Doktor Körners gesammeltes Schweigen: Ulrich Matthes vibriert wie ein Handy
Was erfährt man über einen Menschen, wenn man nicht mit ihm spricht? Torsten Körner trifft Ulrich Matthes.
Ulrich Matthes ist pünktlich, aber noch in Worte gehüllt. Er plaudert mit dem Fotografen. Als er mich sieht, schlägt er beide Hände vor den Mund wie ein Schweigemönch, den der strenge Abt beim Schwatzen ertappt hat. Ein Plauderfeind ist Herr Matthes offenbar nicht. Was nun? Die Gedächtniskirche, wo wir gemeinsam schweigen wollten, ist gottesdienstvoll. Wir zucken ratlos mit den Achseln. Der Schauspieler wirkt leicht verlegen. Er will authentisch sein, das Schweigen nicht spielen. Ich lege mein Ohr an seinen Parka-Rücken, Passanten schauen irritiert. Der Rücken hält die Klappe, auch wenn es ihm schwerfällt. Ich höre Matthes denken: „Hat der 'n Rad ab?“
Wir stromern steif über den Weihnachtsmarkt. Gemeinsames Schweigen ist echt eine verdammt intime Nummer! Nur langsam richtet sich mein Partner im Schweigen ein. Schaut hier, schaut da, verwundert wie ein Kind, das zum ersten Mal die große Stadt erlebt. Matthes lässt erste Schweigegenussmomente erkennen. Er vibriert wie ein Handy auf stumm. Das Europacenter schluckt uns. Und plötzlich explodiert die innere Stille, jetzt ist sie ein Trip: Die Dinge krakeelen, das Center flennt, billige Düfte kreischen. Jetzt wirft sich Matthes begeistert ins Schweigen, denn es schärft die Sinne: Er neigt den Kopf und lauscht auf ein synthetisches Vogelgezwitscher, inmitten einer Geselligkeitslandschaft umtost ein Wasserfall wortlose Paare. Matthes zieht es nun zu Saturn, die Rolltreppen seufzen. Jedes Medienkaufhaus ist ein Inferno, aber Matthes wirkt nun fast erlöst, als trage er eine subversive Botschaft in den Quasseltempel. Seine braunen Knopfaugen glucksen vor Freude. Er springt wie ein junger Mann durch die Gänge, landet endlich in der Klassikabteilung und kauft eine Gershwin-CD. Warum Gershwin? Ich verschlucke die Frage.
Matthes hat sich jetzt schwungvoll in unsere Schweigespirale geworfen, fast stürzt er die Rolltreppe hinunter, als er sie entgegen der Laufrichtung betritt. Er kichert lautlos, zeigt auf ein paar riesige Plüschtiere, die für einen Blockbuster die Zähne fletschen. Er ist nun ganz und gar ins Schweigen eingezogen, jongliert mit schmalen Schultern tausend Rollen wortlos und synchronisiert jede Sprache ins Stillsein. Ich fürchte, für seinen Beruf ist der Mann verloren. Dann flattert er davon in seinem mit Schweigen gefütterten Parka.
Ulrich Matthes, geboren 1959 in Berlin, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Er hat eigentlich eine sehr klangvolle Stimme.
Dr. Torsten Körner, geboren 1965 in Oldenburg, ist Journalist und Schriftsteller. Für diese Kolumne im Magazin "Tagesspiegel BERLINER" führt er Interviews ohne Worte.
Dieser Text ist zuerst gedruckt im Magazin "Tagesspiegel Berliner" erschienen, das Sie hier online lesen und herunterladen können.