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Zehn Medikamente wurden zurückgerufen.
© imago/Eibner Europa
Update

Skandal um Krebsmedikamente: "Um Betroffene kümmert sich niemand"

Der Skandal um womöglich unwirksame Medikamente zieht weitere Kreise. Die Ermittlungen in Brandenburg zeigen: Auch Berlin ist betroffen. Die Folgen sind noch unklar.

Für Erkrankte wird der Brandenburger Medikamentenskandal zu einer immer größeren, zusätzlichen Belastung. Seit einer Woche ist bekannt, dass offenbar gestohlene, teils unwirksame Krebsmedikamente für Chemotherapien in Umlauf waren. Die gesundheitlichen Folgen für Patienten aber sind noch vollkommen unklar. Und so gilt weiter, was Brandenburgs Gesundheitsstaatssekretärin Almuth Hartwig-Tiedt am Mittwoch erklärt hat: „Wir können heute nicht genau sagen, ob die Medikamente gesundheitsgefährdend waren oder nicht.“

Für Betroffene eine Tortur. „Ich bin erschüttert über die Ignoranz und Untätigkeit“, sagt eine Krebskranke aus Berlin dem Tagesspiegel am Telefon. Bereits am vergangenen Donnerstag hat sie von dem Fall gehört, auch eine Woche später hat ihr jedoch noch niemand sagen können, ob die Medikamente, die sie in den vergangenen Monaten genutzt hat, überhaupt wirksam waren. „Das ist doch kein verstauchter Finger. Ich kämpfe jeden Monat um Lebensverlängerung“, sagt die Frau, die anonym bleiben möchte, mit tränenerstickter Stimme.

Weil sie eine medizinische Grundausbildung hat, achtete sie bei ihrer Behandlung darauf, keine reimportierten Medikamente zu bekommen. Trotzdem kann ihr auch eine Woche nach Bekanntwerden des Skandals niemand sagen, ob ihre Arzneien nicht doch verunreinigt oder wirkungslos waren. Dabei hat sie sich bereits an ihren behandelnden Arzt und ihre Praxis gewandt. „Um uns Betroffene kümmert sich einfach niemand – wir sind zu schwach.“ Auch ein weiterer Leser dieser Zeitung meldete sich am Donnerstag besorgt via Mail. Öffentlich äußern will er sich jedoch nicht, zu groß ist die zusätzliche Belastung.

Zehn Krebsmedikamente zurückgerufen

Inzwischen wurde immerhin bekannt, welche Medikamente das brandenburgische Gesundheitsministerium am Dienstagabend zurückgerufen hat. Die Liste, die zuerst das Branchenblatt „Apotheke Adhoc“ publik gemacht hat und die auch dem Tagesspiegel vorliegt, listet zehn Krebsmedikamente auf. Namentlich sind das: Adcetris, Afinitor, Alimta, Herceptin, Mabthera, Neulasta, Tracleer, Vectibix, Velcade und Xgeva. Alle Arzneien sind mit Lieferscheinen aus den Jahren 2016 oder 2017 ausgestellt und gelten als „unbestätigte gestohlene Produkte“.

Auch eine Lieferantenliste der verdächtigten Medikamentenfirma Lunapharm liegt dieser Zeitung vor. Demnach wurden mehrere Großlieferanten sowie mindestens 15 Einzel-Apotheken bundesweit beliefert – darunter auch eine Apotheke in Berlin, die mit vier Medikamenten beliefert worden war.

Vier betroffene Einrichtungen in Berlin

Nach Angaben der Berliner Gesundheitsverwaltung wurden sieben Praxen oder medizinische Einrichtungen mit möglicherweise gestohlenen Arzneimitteln beliefert, vier davon in Berlin. "Das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) hat im Zuge des Rückrufs von vermutlich in Griechenland gestohlenen und über einen Brandenburger Pharmagroßhandel weiterverkauften Krebsmedikamenten die Information erhalten, dass auch eine Berliner Apotheke mit vier verschiedenen Medikamenten beliefert worden ist", heißt es in der offiziellen Stellungnahme. Die Apotheke wurde "überprüft und festgestellt, dass alle betroffenen Medikamente bereits abgegeben worden sind".

Zwischen "September 2015 und März 2017" wurden demnach die sieben Arztpraxen beziehungsweise medizinische Einrichtungen, mit möglicherweise gestohlenen Arzneimitteln beliefert, davon vier in Berlin. "Da der Großhändler eine gültige Handelserlaubnis hat, war für die Apotheke nicht erkennbar, dass es sich um gestohlene Arzneimittel handeln könnte", heißt es in der Mitteilung. "Derzeit gibt es keine Erkenntnisse, dass in Berlin Patienten geschädigt wurden. Die Empfänger der betroffenen Arzneimittel werden jetzt von der Apotheke informiert, damit diese wiederum individuell ihre Patientinnen und Patienten ansprechen können.

Apotheker: Arbeit der Aufsichtsbehörden verbessern

Der Apotheker Franz Stadler, der in die Recherchen der ARD eingebunden war, äußert sein Unverständnis für die Rückrufaktion des Ministeriums: „Was da jetzt zurückgerufen wird, wird wohl schon längst verabreicht worden sein.“ Für Stadler sind die Lehren aus dem aktuellen Skandal schon jetzt klar. Man müsse die Arbeit der Aufsichtsbehörden verbessern und die Importquote der Apotheken abschaffen.

Tatsächlich sind deutsche Apotheken gesetzlich dazu verpflichtet, einen gewissen Anteil an preisgünstigen, importierten Medikamenten zu verschreiben. Erfüllt eine Apotheke diese Quote nicht, drohen ihr Strafzahlungen. „Erst im vergangenen Monat habe ich wieder 1900 Euro zahlen müssen“, berichtet Stadler. Profiteure dieser Regelung seien Händler und Kassen. Es gehe nur noch um Profit statt Arzneisicherheit, sagt Franz Stadler.

Krankenkassen haben sich eingeschaltet

Bei der unabhängigen Patientenberatung Deutschland habe sich bis Donnerstagabend noch kein möglicherweise betroffener Patient gemeldet, sagt deren ärztlicher Leiter, Johannes Schenkel. „Ratsuchende könnten wir im Moment auch fast nur vertrösten“, sagt Schenkel, der von einer „unbefriedigenden Informationslage“ spricht. Gerade für Krebspatienten sei es jedoch fatal, wenn die Arzneien ihre Wirksamkeit verlieren würden. „Es bedarf jetzt einer schnellen Aufklärung von allen Verantwortlichen“, fordert Schenkel.

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Auch die Krankenkassen haben sich eingeschaltet. Die AOK Nordost habe sofort nach dem Bekanntwerden der Ermittlungen gegen das Unternehmen Lunapharm Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft gestellt und um eine zeitnahe Möglichkeit der Akteneinsicht gebeten, sagt ein Sprecher. Vorrangiges Ziel der Kasse sei es jetzt, so schnell wie möglich herauszufinden, ob ihre Versicherten mit den gestohlenen Krebsmedikamenten versorgt wurden. Auch um zu prüfen, ob eventuelle gesundheitliche Einschränkungen für die Versicherten zu befürchten seien.

Die rechtlichen Folgen des Skandal sind noch nicht absehbar. Der Münchner Medizinrechtler Christian Bichler sagt, für eine strafrechtliche Verurteilung reiche nach dem Arzneimittelgesetz schon der begründete Verdacht, dass die Arzneimittel schädliche Wirkungen haben, die über ein vertretbares Maß hinausgehen. Sie gelten dann als „bedenklich“. Der Nachweis, dass die Medikamente tatsächlich zu einem Patientenschaden geführt haben, sei – zumindest strafrechtlich – nicht erforderlich.

Schadensersatz gestaltet sich schwierig

Krebspatienten und deren Angehörige, die zivilrechtlich Schadenersatz verlangen wollen von den Tätern, haben es weitaus schwerer beim Nachweis des Schadens. Sie müssten beweisen können, dass ihnen gerade durch ein qualitätsgemindertes Arzneimittel ein Schaden entstanden ist, sagte Bichler. Und es gehe um den Nachweis, ob es den Betroffenen besser gehen könnte oder ob mittlerweile Verstorbene noch leben könnten, wenn ihnen ein anderes, ordnungsgemäß gelagertes Medikament verabreicht worden wäre. Noch schwieriger werde es sein, durch Staatshaftungsklagen, etwa gegen das Land Brandenburg, Schadensersatzansprüche geltend zu machen, sagt Bichler.

Für einen begründeten Verdacht gibt es aber zumindest deutliche Anhaltspunkte: Die Behörden in Griechenland erklärten, dass ein ordnungsgemäßer Transport und kühle Lagerung „nicht gegeben waren“. Seit 2013 sind in griechischen Krankenhäusern die Medikamente gestohlen worden. Ein Brandenburger Händler soll die Präparate über eine Apotheke in Griechenland importiert und in Deutschland vertrieben haben. Bereits im Dezember 2016 hatte es erste Hinweise darauf gegeben.

Die Staatsanwaltschaft Potsdam ermittelt seit April 2017 wegen Hehlerei und Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz. Die Ermittler informierten auch das Landesgesundheitsamt. Doch das untersagte der Firma im Juni 2017 nur den Handel mit der Apotheke in Griechenland. Der Rückruf der Medikamente erfolgte erst in dieser Woche.

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