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Spannender Start. Erstklässler freuen sich meist auf den neuen Lebensabschnitt. Doch zu früh eingeschulte Kinder verlieren rasch den Spaß am Lernen, sagen Bildungsforscher.
© dapd

Einschulung von Fünfjährigen: Stress bleibt Kindersache

Bildungssenatorin Sandra Scheeres will die Früheinschulung erstmals untersuchen lassen – aber nur ganz langsam. Trotz der Kritik, dass ein zu früher Schulbesuch Kinder überfordere, ist von einer Abkehr keine Rede.

Schlechte Nachrichten für die Gegner der Früheinschulung: Trotz aller Kritik an der Überforderung der Fünfjährigen hat Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) offenbar nicht vor, diesen Berliner Sonderweg noch in der laufenden Legislaturperiode zu verlassen. Stattdessen plant sie eine langwierige wissenschaftliche Untersuchung, um ihre Kritiker ruhigzustellen. Dies geht aus einer Stellungnahme an die Fraktion der Grünen hervor, die dem Tagesspiegel vorliegt. Die Berliner Eltern wären damit noch jahrelang darauf angewiesen, mithilfe komplizierter Rückstellungsanträge die frühe Einschulung ihrer Kinder zu verhindern.

„Der Senat spielt auf Zeit, aber die Familien haben keine Zeit mehr“, kritisiert der bildungspolitische Sprecher der Grünen, Özcan Mutlu. Seine Fraktion hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, wonach die Schulpflicht um ein Vierteljahr verschoben werden soll. Der Entwurf soll in zwei Wochen im Schulausschuss behandelt werden.

„Die wissenschaftliche Expertise hätte vor sieben Jahren eingeholt werden müssen, als die Früheinschulung beschlossen wurde“, sagte Mutlu am Sonntag dem Tagesspiegel. „Jetzt ist es dafür zu spät.“ Ähnlich reagierte die Bildungsforscherin Renate Valtin. „Wir brauchen jetzt keine Untersuchung mehr“, sagte sie auf Anfrage. Mehr als sieben Jahre nach Beginn der Früheinschulung habe man genügend Hinweise darauf, dass ein anderer Weg beschritten werden müsse.

Valtin, die sich seit rund 40 Jahren mit Grundschulpädagogik beschäftigt, hält die Abschaffung der Berliner Vorklassen nach wie vor für eine Katastrophe. Sie seien der richtige Weg gewesen, die Fünfjährigen spielerisch auf die Schule vorzubereiten, ohne sie durch den Rahmenplan der Erstklässler zu überfordern. Die Professorin, die an der Humboldt-Universität forscht, hatte zuletzt im Auftrag des Senats eine Expertise zur Sprachförderung an Berlins Schulen vorgelegt. Sie fordert, das Vorschuljahr verpflichtend für alle einzuführen und an der Grundschule anzubinden.

Dass die Bildungsverwaltung an der frühen Einschulung festhalten will, begründet sie intern damit, dass Kinder aus bildungsfernen Milieus auf diese Weise besser gefördert werden könnten. Auch die hohe Zahl an „Verweilern“, also Sitzenbleibern, in der zweiten Klasse hat bisher nicht dazu geführt, dass Scheeres die frühe Einschulung offen infrage stellte. Das Verweilen sei das kleinere Übel gegenüber der mangelnden Förderung in den betreffenden Familien.

Gegen diese These gibt es allerdings immer mehr Widerstand. Die Gegner argumentieren, dass die überforderten Fünfjährigen durch Misserfolge gleich zu Anfang einen denkbar schlechten Einstieg in die Schullaufbahn hätten, der ihnen die Freude am Lernen nehme.

Kritik am Berliner Sonderweg der Früheinschulung kommt auch aus der Hirnforschung. Bei den Fünfjährigen führe nicht nur eine größere motorische Unruhe zu Problemen im Schulbetrieb. Vielmehr hapere es auch am Kurzzeitgedächtnis, das die Aufmerksamkeitsspanne steuert. Bei den kleineren Kindern halte es kaum eine Minute vor: „ Wenn die Lehrerin in längeren Sätzen spricht, haben diese Kinder den Anfang schon wieder vergessen. Sie können das Gehörte also nicht bedeutungshaft verarbeiten“, mahnt etwa Gerhard Roth, Hirnforscher an der Universität Bremen. Das führe dazu, dass die Kinder unruhig würden und frustriert seien.

Widerstand regt sich selbst im Mutterland der frühen Einschulung, in Großbritannien. Dort hatten Forscher der Universität Cambridge zuletzt massiv vor den Risiken der Überforderung gewarnt. Die Politik hielt aber daran fest.

Allerdings gehören die Briten und die Berliner zu einer Minderheit. Weltweit werden nur rund zwölf Prozent der Kinder derart früh in die Schulen geholt. Pisa-Sieger Finnland schult mit sieben ein, die meisten anderen Staaten mit sechs.

Die negativen Erfahrungen mit der Früheinschulung haben inzwischen dazu geführt, dass mehr als zehn Prozent der Berliner Eltern ihre Kinder zurückstellen lassen – und das, obwohl viele Familien diese Möglichkeit gar nicht kennen. Wie berichtet, propagiert die Bildungsverwaltung nach wie vor die Früheinschulung. Über die Möglichkeit einer Rückstellung erfahren die Erstklässler-Eltern nur dann etwas, wenn sie sich bis zur Seite elf der Einschulungsbroschüre vorarbeiten.

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