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Der ehemalige Industrie-Standort der DDR Berlin-Oberschöneweide.
© Kitty Kleist-Heinrich

Stadtsafari - Sommerliche Entdeckertouren in Berlin (3): Stromern in Elektropolis: Im Industrierevier Schöneweide

Oberschöneweide war einst der größte Industriestandort der DDR und ist heute ein faszinierendes Industriedenkmal. Emil Rathenaus Erbe – nicht nur was für Techniker.

Die Mikrowelle aus DDR-Produktion war ein Flop. Zu klobig, zu teuer, ein Stromfresser. Die Orgel aus Elektronenröhren, eine Weltneuheit, erwies sich im Betrieb als störanfällig. Das Fünfziger-Jahre-Fernsehgerät „Rembrandt“ dagegen wurde als Sieg sozialistischer Erfindungsgabe gefeiert. Ebenso der Anti-Rias-Störsender. Zu besichtigen sind diese Exponate nicht im Berliner Technikmuseum, sondern im Industriesalon Oberschöneweide.

Winfried Müller, ehemals Ingenieur im Werk für Fernsehelektronik, möchte lieber die Werkbänke zeigen, auf denen früher die gläsernen Röhren geschmiedet wurden. Die Drehscheiben funktionieren noch, nur die Gasbrenner lassen sich nicht mehr zünden.

Oberschöneweide war einmal der größte Industriestandort der DDR, mit bis zu 30000 Beschäftigten. Heute steht hier das größte Industriedenkmal Berlins, mit imposanten Backsteingebäuden aus der Kaiserzeit, darin Industrietechnik vom „VEB Kranbau Köthen“ und Ideen für eine Zukunft als Kunstzentrum. Einige Ateliers existieren schon.

Das Erbe von Emil Rathenau

2009 zog die Hochschule für Technik und Wirtschaft in die Hallen des ehemaligen Kabelwerkes Oberspree (KWO), die für 100 Millionen Euro ausgebaut wurden. Die Kabelproduktion war Ende des 19. Jahrhunderts von AEG-Gründer Emil Rathenau begonnen worden. Mit den Stromkabeln von AEG wurde Berlin elektrifiziert. Später kamen Antennen-, Fernmelde- und Fernsehkabel hinzu.

Die drei Buchstaben für „Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft“ standen mal für eine ökonomische Großmacht, wie Siemens oder General Electric, der Konkurrent aus den USA. Die mehrstöckigen ockergelben Produktionshallen an der Spree bildeten die Basis der AEG. 20 000 Produkte fertigte das Unternehmen vor dem Zweiten Weltkrieg. Mit der Enteignung durch die Sowjets gingen 75 Prozent der Produktionskapazitäten verloren. 1996 wurde das Unternehmen endgültig aus dem Handelsregister gestrichen.

Das AEG-Archiv befindet sich heute im Technikmuseum, doch nur vor Ort lässt sich das Erbe von Emil Rathenau in seiner Dimension erfassen. Zwischen Spree und Wilhelminenhofstraße erstreckten sich auf einer Länge von drei Kilometern unzählige Fertigungsanlagen für Kabel, Transformatoren, Elektronenröhren, Antriebe, Akkumulatoren und viele andere elektrotechnische Bauteile. Allein das Kabelwerk produzierte auf einer Fläche von 18 Hektar. Die AEG baute zeitweise Sendeanlagen, Radiogeräte und (Elektro-)Autos.

Schwerpunkt auf jüngerer DDR-Geschichte

Die DDR führte die Produktion weiter, nach der Wende blieb vielen Betriebsstätten aber nur noch eine Gnadenfrist. Die größte Einheit, das Werk für Fernsehelektronik, vormals Telefunken, vormals NAG (Autos) überlebte unter der Regie von Samsung noch bis 2006. Dann war auch hier Schluss. Die irische Gruppe Comer kaufte das Werksgelände, siedelte viele kleine Betriebe an und möchte langfristig an der Spree Wohnungen bauen. Samsung wollte das riesige, von Peter Behrens gebaute Werk besenrein übergeben, deshalb wurden für die Exponate des hauseigenen Museums Abnehmer gesucht.

Ehemalige Ingenieure wie Müller retteten die Ausstellungsstücke und schafften sie in eine Lagerhalle, daraus entstand mit den Jahren der Industriesalon, eine kleine, feine Forschungs- und Ausstellungsstätte, gefördert mit EU-Mitteln. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der jüngeren DDR-Geschichte.

Das Drehstromkraftwerk verfällt

Viele Fotos, Dokumente und Bücher werden von ehemaligen Mitarbeitern gesichtet und geordnet. Ein Foto zeigt den Besuch der britischen Queen im Kabelwerk 1992, damals kaufte das britische Unternehmen BICC das KWO. Doch die BICC machte 1997 pleite. Einen Teil der Anlagen übernahm die Wilms-Gruppe aus dem Sauerland. Sie produziert hier bis heute vor allem Glasfaserkabel.

Zum Wilms-Gelände gehört auch das erste Drehstromkraftwerk der Welt, ein grandioses Baudenkmal, das zurzeit verfällt. Auch die zugehörigen Schlote stehen unter Denkmalschutz, sind aber einsturzgefährdet, erzählt die Projektleiterin des Industriesalons, Susanne Reumschüssel. Vor Kurzem wurde in einer Halle des ehemaligen Kabelwerks des 100. Todestages von Emil Rathenau gedacht.

Ehrengast war der ehemalige Bahnchef und AEG-Aufsichtsratsvorsitzende Heinz Dürr. Susanne Reumschüssel bietet selbst Führungen über das AEG-Gelände an, die nächste ist am 7. August. Mehr Infos: www.industriesalon.de

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Start am S-Bahnhof
Schöneweide ist die Bronx Berlins, aber auf dem Weg, einmal wie Brooklyn zu werden. Natürlich dauert das noch ein wenig, und das ist gut so, denn schon der Transformationsprozess ist sehenswert. Unsere rund 4,5 Kilometer lange Tour beginnt am noch unsanierten Bahnhof Schöneweide mit seinen vorgelagerten Imbissschänken. Für den Rückweg empfiehlt sich übrigens die Tramlinie 63 ab Rathenaustr./HTW.

Dokumentationszentrum

Durch die Unterführung geht es auf die andere Seite der sechsspurigen B 96. Der Weg entlang der Schnellerstraße weist auf eine hohe Dichte an Sozialeinrichtungen. Bis zu den ehemaligen Zwangsarbeiterbaracken (1) – offiziell: Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit – dauert es rund zehn Minuten.

Die Ausstellung (geöffnet Dienstag bis Sonntag, 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei) zeigt mit vielen Fotos, Videos und zahlreichen Dokumenten das Schicksal der Zwangsarbeiter. Allein in Berlin soll es 1000 Lager gegeben haben, fast alle sind verschwunden – bis auf die Baracken in Niederschöneweide.

An der Spree
Der Weg führt entlang der Britzer Straße ans Wasser, hier breitet sich das Panorama des ehemaligen AEG-Industriegeländes aus. Über den wiederaufgebauten Kaisersteg (2) gingen früher viele Menschen zur Arbeit. Auf der anderen Seite erreicht man den neugestalteten Stadtplatz, früher stand hier auch eine Industriehalle.

Vor dem ersten Gebäude links den Weg am Zaun nehmen und am Eck rechts durchs Tor, das Dienstag bis Sonntag bis 19 Uhr geöffnet sein soll. Zwischen den Gebäuden führt der Weg zum Industriesalon (3), dem Gedächtnis des Industriestandorts (offen Dienstag bis Sonntag ab 14 Uhr). Am Salon vorbei geht es weiter durch das Areal, linker Hand liegt die Baustelle von Bryan Adams, der hier Musikstudios und Ateliers plant. Dahinter steht das alte Kraftwerk der Transformatorenfabrik von AEG, inzwischen als Galerie genutzt. In der Kraftwerk-Galerie (4) läuft noch bis zum 8. August die Ausstellung „Landscape-Metropolis“. Geöffnet von 12 bis 18 Uhr.

Wilhelminenhofstraße

Der Weg führt am Kraftwerk vorbei, über eine breite Fahrstraße bis zur Wilhelminenhofstraße, am Eck im Pförtnerhäuschen hat ein Bioburger-Imbiss aufgemacht, empfehlenswert und kulinarisch innovativ für die Gegend. Entlang der Wilhelminenhofstraße lässt sich ermessen, wie gewaltig die Ausmaße der AEG-Stadt einst waren.

Ein Hingucker mit Fassadenornamenten ist die Ruine des ersten Drehstromkraftwerks der Welt, 1897 in Betrieb genommen. Langsam kommt am Ende der Straße der Turm des ehemaligen Werks für Fernsehelektronik in den Blick. Wir halten aber den Kurs, immer den Studenten nach, zum neuen Campus der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) (5).

Im Gebäude B sitzt der Pförtner und freut sich, wenn jemand nach den Audio-Guides fragt, die man hier unentgeltlich ausleihen kann. Die Tour dauert rund eine Stunde, kann aber individuell verkürzt werden. Wichtig ist vor allem ein Abstecher ins Foyer des Hauses C. Dort steht ein Oldtimer des Fabrikats NAG, diese Autos baute AEG bis 1934 im späteren Werk für Fernsehelektronik.

Kranhaus-Café
Über die Gottlieb-Klemm-Straße geht es weiter zum Kranhaus-Café (6), das direkt an der Spree liegt. Das Kranhaus gehörte früher zum Hafen des Reviers, hier wurden die Kohlefrachter entladen. Ein Hamburger Unternehmer hat das denkmalgeschützte Kranhaus gekauft, saniert und zu einer exklusiven Design-Wohnung mit Rundumblick umgebaut.

Von hier aus führt der Weg am Wasser zurück zur Wilhelminenhofstraße, vorbei am Werk für Fernsehelektronik (7). Unbedingt einen Abstecher ins Treppenhaus mit dem spektakulären Lichthof machen. Auch ein Rundgang durch die Höfe lohnt sich.

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