Landesparteitag: Überraschender Führungswechsel bei den Piraten
Der bisherige Vorsitzende der Berliner Piratenpartei, Gerhard Anger, ist nicht zur Wiederwahl angetreten. Prominente Piraten sehen einen Zusammenhang zur parteiinternen Affäre um Erpressungsvorwürfe.
Überraschend ist der Landesvorsitzende der Piratenpartei Berlin, Gerhard Anger, am Sonnabend auf einem Landesparteitag nicht zur Wiederwahl angetreten. Die Mitglieder wählten daraufhin den 45-jährigen Ingenieur Hartmut Semken zu ihrem neuen Vorsitzenden mit einer Amtsperiode von einem Jahr. Bei seiner Vorstellung hatte Semken gesagt, er sehe die Piraten als "Ein-Themen-Partei", und dieses Thema sei die "Freiheit des Einzelnen". Zur stellvertretenden Parteivorsitzenden wählten die Piraten Christiane Schinkel.
Der Parteichef Gerhard Anger hatte angekündigt, zur Wiederwahl anzutreten, zog diese Kandidatur aber zu Beginn des Parteitags zurück. Er begründete seine Entscheidung damit, er ertrage die emotionale Belastung durch das Amt nicht länger. Er sagte, er wolle nicht zu einer "kalten" Person werden und wolle sich dem Druck, den so ein Amt nun einmal mit sich bringe, nicht mehr aussetzen.
Andreas Baum, Vorsitzender der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus, sieht den Auslöser für Angers Entscheidung in einer Affäre um Erpressungsvorwürfe, die mittlerweile zu Parteiausschlussverfahren gegen die beiden Hauptbeteiligten geführt hat.
Vor einigen Wochen hatte das Parteimitglied Sebastian Jabbusch schwere Vorwürfe der Erpressung und Datenspionage gegen ein jugendliches Parteimitglied öffentlich gemacht. Daraufhin kam es zu einer heftigen parteiinternen Debatte. Einige Mitglieder stellten sich auf die Seite Jabbuschs und erhoben Vorwürfe auch gegen den Landesvorstand, gegen den Jugendlichen nicht angemessen vorzugehen. Andere Piraten warfen Jabbusch vor, der Partei schlechte Schlagzeilen beschert und einen Jugendlichen denunziert zu haben.
Auch Martin Delius, Parlamentarischer Geschäftsführer der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus, stellte den Zusammenhang zwischen der Affäre und dem Rückzug Angers her. Der Druck auf den scheidenden Parteichef sei in den vergangenen Monaten enorm gewesen. Er könne sich vorstellen, dass Anger sich diesem Druck nicht weiter aussetzen wolle.
Fraktionschef Baum sagte, es habe "viel Knatsch, viele Verwicklungen" gegeben. Er hoffe, dass solche Vorgänge nicht zur Regel würden. Nun müssten die Piraten alles dafür tun, den Umgang miteinander im Landesverband zu verbessern. Er rechne damit, dass der Rückzug viele Piraten zum Nachdenken bringen werde.
Anger selbst sagte dem Tagesspiegel, die Affäre sei nicht ausschlaggebend für seine Entscheidung gewesen. Er habe sich angesichts dessen aber gefragt, ob er sich vorstellen könne, auch Krisensituationen wie diese emotional durchzustehen und habe diese Frage schließlich mit "nein" beantwortet. "Die Erwartungen an einen Vorsitzenden sind in solchen Situationen vermutlich unerfüllbar hoch", sagte Anger.
Die anwesenden Piraten spendeten Anger nach dessen Erklärung starken Applaus. Alexander Morlang, Mitglied der Fraktion im Abgeordnetenhaus, ergriff das Wort und dankte Anger im Namen der Partei für seinen Einsatz als Landesvorsitzender im vergangenen Jahr. Martin Delius sagte, Anger sei "uneingeschränkt" ein guter Vorsitzender gewesen. Der 36-Jährige hatte den Landesverband ein Jahr lang geführt.
Nach Angers Rückzug traten vier Kandidaten zur Wahl des Vorsitzenden an, als Favoritin galt die bisherige Schatzmeisterin Katja Dathe. Doch sie unterlag überraschend Hartmut Semken. Die Piraten wählten nach einem Verfahren, bei dem jeder Wählende mehrere Kandidaten unterstützen kann. Unter den 305 Piraten, die ihre Stimme abgaben, gab es am Ende mit 160 die meisten Unterstützer für Semken. Dieser sagte, als Vorsitzender wolle er "rein administrativ" tätig sein. "Was Themen angeht, habe ich Pause", denn für inhaltliche Arbeit sei die Basis zuständig.
Bei seiner Vorstellung hatte Semken gesagt, er habe eine Weile gebraucht, um festzustellen, dass es bei den Piraten niemandem gibt, der einem sage, was man zu tun habe. "Und dann habe ich noch eine Weile gebraucht, um zu erkennen: Das ist gut so."
Semken wurde in Niedersachsen geboren und wuchs seit seinem achten Lebensjahr in West-Berlin auf. Er lebt in Friedrichshain und arbeitet als Entwicklungsingenieur im Mobilfunk-Bereich. Bei der Piratenpartei engagiert ist er seit 2009, als politischen Schwerpunkt nennt er die Bildungspolitik. Er selbst habe als Sohn einer Sozialhilfeempfängerin das große Glück gehabt, studieren zu können, und es belaste ihn, dass solche Bildungskarrieren heute nicht mehr möglich seien.
Nach der Entscheidung für Semken komplettierte der Parteitag mit weiteren Wahlen den fünfköpfigen Vorstand. Zur stellvertretenden Parteivorsitzenden wurde Christiane Schinkel gewählt, neuer Schatzmeister ist Enno Park. Der Parteitag geht am Sonntag weiter. Es soll dann auch um Themen wie beispielsweise den geplanten Neubau einer Zentral- und Landesbibliothek und den Lärmschutz am künftigen Großflughafen in Schönefeld gehen.
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