Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Tiergarten: Wo die Engel höher sitzen
96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Nr. 85: Tiergarten.
Fläche: 5,17 km² (Platz 73 von 96)
Einwohner: 14491 (Platz 70 von 96)
Durchschnittsalter: 40,2 (Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Bruno Ganz (Engel), Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (Mordopfer)
Gefühlte Mitte: Siegessäule
Ganz im Süden, wo Tiergarten an Schöneberg grenzt, an der Ecke Genthiner und Kurfürstenstraße, stand mal eine Currywurstbude. Rund um die Bude suchten die Damen vom Straßenstrich nach Kundschaft, und wer darüber etwas wissen wollte, musste nur Curry-Bernd fragen, den Wurstbräter, der die Damen alle persönlich kannte.
Vorbei. Die Bude gibt’s nicht mehr. Sprachlos blieb ich vor einem Bauzaun stehen, dem Curry-Bernd offenbar weichen musste – dahinter sah ich den Rohbau eines neuen Luxuswohnblocks in den Himmel wachsen. Interessant, dachte ich – was das wohl für den Straßenstrich bedeutet?
Ein junges Paar sah durch die Zaunmaschen den Baukränen zu. „Wird das eure neue Wohnung?“, fragte ich. Sie nickten. Und erzählten mir, dass in der Gegend derzeit noch ein paar weitere Apartmentblöcke im Bau seien, deren Käufer alle darauf spekulierten, dass sich der Strich „von selbst erledigen“ werde. Schon jetzt verlagere sich das Geschäft in Richtung Schöneberg, weil es nördlich der Kurfürstenstraße immer weniger dunkle Ecken für klandestinen Freiluftsex gebe. Tiergarten, sagten die beiden, sei deshalb der wohl einzige Ortsteil Berlins, wo die alteingesessenen Bewohner froh über Luxusneubauten seien: „Hier werden Gentrifizierer mit Blumen begrüßt statt mit Farbbeuteln!“
Nun hat Tiergarten ohnehin nicht die allermeisten Bewohner. Mehrheitlich besteht der eher kleine Ortsteil aus dem namensgebenden Park, hinzu kommen öffentliche Einrichtungen, die hier eine Dichte erreichen wie nirgends sonst in Berlin: Kanzler- und Bundespräsidialamt, Schloss Bellevue, Zoo und Aquarium, Neue National- und Gemäldegalerie, Kupferstichkabinett, Kunstgewerbe- und Musikinstrumentenmuseum, Bauhaus-Archiv, Haus der Kulturen der Welt, Stabi, Philharmonie, Kammermusiksaal, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Botschaften, Ländervertretungen.
Als ich mich im Park der Siegessäule näherte, sah ich von Weitem einen Mann in langem Mantel auf den Schultern der Victoria-Statue sitzen. Natürlich saß der Mann da nicht wirklich, aber ich bin wohl nicht der einzige Mensch in dieser Stadt, der die Goldelse nicht ansehen kann, ohne Bruno Ganz vor Augen zu haben – den Engel aus „Der Himmel über Berlin“, wie er da oben auf der Siegessäule sitzt und den Gedanken aller Berliner lauscht, ein vielstimmiges Flüstern, das aus sämtlichen Ortsteilen an sein Ohr dringt.
Hitler ließ die ohnehin arg phallische Siegessäule Ende der 30er Jahre um zusätzliche siebeneinhalb Meter aufstocken – eine architektonische Penisvergrößerung, die ihre volle Wucht erst nach Kriegsende entfaltete, als sich das Monument über den Baumstümpfen des kahlgebombten Parks erhob. Dass sich später Berlins größte Schwulenzeitschrift nach der Siegessäule benannte, war wahrlich keine weit hergeholte Assoziation.
Im Schatten der Säule, unter dem Blätterdach des Tiergartens, sah ich ein paar Männer mit Müllklaubern durch die Gebüsche streifen. Einer bemerkte meinen fragenden Blick. Sie seien, erklärte er mir freundlich, Teil der schwulen Initiative „Schöner cruisen“. Einmal im Jahr zögen sie durch die schattigen Vögelreviere des Tiergartens, um den Waldboden von gebrauchten Kondomen und Taschentüchern zu befreien.
So viel klandestinen Freiluftsex wie in Tiergarten gibt es vermutlich in keinem anderen Berliner Ortsteil.
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Über 80 Ortsteile hat Jens Mühling bereits besucht. Alle Folgen seiner Kolumne „Mühling kommt rum“ finden Sie auf unserer Internetseite unter: www.tagesspiegel.de/96malberlin
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