immer wieder zu ihm in die Praxis kommen, wenn sie medizinische Versorgung brauchen.
Der Ordensbruder schickt Erna und Manfred, den 16-Jährigen, nach Strausberg. Dort, im Immaculatahaus, einer stattlichen Villa im Annatal, soll Manfred unterkommen. Beide Häuser gehören dem katholischen Johannesbund, einer 1919 von Pater Johannes Maria Haw gegründeten Ordensgemeinschaft. Im „Kloster“, wie es Erna nennt, werden sie bereits von Schwester Lioba (geb. Katharina Elisabeth Küchgeßner) erwartet: „Sie begrüßte uns wie gute alte Bekannte, ließ im wunderschönen Garten einen Tisch decken und bewirtete uns einzigartig.“ Die beiden Untergetauchten sind sprachlos. Der Direktor, Pater Johannes Haw, ist eingeweiht. Auf dem Anwesen, das aus der Villa mit Kapelle und zwei weiteren Nebengebäuden besteht, soll Manfred, getarnt als Ausgebombter aus Westdeutschland, nun Unterschlupf finden.
Während seiner Zeit im Immaculatahaus wird er Messjunge für den Priester. Auch für Erna wird das Haus zum Zufluchtsort, als sie erfährt, dass die Gestapo in Berlin nach ihr sucht. So verbringen Mutter und Sohn zwei Monate auf dem Anwesen, arbeiten im Garten oder helfen in der Küche aus. Es sind Monate, in denen sich Erna ausnahmsweise „sicher und geborgen“ fühlt. Doch auch dieses Versteck ist nicht von Dauer: Im September verlangt eine Behörde eine Auflistung aller Bewohner. Erna und Manfred verlassen das Anwesen wieder Richtung Berlin. Die Schwestern des Bundes, vor allem Schwester Lioba und Schwester Stephana, helfen später noch mit weiteren Adressen, bei denen Segals unterkommen können.
„Die glücklichste Begegnung“ in der illegalen Zeit
Inzwischen ist es Herbst geworden. Immer wieder sucht Erna nach neuen Anlaufstellen für sich und ihre Familie. Oft ergreift sie die Initiative und sucht ehemalige „arische“ Mieter oder andere Bekannte auf, von denen sie überzeugt ist, dass sie keine Nazis sind. Wenn sie deshalb in ihrer ehemaligen Wohngegend unterwegs ist, zieht Erna vorsichtshalber Trauerkleider an. Bei diesen Anfragen ergeben sich mal ein Versteck für Manfred, mal ein paar Lebensmittel. Doch manchmal ist die Angst der Angesprochenen auch einfach zu groß, direkt Hilfe zu leisten. Was nicht heißt, dass am Ende nicht doch geholfen wird: Und sei es nur mit der Vermittlung an Menschen, die gewillt sind, die Untergetauchten bei sich aufzunehmen.
So landet Erna eines Tages auch vor der Haustür des Hauses Am Comeniusplatz 5, ganz in der Nähe der Revaler Straße 4. Hier wohnen Hedwig Kähler und Martel Köpke. Die beiden damals alleinstehenden Frauen nehmen die Untergetauchten unbekannterweise „sofort wie gute Freunde auf“. Erna bezeichnet diese neue Bekanntschaft als „die glücklichste Begegnung“ in ihrer illegalen Zeit. Von nun an finden mal Erna, mal Manfred oder Gerda in der kleinen Wohnung Unterschlupf, für die sie auch einen Schlüssel bekommen. Der Vermieterin und den Nachbarn werden die drei als ausgebombte Freunde vorgestellt. Über ihre Helferinnen wird Erna später nur gute Worte finden: „Diese beiden einzigartigen und wunderbaren Menschen waren weder ängstlich noch Nazi-Freunde und hielten es für ihre Pflicht, uns in dieser schrecklichen Lage zu helfen. Sie waren mit unter den ganz wenigen, die völlig uneigennützig uns aus purer Menschlichkeit halfen. Sie nahmen nicht die kleinste Aufmerksamkeit von uns an, obwohl ich ihnen immer versicherte, dass wir noch Mittel zur Verfügung hatten. Im Gegenteil, sie teilten mit uns alles, was sie hatten.“
Liest man den kompletten Bericht von Erna Segal, so fällt auf, dass es eine große Bandbreite an Helfern gibt. Sie reicht von Menschen wie Hedwig und Martel, die uneigennützig, aus reiner Menschlichkeit und aus politischer Überzeugung, Hilfe leisten, bis zu jenen, die erhebliche Gegenleistungen verlangten. Letzteres erlebten Segals bei der 1898 geborenen Elisabeth Prasser: „Sie wollte keine Bezahlung, nur Lebensmittelkarten und etwas nebenbei und das Versprechen, sie nach dem Kriege lebenslänglich zu versorgen.“ Forderungen, auf die Segals nicht eingehen können und wollen. Erna spricht an vielen Stellen ihres Berichtes von „erheblichen Summen“, die fließen. Dass sie im Untergrund noch über solche Mittel verfügen, liegt daran, dass sie rechtzeitig für große Teile ihres Vermögens – das Haus in der Revaler Straße hatten sie früh wegen einer fälligen Hypothek verkauft, das in der Rupprechtstraße im Zuge der Auswanderungspläne – Schmuck erworben haben.
Die Gestapo sucht bei Wanda nach der untergetauchten Gerda.
Anfang 1944, hält Erna später fest, ist für ihre Familie „ausnahmsweise eine gute Zeit“. Sie haben einige Unterkunftsmöglichkeiten, können je nach Bedarf jonglieren, und sie vertrauen ihren Helfern: „Das waren Leute, die unser Schicksal kannten, vor denen wir nicht immer auf der Hut sein mussten.“ Das ändert sich jedoch am 20. Juli 1944. Seit nun fast zwei Jahren hilft die Näherin Wanda Feuerherm der Familie, als plötzlich zwei Gestapo-Beamte vor der Tür stehen und nach Gerda suchen. Die damals 20-Jährige ist an diesem Tag Besorgungen machen. Doch sie ist mit Wanda verabredet und kann jede Minute nach Hause kommen. In ihrer Aufregung redet Wanda so laut sie nur kann. Sie erklärt den Gestapo-Beamten, dass sie nichts weiter über Gerda wisse, „als dass sie ein wunderbarer Mensch sei und mit den Kindern ab und zu Schularbeiten gemacht hat“.
Auch der anwesende Großvater wird von den zwei Gestapo-Männern verhört. Als er glaubhaft versichern kann, dass er Gerda nicht kennt, darf er gehen. An der Straßenbahnhaltestelle wartet er auf Gerda. Als sie eintrifft, begrüßt er sie mit den Worten: „Ich weiß nicht, was es mit dir auf sich hat, irgendetwas stimmt nicht, denn zwei Männer sind bei Wanda und suchen nach dir.“ Gerda ist geschockt. Erst als ein Fliegeralarm losgeht und sie annimmt, dass auch die Gestapo-Männer sich in Sicherheit bringen werden, geht sie zu Wanda, um einige persönliche Gegenstände abzuholen. Es wird ein tränenreicher Abschied. Später stellt sich heraus, dass Wandas Mann Willi mit einem Foto von Gerda zur Gestapo ging. Von ihm sagen sich Wanda, die nach dem Krieg einen Nervenzusammenbruch erleidet und früh stirbt, und ihre Tochter Vera, die bis zu ihrem Tod 2005 im Ostteil Berlins lebt, direkt nach Kriegsende los.
Zum Zeitpunkt des Verrats hat sich der Weltkrieg längst gegen Hitler-Deutschland gewandt. Die ständigen Bombenangriffe verbessern die Situation der Untergetauchten. Das bemerkt auch Erna: „Für uns war diese Situation, so traurig sie auch war, günstig. Natürlich waren auch wir den Angriffen wehrlos ausgesetzt, andererseits herrschte nach jedem Fliegerangriff solch ein Wirrwarr. Die Menschen hatten keine Zeit mehr aufzupassen, hatten plötzlich, da es um ihre eigene Haut ging, angefangen zu denken.“ Doch durch Bomben verlieren Segals ein ums andere Mal auch ihre Unterkünfte, so zum Beispiel das Versteck bei dem Schuhmacher-Ehepaar „Gorky“ (Name nicht verifiziert), als deren Ladenwohnung durch Bomben beschädigt wird.
Weitere Hürden auch nach Kriegsende
Finden Segals vorübergehend keine Schlafmöglichkeiten, besonders gegen Ende des Krieges geschieht das immer häufiger, verbringen Erna und ihre Familie etliche Nächte in U-Bahnhöfen. Dort suchen auch viele andere Berliner Schutz vor den Bombenangriffen.
Das Frühjahr 1945 erleben Erna, Gerda und Manfred zusammen in der Wohnung von Hedwig und Martel am Comeniusplatz. Aron verbirgt sich derweil in Schöneiche. Die lange Zeit des Versteckens und der Vorsicht enden schließlich im April, als die Russen in den Keller eines Mietshauses gelangen, wo sich Erna, Manfred und Gerda bei der Familie „Grimm“ (Echtheit des Namens unklar) gegen eine Geldzahlung verstecken. Um sich als Verfolgte ausweisen zu können, halten sie ihre jüdischen Kennkarten bereit. Als Aron im August wieder in Berlin eintrifft, ist die Familie nach langer Zeit das erste Mal wieder zusammen. Auch ihren richtigen Namen können sie wieder tragen. Nur von Hugo haben sie seit Jahren kein Lebenszeichen erhalten.
Die eigentliche Befreiung, das Kriegsende, hält für Segals weitere Hürden parat. Zwar werden sie im Januar 1946 als „Opfer des Faschismus“ anerkannt, doch nach dem Krieg gibt es viele verschiedene Opfergruppen, die Hilfe benötigen: Bombengeschädigte, Vertriebene, Witwen und Kriegsverwundete. Die Versorgung mit einer Wohnung, Lebensmitteln und der Aufbau einer kleinen Schneiderei ist für Segals ein ständiger Kampf. Aron Segal verwaltet in den folgenden Jahren Häuser von deportierten und ermordeten Juden. Doch die Familie will nicht länger in Berlin bleiben. Die Segals bereiten eine Auswanderung vor. Im August 1949 können sie in die USA einreisen. Sie lassen sich in Denver, Colorado, nieder. Die Verfolgung hat besonders bei Aron gesundheitliche Spuren hinterlassen. Er stirbt bereits am 22. November 1954. Zwei Jahre später wird Erna damit beginnen, die Überlebensgeschichte, die laut Entschädigungsakte vom 28. November 1942 bis zum 28. April 1945 dauerte, ihrer Familie aufzuschreiben.
Nach dem Untertauchen sucht die Familie nach dem vermissten Hugo.
Damit tut Erna, was eigentlich ihr ältester Sohn Hugo vorhatte. Der schreibt in einem Brief aus einem französischen Lager an die Familie, dass er seine Erlebnisse eines Tages aufschreiben will. Doch für Hugo Segal hat es diese Möglichkeit nie gegeben. Nach Lageraufenthalten in Frankreich kommt er am 19. August 1942 in das Vernichtungslager Auschwitz, wo er am 28. Oktober 1942 mit nur 21 Jahren stirbt. Nur wenig später, im November desselben Jahres, hatten sein Vater und seine Mutter sowie seine Geschwister Gerda und Manfred den gelben Stern abgelegt und waren in den Untergrund gegangen.
Hugo ist nicht der einzige, um den die Segals trauern: Erna und Aron erstellen nach dem Krieg eine Liste aller näheren Verwandten und kommen auf 80, die dem nationalsozialistischen Massenmord an den Juden zum Opfer fielen. Segals selbst haben mit Geschick und Glück überlebt – sowie guten finanziellen Mitteln und einem umfangreichen Netzwerk, zum Teil noch aus der Zeit vor der Illegalität. Insgesamt unterstützen sie rund 50 nichtjüdische Helfer in und um Berlin. Während Historiker schätzen, dass im Durchschnitt zehn Helfer pro Untergetauchtem am Überleben beteiligt waren, sind es bei Segals also fast 13 pro Familienmitglied. Einige der Helfer, wie etwa Wanda Feuerherm, begleiten die Familie durchgängig über die fast zweieinhalb Jahre des Untertauchens.
Andere Helfer bieten nur wenige Nächte einen Unterschlupf an. Einige werden auch unwissend zu Helfern, in dem sie keine Fragen stellen. Nach Schätzungen von Historikern unterstützten in Deutschland (in den Grenzen von 1937) während der Kriegsjahre 1941 bis 1945 wohl mehrere zehntausend Personen die bis zu 15 000 untergetauchten Juden und trugen dadurch zum Überleben von circa 5000 Verfolgten bei. Die vierköpfige Familie Segal zählt zu den etwa 1800 von über 5000 in Berlin versteckten Juden, die überlebten. Nach dem Krieg haben Segals zu einigen ihrer Helfer weiterhin Kontakt, so zum Beispiel zu Wanda Feuerherm und ihrer Tochter Vera sowie dem Arzt Fritz Aub und seiner Frau. Alle vier wurden von der jüdischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ für ihr Engagement geehrt – Wanda und Vera auf Initiative von Gerda Segal.
„Wir sollen vergeben, doch niemals vergessen"
Im November 1956, gleich zu Beginn ihrer Aufzeichnungen, deren Original heute im Leo-Baeck-Institut in New York liegt, während in der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand eine Kopie eingesehen werden kann, stellt Erna Segal fest: „Zurückblickend ist es sogar für uns unfassbar, dass wir den Mut, die Kraft und die Ausdauer hatten, um unser Leben zu kämpfen und allen katastrophalen Begebenheiten Widerstand zu leisten.“ Sie schließt mit den Worten: „Wir sollen vergeben, doch niemals vergessen. Und hoffen, dass die Menschheit von Diktatoren und den furchtbaren Geisseln des Krieges verschont bleiben soll.“
Erna Segal stirbt am 15. August 1989. Ob Gerda Segal, 1924 geboren, noch lebt, konnte nicht ermittelt werden, ihr Bruder Manfred starb im Dezember 2010. Seine Tochter Brigitte lebt heute noch in den USA. Von der Geschichte ihrer Großeltern weiß sie nur in groben Zügen.
Dieser Text ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.
Lesen Sie hier auch das Interview mit der Historikerin Beate Kosmala über die Risiken, die die Helfer aufsichluden.
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Das Überleben der vierköpfigen Familie Segal zwischen 1942 und 1945 stellt einen speziellen Fall dar. Doch gibt es selbstverständlich auch andere Schicksale und Berichte, die das Untertauchen von jüdischen Bürgern während der NS-Zeit in Berlin zum Thema haben. Am bekanntesten sind wohl die Erinnerungen Ich trug den gelben Stern (erstmals erschienen 1978, dtv) von Inge Deutschkron. Ebenfalls zum Bestseller avancierte Nicht alle waren Mörder (2004, Ullstein) des Schauspielers Michael Degen. Weiterhin erwähnenswert sind Versuche, dein Leben zu machen (2008, Rowohlt) der 1943 in Berlin untergetauchten Margot Friedländer, sowie das 2014 erschienene Untergetaucht: Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 - 1945 von Marie Jalowicz Simon. Zudem erinnern im Haus Rosenthaler Straße 39 an den Hackeschen Höfen gleich zwei Gedenkorte an jene Menschen, die während der NS-Diktatur verfolgten Juden beistanden. Während die Gedenkstätte Stille Helden verschiedene Retter vorstellt, wird im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt an den Besen- und Bürsten-Fabrikanten erinnert, der während des Zweiten Weltkrieges hauptsächlich blinde und gehörlose Juden beschäftigte und auch Inge Deutschkron beschützte. Beide haben täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet.
Carmen Schucker
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