Historikerin Beate Kosmala über Helfer und Gefahren: "Nicht alle haben ihr Leben riskiert"
Berliner, die jüdischen Freunden, Bekannten oder Fremden während der Zeit des Nationalsozialisten halfen, sie sogar über längere Zeit versteckten, nennen wir heute Stille Helden. Wer waren sie? Und was riskierten sie? Ein Interview klärt die wichtigsten Fragen.
Frau Kosmala, ganz allgemein gesprochen: Wer waren die Menschen, die Juden versteckt haben?
Es ist schwer, die Menschen irgendwelchen Gruppen zuzuordnen. Wir wissen heute, dass die Helfer aus allen Schichten der Bevölkerung kamen und zum Teil sehr unterschiedliche Vorgeschichten hatten. Einen gewissen Anteil bestreiten die Menschen, die von vornherein entschiedene Gegner des Nationalsozialismus waren, aus politischer und religiöser Überzeugung handelten und deswegen so vielen Verfolgten wie möglich helfen wollten. Ein Großteil der stillen Helden, wie wir sie heute nennen, entschloss sich erst kurzfristig, als die Deportationen der Berliner Juden längst begonnen hatten, wenn zum Beispiel jüdische Bekannte und Freunde direkt um Hilfe baten. Auffällig ist, dass mehr als die Hälfte der nichtjüdischen Personen, die halfen, Frauen waren, die entweder alleinstehend waren oder deren Männer sich an der Front befanden.
Wie viele Rettungsgeschichten und Helfer in Berlin sind heute bekannt?
Wir gehen davon aus, dass etwa 5000 bis 7000 Juden versuchten, vor der Deportation nach Osteuropa in den Untergrund zu flüchten. Von ihnen haben bis zu 1800 überlebt. Die Zahl derjenigen, die in Berlin Juden versteckten, schätzen wir auf bis zu 20 000 Menschen. In unserer Datenbank haben wir bisher 4000 nichtjüdische Helfer in Deutschland erfassen können; von ihnen sind 3000 aus Berlin, der Stadt, wo die meisten Juden ein Untertauchen überhaupt erst versucht haben.
Wieso ist die Zahl der Rettungsgeschichten gerade in Berlin so hoch?
Im Oktober 1941, als die systematischen Deportationen aus dem Dritten Reich begannen, befanden sich 45 Prozent aller Juden, die Deutschland nicht mehr verlassen konnten, in Berlin. Die Metropole hatte 1939 insgesamt 4 Millionen Einwohner. Viele Juden waren hier noch bis Ende Februar 1943 als Zwangsarbeiter in kriegswichtigen Betrieben eingesetzt, da waren in anderen Städten die Deportationen fast abgeschlossen. Ihnen blieb deshalb mehr Zeit, die riskante Entscheidung zum Untertauchen zu treffen.
Was war wichtig für das Überleben im Untergrund?
Besonders wichtig war die Hilfe durch Nichtjuden – ob sie bereit waren, das Risiko für die eigene Person einzugehen, jemanden in der eigenen Wohnung zu verstecken. Dann mussten die Helfer über einen langen Zeitraum die Nerven behalten und auch hoffen, dass sie nicht denunziert werden. Auch der Faktor Geld spielt eine Rolle. Wenn sie keine heimlichen Geld- und Wertsachenvorräte hatten, mussten sie selbst etwas verdienen und natürlich auch das Haus verlassen. Gerade Männer im wehrfähigen Alter waren bei Ausgängen gefährdet. Um bei Kontrollen dann nicht aufzufallen, halfen falsche Papiere, die natürlich sehr teuer waren und nur manchmal von Helfern unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurden.
Wie sind die Gefahren für die Helfer einzuschätzen? Welche Strafen gab es für das Verstecken von Juden?
Im Nachhinein schrieben viele Überlebende, ihre Helfer hätten ihr Leben riskiert. So pauschal kann man das für Deutschland nicht sagen, wie wir heute wissen. Angedroht wurde, dass jeder Kontakt zu Juden mit der Einweisung in ein KZ geahndet werde. Tatsächlich wurde im Dritten Reich niemand zum Tode verurteilt, weil er Juden versteckte, es sei denn, es war mit politischem Widerstand verbunden. Die Strafen fielen zum Teil sehr unterschiedlich aus. Allerdings kennen wir einige Fälle, in denen die Helfer die KZ-Haft nicht überlebten. Frauen wurden, wenn sie zum Beispiel eine gute Ausrede hatten, milder bestraft; aber es gibt auch zahlreiche Frauen, die für ihre Hilfe im KZ Ravensbrück büßen mussten. Generell können wir aber natürlich davon ausgehen, dass die Helfer in Angst lebten, weil sie sehr wohl wussten, dass sie sich gegen die Maßgaben des NS-Regimes widersetzten.
Wie lässt sich der Bericht von Erna Segal als Zeitdokument einordnen?
An diesem Fall ist das Besondere, dass der Bericht, der Anfang der 50er Jahre zeitnah zu den Geschehnissen entstand, so ausführlich und detailreich verfasst wurde. Denn oft müssen wir auf Erinnerungen zurückgreifen, die Jahrzehnte später entstanden. In solchen Überlebensberichten kann schon mal die Chronologie der Ereignisse durcheinandergeraten oder andere Akzente gesetzt werden. Dabei hilft ein Vergleich mit anderen Dokumenten aus der Nachkriegszeit, zum Beispiel wenn die Verfolgten 1945/1946 Anträge auf Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ oder später Entschädigungsansprüche stellten. Der Bericht von Erna Segal ist auch ein wertvolles Dokument, weil er einen Einblick in die ungeheuer schwere Entscheidung zum Untertauchen gibt und ein differenziertes Bild vom nichtjüdischen Umfeld der verfolgten Familie vermittelt.
Die Fragen stellte Carmen Schucker.
Carmen Schucker
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