Hilfe für pflegende Angehörige: Unabhängig beraten lassen
Was tun, wenn Eltern oder Partner nicht mehr allein zurechtkommen? Der erste Gang führt zur Krankenkasse, die Berliner Pflegestützpunkte lotsen durchs Gesetzesdickicht
80 Jahre lang war Anneliese Herbst (Name von der Redaktion geändert) kerngesund. Dann kamen die altersbedingten Beschwerden. Arthrose im Knie, Herzschwäche, periphere arterielle Verschlusskrankheit und eine Brustkrebsoperation setzten der alten Dame sichtlich zu. Auch der früher so wache Kopf ließ nach, wie es bei vielen älteren Menschen der Fall ist, die nicht mehr ohne Hilfe aus dem Haus können und oft alleine sind. Mit zunehmender Gebrechlichkeit kam auch der schleichende Verlust von Alltagsfähigkeiten: Einkaufen, Essen machen, Bankgeschäfte und Haushaltsführung mussten nach und nach andere für sie übernehmen.
Der Punkt, an dem ihre Kinder wussten „Mutter ist jetzt ein Pflegefall“ kam aber erst nach einem leichten Schlaganfall. Da war Anneliese Herbst 85 Jahre alt – und ab sofort einer von rund drei Millionen Menschen in Deutschland, die pflegebedürftig sind. Von ihnen leben gut zwei Drittel zu Hause und ein Drittel in einem Pflegeheim.
Vor welchen Herausforderungen stehen professionell Pflegende, aber auch pflegende Angehörige? Was sind die dringendsten Probleme, die von der Politik und weiteren Akteuren angepackt werden müssen? Und welche neuen Trends zeichnen sich in der Branche ab, etwa im Zusammenhang mit der Digitalisierung? Das diskutieren Pflegeexperten noch bis zum 17. März in Berlin auf dem diesjährigen Deutschen Pflegetag, den auch der neue Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) besuchte.
Frau Herbst hat Glück. Sie wird zu Hause von ihren Kindern und einem ambulanten Pflegedienst versorgt. „Ein Pflegeheim kam für uns nie in Frage“, sagen ihre drei Kinder. Während Sohn und zwei Töchter im Wechsel jeden Tag nach ihr gucken und praktisch alles für sie erledigen, kümmert sich der Pflegedienst um die Dinge, die die Familie nicht leisten kann: Körperpflege, Wundversorgung, Medikamente.
Die Kasse schickt einen Gutachter vom Medizinischen Dienst
Nach dem Schlaganfall verständigte der Sohn zunächst die Krankenkasse. Dort sitzt nämlich die Pflegekasse, bei der man eine Pflegestufe – heute ist es ein Pflegegrad – beantragen muss. Die Kasse schickt dann einen Gutachter vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) vorbei. Meist sind das Krankenpfleger, manchmal auch Ärzte.
Bei Anneliese Herbst wurde der Antrag zuerst abgelehnt. Das ist keine Seltenheit wie Zahlen des MDK zeigen, wonach mehr als 30 Prozent einen negativen Bescheid erhalten. Doch ihre Kinder legten Widerspruch ein – mit Erfolg: Die Rentnerin bekam die Pflegestufe II. Dass man zwischen Pflegegeld, ambulanten Sachleistungen oder einer Kombination aus beidem wählen kann, erklärte ihnen eine Beraterin vom Berliner Pflegestützpunkt, die auch den Hinweis auf den Widerspruch gab. Außerdem riet sie zu einem Hausnotrufsystem. Der rettende „Knopf“ wird von den Kassen bezuschusst, wenn ein Pflegegrad bewilligt ist. All das wussten die drei „Pflegeneulinge“ damals noch nicht. „Die Kasse war zwar grundsätzlich sehr kooperativ, aber die wertvollsten Informationen kamen vom Pflegestützpunkt“, verrät der 55-jährige Sohn. Seiner Erfahrung nach sollte sich jeder pflegende Angehörige an mindestens eine unabhängige Beratungsstelle wenden. „Für uns war die Beratung eine prima Orientierung und dazu noch bares Geld.“
Wenn man – wie in diesem Fall – mit einem Pflegedienst arbeitet, rechnet sich die Kombinationspflege immer. Das nicht verbrauchte Budget zahlt die Kassen anteilig dem Pflegebedürftigen als Pflegegeld aus. Unabhängig davon können bei der Kasse weitere Leistungen beantragt werden, zum Beispiel Hilfsmittel wie Inkontinenzeinlagen, ein Pflegebett oder ein Rollstuhl. Das haben auch die Kinder von Frau Herbst getan. Als es ihr immer schlechter ging, haben sie außerdem einen höheren Pflegegrad beantragt.
Die Reform soll Angehörige entlasten - wenn sie denn davon wissen
Dass der Pflegegrad IV nach einer erneuten Begutachtung prompt bewilligt wurde, mag auch an der jüngsten Pflegereform liegen. Seit Inkrafttreten im Januar 2017 kommt es darauf an, wie selbstständig ein Mensch seinen Alltag gestalten kann. Hat er damit Probleme – egal ob aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung – bekommt er einen Pflegegrad und damit Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung.
Die Reform soll außerdem die Pflege zu Hause stärken und pflegende Angehörige entlasten, zum Beispiel über die Kurzzeit- und Verhinderungspflege, so dass der „größte Pflegedienst Deutschlands“ auch mal Urlaub machen kann. Frau Herbsts Kinder allerdings haben – wie viele andere pflegende Angehörige – bislang noch keinen Gebrauch von diesem Angebot gemacht. Auch die Entlastungsleistung von 125 Euro im Monat nutzen sie nicht, obwohl eine Mitarbeiterin der Pflegekasse ausdrücklich darauf hingewiesen hatte.
Dabei können unter anderem „anerkannte Angebote zur Unterstützung im Alltag“ genutzt werden. Anerkannt bedeutet, dass professionelle Anbieter wie Pflegedienste bestimmte Aufgaben übernehmen. Das kann die Begleitung zum Arzt, das Einkaufen oder eine Nachtpflege sein. Das Problem ist aber, dass den Anbietern oft das Personal dafür fehlt. Und: Viele Angehörige kennen die Zusatzleistung gar nicht, ergab eine Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP). Jeder Dritte weiß demnach nicht genau, was dem von ihm versorgten Pflegebedürftigen neuerdings zusteht. Fast jeder zweite sieht bei den Leistungen der Pflegeversicherung auch für sich ein Informationsdefizit.
Die Entlastungsleistung wird nicht an Angehörige selbst gezahlt
Die Entlastungsleistung von 125 Euro im Monat können sich Angehörige auch nicht für die vielen eigens geleisteten ehrenamtlichen Stunden auszahlen lassen. Ebenso wenig dürfen Anbieter sogenannter 24-Stunden-Betreuungsdienste mit den Kassen abrechnen. „Eine Lücke im System“, findet Ulrich Schindler, der eine solche Agentur betreibt. Der Gesetzgeber lasse die Familien mit einem großen Problem im Stich.
Rund ein halbe Million Menschen in Deutschland werden seiner Auskunft nach von Osteuropäerinnen gepflegt. Das 24-Stunden-Modell verhindert, dass Menschen, die nicht mehr alleine leben können, ins Pflegeheim müssen. Allerdings verlangen Agenturen bis zu 3000 Euro im Monat. Selbst bei einem hohen Pflegegrad reicht das Pflegegeld hierfür vorne und hinten nicht. Drauflegen muss man in einem solchen Fall so oder so. Auch für das Pflegeheim werden in Berlin im Schnitt jeden Monat Zuzahlungen von 1800 Euro fällig. „Die Pflegeversicherung ist keine Vollkasko“, sagt die Chefin von Anneliese Herbsts Pflegedienst.
Die Familie der Seniorin hat sich vor kurzem für die 24-Stunden-Lösung entschieden. „Es ging nicht mehr anders“, sagen ihre Kinder. „Und es ist besser, als wenn einer von uns den Job hätte aufgeben müssen.“ Die drei haben sich übrigens nicht nur vom Pflegestützpunkt, sondern auch vom Bürgertelefon des Bundesgesundheitsministeriums beraten lassen und ansonsten Augen und Ohren offengehalten. So kam der wichtige Hinweis, dass eine rechtzeitig erteilte Vorsorgevollmacht Gold wert sein kann, aus dem Freundeskreis. Sie regelt, wer im Notfall wichtige Entscheidungen für den Vollmachtgeber treffen darf, wenn dieser selbst dazu nicht mehr in der Lage ist.
Pflegestützpunkte Berlin, pflegestuetzpunkteberlin.de, kostenfreies Servicetelefon: 0800/59 500 59
Bürgertelefon des Bundesgesundheitsministeriums zur Pflegeversicherung: 030/340 60 66 - 02
„Pflege Berlin 2017/2018“, Ratgeber des Tagesspiegels mit vielen Tipps & Adressen, 180 Seiten, 12,80 Euro, im Handel und im Tagesspiegel-Shop, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin
wege-zur-pflege.de, Internetseite des Bundesfamilienministeriums, Beratung für Angehörige unter Telefon: 030/2017 9131
Beatrice Hamberger