Verkehr in Berlin: Überfälliges Umdenken - oder "totaler Verkehrsinfarkt"?
Verkehrsstaatssekretär Kirchner denkt laut über einspurige Hauptverkehrsstraßen nach. Was hat sich Rot-Rot-Grün vorgenommen und was sagen Experten?
Eigentlich steht der Satz von Verkehrsstaatssekretär Jens-Holger Kirchner (Grüne), über den sich jetzt viele aufregen, schon im Koalitionsvertrag: „Die Koalition verfolgt die Errichtung von im Regelfall mindestens zwei Meter breiten Radstreifen entlang des Hauptstraßennetzes.“ Punkt. Aus. Darum geht’s.
„Wir werden es bloß einspurig machen an den Hauptverkehrsstraßen, weil wir brauchen den Platz für andere“, hatte Kirchner bei einer Diskussion gesagt. Und diesen Satz provokant eingeleitet mit: „Stellen Sie sich in den Stau.“ Schwarze Pädagogik, könnte man meinen, doch ganz ohne drastische Selbsterfahrungen wird die rot-rot-grüne Mobilitätswende nicht über die Bühne gehen können. Für die autoaffinen Parteien von FDP bis AfD ist das „Irrsinn“, sie sagen den „totalen Verkehrsinfarkt“ voraus.
Aus Sicht des Mobilitätsexperten Andreas Knie vom InnoZ (Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel) ist klar, dass nicht alle 1600 Kilometer Berliner Hauptverkehrsstraßen auf eine Spur pro Richtung verengt werden können, um mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer zu schaffen. Der Umbau der Infrastruktur müsse „peu à peu“ erfolgen – zuerst dort, wo schon viele Radfahrer und Fußgänger unterwegs sind, etwa in Prenzlauer Berg und Kreuzberg. In den Gegenden, wo noch das Autofahren dominiere, in großen Teilen Spandaus etwa oder dem Neuköllner Süden, werde man noch warten müssen. Große Ausfallstraßen wie Frankfurter Allee oder Heerstraße ließen sich natürlich nicht auf eine Fahrspur reduzieren, dazu seien die Pendlerströme zu mächtig.
"Zu viele Autos in der Stadt, die viel zu viel Platz in Anspruch nehmen"
Dennoch: Kirchner habe mit seinem Satz „die richtige Message“ getroffen. „Es gibt zu viele Autos in der Stadt, die viel zu viel Platz in Anspruch nehmen.“ 90 Prozent der Zeit stünden Autos nur nutzlos in der Gegend herum. Von den 1,2 Millionen Autos, die derzeit in Berlin unterwegs sind, könnten 850.000 wegfallen, ohne die Fahrleistungen einzuschränken.
Das ist eine etwas weltfremde Idee. In der Praxis läuft es darauf hinaus, dass dann ständig Autos auf der Radspur fahren. Entweder man reserviert eine Spur nur für Radfahrer oder man lässt es gleich bleiben.
schreibt NutzerIn Mostrichmeister
Knie plädiert dafür, zuerst das Parkplatzangebot zu verringern, bevor man großflächig Straßen umbaut. Auch das wäre negative Pädagogik: Wer ewig ums Karree fährt, ohne einen Stellplatz zu finden, wird sich eher mit Carsharing beschäftigen. Gute Alternativen zum eigenen Auto seien wichtig, um die Leute bei der Verkehrswende mitzunehmen, sagt Knie. Also müssten die Bedingungen fürs Carsharing und auch der öffentliche Nahverkehr verbessert werden.
Faktisch seien viele zweispurige Hauptstraßen, etwa Kottbusser Damm oder Sonnenallee, schon jetzt durch Zweite-Reihe-Parker auf eine Spur reduziert, sagt Knie. Künftig könnte man eine Spur für Radfahrer reservieren, ohne sie für Autofahrer komplett zu sperren. „Wenn keine oder nur wenige Radfahrer unterwegs sind, dürften auch Autos fahren.“
Umbau der Schönhauser Allee bereits beschlossen
Beschlossen hat die Koalition bereits den Umbau der Schönhauser Allee, allerdings soll zunächst eine Machbarkeitsstudie klären, wie das möglich ist. Im Sommer sollen „erste Ergebnisse vorliegen“, sagte Matthias Tang, Sprecher der Verkehrsverwaltung. Idealvorstellung der Planer ist, die Fahrspuren für Autos von vier auf zwei zu reduzieren und auf der Westseite zu konzentrieren, um die östliche Trams, Radfahrern und Fußgängern zu überlassen. Unter dem U-Bahn-Viadukt könnten Autos parken.
Die Leistungsfähigkeit von Straßen hänge eher von der Zahl der Spuren an Kreuzungen ab als von der Zahl der Fahrspuren, erklärt Tang. „Viele vierspurige Straßen können ohne Einschränkungen mit Radverkehrsanlagen zulasten je einer Fahrspur versehen werden, weil die Leistungsfähigkeit am Knoten erhalten bleibt.“ Das habe man bereits erfolgreich an diversen Straßen nachgewiesen: Eichborndamm, Brandenburgische Straße, Turmstraße, Dudenstraße und zuletzt Karl-Marx-Straße in Neukölln.
Am Hermannplatz wird Fläche für den Autoverkehr eingeschränkt
Auch am Hermannplatz sollte die Fläche für den Autoverkehr halbiert werden. Auf der westlichen Seite vor Karstadt wollten die Planer zwei Fahrspuren anlegen, auf der östlichen „Sonnenseite“ sollten große Caféterrassen ein Flair wie auf dem Hackeschen Markt entfalten. Doch der Senat vertagte die Pläne immer wieder. Jetzt heißt es, für den Platz würden ein Planfeststellungsverfahren und ein städtebaulicher Wettbewerb angestrebt. Dafür habe der Bezirk Neukölln bereits Finanzmittel beantragt. Auch am südlichen Adlergestell in Köpenick will der Senat mittelfristig eine Spur für Radfahrer reservieren.
Auf der weltweiten Rangliste der Stau-Städte des Navi-Herstellers Tomtom belegt Berlin Platz 84. Allerdings steige die Stau-Anfälligkeit. Brauchten Autofahrer 2008 an einem „verkehrsbelasteten Arbeitstag“ für eine (bei freier Strecke) 60-Minuten-Fahrt durchschnittlich 25 Minuten länger, waren es 2016 schon 29 Minuten. „Aufs Jahr gerechnet ergibt das 107 Stunden Zeitverlust, also beinahe zwei Arbeitswochen.“ Die stauträchtigsten Stunden seien montags zwischen 8 und 9 sowie donnerstags zwischen 16 und 17 Uhr.
Der Tagesspiegel kooperiert mit dem Umfrageinstitut Civey. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.