Hebammen in Berlin: Und im Kreißsaal war kein Platz
Berlin wächst, auch durch Geburten. Doch zunehmend müssen Kliniken Schwangere abweisen. Denn es fehlt an Hebammen. Deren Zahl in Krankenhäusern schrumpft. Was sind die Gründe dafür?
Der Eintritt des Jungen in diese Welt gestaltete sich unkompliziert. Glücklicherweise. Denn im Stall von Bethlehem herrschten aus geburtshilflicher Sicht alles andere als optimale Bedingungen. Maria konnte sich bei der Geburt ihres ersten Kindes nur auf die Hilfe ihres Verlobten stützen. Und nicht einmal in einer Herberge war Platz für sie.
Kein Zweifel also, dass es werdende Familien heute besser haben. Zumal in der Hauptstadt mit 20 Geburtskliniken, unter denen gleich acht Perinatal-Zentren sind. Frauenärztliche Geburtshelfer, Hebammen, Kinderärzte und Pflegekräfte kümmern sich um das Wohl von Mutter und Kind, modernste technische Ausstattung, eine möglichst familiäre Atmosphäre und das Eingehen auf individuelle Wünsche gehören selbstverständlich dazu. Anders als die Eltern des kleinen Jesus haben die werdenden Eltern die Wahl, wo sie die Geburt erleben möchten.
Ausgerechnet zur Weihnachtszeit schlagen jetzt aber Berliner Frauenärzte Alarm. Bis zu 90 Mal mussten von Januar bis Oktober in einer der Berliner Geburtskliniken die Geburtsräume für Schwangere geschlossen werden. 405 Frauen wechselten notgedrungen in eine andere Klinik. Das ergab eine aktuelle interne Befragung, die Michael Abou-Dakn, Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe im St. Joseph-Krankenhaus Tempelhof, und sein Kollege Michael Untch vom Helios-Klinikum Buch initiierten und deren Ergebnisse sie dem Tagesspiegel exklusiv mitteilten. Neben Mangel an räumlichen Kapazitäten nennen die Chefärzte der elf Kliniken, die sich beteiligten, als zweiten Hauptgrund für den zeitweiligen Aufnahmestopp das Fehlen von Hebammen.
Hebammen im Kreißsaal sind gesetzlich vorgeschrieben
Im geburtshilflichen Team sind Hebammen unverzichtbar – und das nicht nur von Gesetzes wegen. Doch auch das Krankenhaus-Barometer des Deutschen Krankenhausinstituts 2014 zeigt, dass die Kliniken bundesweit zunehmend Schwierigkeiten haben, freie Stellen zu besetzen. Dabei ist der Beruf bei jungen Frauen nach wie vor beliebt: Auf 20 Hebammen- Ausbildungsplätze der Charité kämen bis zu 600 Bewerberinnen, berichtet etwa Wolfgang Henrich, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin der Charité. Insgesamt geht die Zahl der Interessierten aber etwas zurück – wozu die Debatte über die Versicherungsprämien beigetragen haben könnte. Mindestens so sehr fällt aber ins Gewicht, dass viele examinierte Hebammen nicht aktiv in der klinischen Geburtshilfe tätig sind. Rund ein Drittel spezialisiert sich schon direkt nach der Ausbildung ganz auf die freiberufliche Beratung von Schwangeren und Wöchnerinnen. „Aus unserer Sicht ist es schade, wenn nicht alle Hebammen zunächst das ‚Kerngeschäft‘ ihres Berufs ausüben, die Begleitung während der Geburt“, sagt Abou-Dakn.
Ob man Berufsanfängerinnen aus fachlichen und personellen Gründen verpflichten sollte, eine bestimmte Zeit im Krankenhaus zu verbringen, wird derzeit durchaus kontrovers diskutiert. Eleganter wäre es aus der Sicht der Chefärzte auf jeden Fall, sie für die Arbeit im Kreißsaal positiv einzunehmen. „Wir sollten junge Hebammen, die ihre Ausbildung hinter sich haben, motivieren, in unsere Kreißsäle zu kommen, um hier Berufserfahrung zu sammeln und diesen schönen Beruf auszuüben“, sagt Michael Untch. Er wünscht sich, dass auch die Träger der Kliniken und ihre Geschäftsführer die Problematik sehen – und finanzielle Verbesserungen herbeiführen.
„Welche Hebamme kann von dem Gehalt in einer Großstadt leben?“, fragt Martina Klenk, Präsidentin des Deutschen Hebammenverbandes (DHV). Sie wünscht sich Anreize: außertarifliche Zulagen, zusätzliche freie Tage. Susanne Steppat vom Präsidium des DHV spricht von einer „Berufsflucht aus den Kliniken“. In einer Befragung von 1700 Hebammen, die der DHV in Auftrag gegeben hat, wird vor allem der Stress im Beruf dafür verantwortlich gemacht. Fast die Hälfte der im Kreißsaal tätigen Hebammen geben an, häufig drei Frauen parallel zu betreuen, manchmal sogar vier oder mehr. Die befragten Klinikhebammen beklagen sich über beträchtliche Arbeitsverdichtung, berichten von zunehmenden Überstunden, finden im Alltag oft keine Zeit für die vorgeschriebenen Pausen. 19 Prozent würden ihre Klinik Freunden und der Familie nicht weiterempfehlen, 29 Prozent würden ihren Arbeitsplatz einer Kollegin, die auf Stellensuche ist, eher nicht weiterempfehlen, 18 Prozent denken häufig über einen Arbeitsplatzwechsel nach.
Wie die Befragung zeigt, arbeiten derzeit nur rund 20 Prozent der Hebammen Vollzeit, jede dritte weniger als 20 Stunden pro Woche – zunehmend in der Vor- und Nachsorge oder als Familienhebamme. Dafür dürfte nicht allein Stress ausschlaggebend sein. „Es ist offensichtlich eine Mischung von Gründen, die Hebammen mit der Arbeit im Krankenhaus unzufrieden machen“, meint Abou- Dakn. Einer liegt sozusagen in der Natur der Sache und kann nicht so leicht beseitigt werden: dass in der Geburtshilfe an sieben Tagen in der Woche 24 Stunden lang etwa gleich viel Arbeit anfällt. Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, ist deshalb ausgerechnet an dem Ort, an dem andere ihre neuen Familienmitglieder erstmals begrüßen können, besonders schwierig. Ist die Personaldecke so dünn wie heute und fehlen finanzielle Anreize, die das Einspringen für erkrankte Kolleginnen attraktiver machen, wird das Überbrücken solcher Engpässe in den Kliniken zur schier unlösbaren Aufgabe. Daten aus einer anderen Großstadt, München, deuten darauf hin, dass ein Belegsystem, bei dem die Hebammen direkt mit der Klinik abrechnen, auch finanziell für größere Zufriedenheit sorgt.
Weil zumindest unkomplizierte, aber personalintensive Geburten für Kliniken kein einträgliches Geschäft sind, sie andererseits heute aber oft den Löwenanteil der Kosten für Ausbauten tragen müssen, wünschen sich die frauenärztlichen Geburtshelfer, die an der Berliner Befragung teilnahmen, mehr Engagement der Politik. Der Senat müsse Investitionszulagen machen, um Zentren auszubauen, und es müsste gemeinsame Anstrengungen geben, um die Bezahlung in der Geburtshilfe an die Erfordernisse anzupassen.
Dass Jahr für Jahr mehr kleine Berliner auf die Welt kommen, ist aktenkundig: Waren es um 2000 noch unter 30 000 jährlich, wurden 2015 schon 38 030 Kinder geboren. Die Stadt wächst. Und die Geburtshelfer haben einen Weihnachtswunsch an den neuen Senat: „In Berlin sollte auf den Bevölkerungszuwachs nicht nur durch mehr Wohnraum und Ausbau der Kitas reagiert werden, sondern auch durch eine Unterstützung der Kreißsäle.“
Mehr Informationen zum Thema Schwangerschaft und Geburt finden Sie in der Ausgabe Nr. 2 des Magazins „Tagesspiegel GESUND“ mit dem Schwerpunkt „Mutter werden in Berlin“. Darin unter anderem: „Engel in Blau – das Porträt einer Hebamme“. Außerdem enthält das Heft Fakten über Kinderwunschbehandlung und Artikel zu Komplikationen bei der Geburt, zum Kaiserschnitt und Berlins größter Frühchenstation. Auch für die Phase nach der Geburt hält es Themen bereit, unter anderem zur Rückbildungsgymnastik, zu Vorsorgeuntersuchungen für das Baby und Ernährungstipps. „Tagesspiegel GESUND“ (6,50 Euro) ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, Askanischer Platz 3, www. tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520, sowie im Zeitschriftenhandel.