„Mehr Personal noch vor der Wahl“: Unbefristeter Pflegestreik in Berliner Charité und Vivantes-Kliniken hat begonnen
Der Streit um die Pflege eskaliert: Die Beschäftigten gehen auf die Straße, tausende Termine werden verschoben. Eine Notdienstvereinbarung gibt es noch nicht.
An den Berliner Krankenhäusern Charité und Vivantes läuft seit dem frühen Donnerstagmorgen ein unbefristeter Streik der Beschäftigten. Unter Berücksichtigung der Bettensituation würden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vivantes-Muttergesellschaft sowie der Charité nach und nach aus der Frühschicht geholt, sagte Verdi-Verhandlungsführerin Meike Jäger. Es gebe nach wie vor keine Notdienstvereinbarung mit den beiden Einrichtungen.
Gewerkschaftssekretär Ivo Garbe ging am Morgen davon aus, dass an den verschiedenen Krankenhausstandorten mehr als 1000 bis 2000 Beschäftigte dem Streikaufruf der Gewerkschaft gefolgt seien.
Die Beschäftigten der Vivantes-Tochtergesellschaften, die zum Beispiel für Reinigung und Speiseversorgung zuständig sind, sollen dagegen befristet am Donnerstag und Freitag bis zum jeweiligen Dienstende die Arbeit niederlegen, einschließlich der am Samstagmorgen endenden Nachtschicht.
Vor der Senatsverwaltung für Finanzen in Mitte versammelten sich am Vormittag mehrere Hundert Streikende zu einer Kundgebung. Die Gewerkschaft sprach sogar von "bis zu 1000". Mit Sprechchören wie "TVöD für alle an der Spree" oder "Mehr Personal noch vor der Wahl" machten sie die Dringlichkeit ihres Anliegens deutlich.
Anschließend sollte ein Demonstrationszug zur Gesundheitsverwaltung führen, wo gegen 12 Uhr eine Abschlusskundgebung geplant ist.
Die Gewerkschaft kämpft für bessere Arbeitsbedingungen und eine höhere Bezahlung der Beschäftigten in Tochterfirmen. Vorausgegangen waren auch gerichtliche Auseinandersetzungen. Unter anderem ging es um Notdienst-Regelungen.
Von den insgesamt fast 9000 Betten der beiden Klinikkonzerne werden nach Schätzungen von Ärzten in den kommenden Tagen 1500 gesperrt. Auf jedem Campus der Universitätsklinik und in allen acht Vivantes-Krankenhäusern wurden deshalb zahlreiche Termine verschoben. Nach Tagesspiegel-Informationen wurden allein für Donnerstag 900 Behandlungen abgesagt.
Die Leitungen von Vivantes und Charité informieren auf ihren Internetseiten über Einschränkungen. Notfälle, das hat Verdi zugesichert, werden wie gewohnt versorgt. Wenn nun, wie grobe Schätzungen zeigen, täglich bis zu 1000 Behandlungen ausfallen, nehmen die städtischen Krankenhäuser jeweils Hunderttausende Euro pro Tag weniger ein.
Selbst von Patienten kommen Solidaritätsadressen
Die Gewerkschaft hatte ihre Mitglieder in den Kliniken in einer Urabstimmung befragt: 98 Prozent der in Verdi organisierten Beschäftigten von Charité und Vivantes votierten für den Ausstand. Wie viele Pflegekräfte insgesamt organisiert sind, ist nicht öffentlich bekannt: Noch vor zehn Jahren waren weniger als 15 Prozent der Pflegekräfte einer Gewerkschaft beigetreten, inzwischen dürften es dreimal so viele sein.
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Verdi hat den Tarifkampf mit einer eigenen politischen Kampagne gut vorbereitet – Kritik am Ausstand gibt es kaum, selbst von Patienten kommen Solidaritätsadressen. Landeschef Michael Müller (SPD), der dem Charité-Aufsichtsrat vorsitzt, wird täglich über den Verlauf des Arbeitskampfes informiert.
Einzelne Sozialdemokraten vermitteln seit Tagen zwischen den Verdi-Verhandlern und den Klinik-Spitzen. Zuletzt hatten sich beide Seiten angenähert. Nun könnten neue Gespräche jedoch erst stattfinden, wenn der Streik ausgesetzt würde, teilten die Klinikvorstände am Mittwoch mit.
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Die Streikenden wollen in zwei Fragen deutliche Verbesserungen. Politisch bedeutsam ist vor allem der von Verdi geforderte „Entlastungstarifvertrag“. Dabei geht es um einen einklagbaren Personalschlüssel für mehr Pflegekräfte, der zehn bis 15 Prozent mehr Mitarbeiter an den Krankenbetten erforderlich machen würde.
Für Charité und Vivantes hieße das, es müssten mindestens 1000 Pflegekräfte zusätzlich eingestellt werden. Die Beschäftigten der Vivantes-Tochterfirmen für Reinigung, Transport und Küche fordern zudem für sich den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes, der in den Vivantes-Stammhäusern gilt.
Vivantes-Vorstand bietet Modell für Entlastung in der Pflege an
Vivantes-Personalchefin Dorothea Schmidt nannte den Streik „unverständlich“, erst am Montag habe man mit Verdi über ein Modellprojekt zur Entlastung gesprochen und angeboten, die Arbeit auf den Stationen genauer am eingesetzten Personal zu orientieren – also Behandlungen zu verschieben oder Betten zu sperren, wenn eine bestimmte Personalquote nicht eingehalten würde.
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Vivantes-Vorstand und Charité-Spitze erklärten sich auch bereit, die geforderten Pflegekräfte anzuwerben – zumal überwiegend die Krankenkassen dafür zahlen müssten. Doch auf dem Arbeitsmarkt gebe es so viele ausgebildete Pflegekräfte derzeit nicht. Das geforderte Lohnplus in Tochterfirmen bezifferte Vivantes mit mindestens 30 Millionen Euro im Jahr – was sich die Klinikkette nach der Minusbilanz für 2020 nicht leisten könne.
Der Präsident der Berliner Ärztekammer, der Internist Peter Bobbert, sagte dem Tagesspiegel: „Wenn man jahrelang den falschen Weg gegangen ist, lässt sich das nicht in wenigen Wochen korrigieren. Die Arbeitsbedingungen – nicht nur, aber gerade – in der Pflege sind oft schlecht. Den Pflegekräften gilt unsere volle Solidarität.“
Verdi gehört zum Deutschen Gewerkschaftsbund, zahlt seinen Mitgliedern wegen des ausfallenden Lohns wie üblich Streikgeld und gewährt zudem Rechtsschutz im individuellen Streitfall mit Vorgesetzten. In den Vivantes-Kliniken verhandelt derzeit zugleich der Marburger Bund um mehr Geld für die Ärzte.