zum Hauptinhalt
Für die fünfeinhalbjährige Mia Warnecke aus Wilmersdorf beginnt am Sonnabend ein neuer Lebensabschnitt: Sie wird in die Ernst-Habermann-Grundschule eingeschult und ist damit eine von 27 800 Erstklässlern in Berlin. Stolz zeigt sie ihren Ranzen und die Schultüte. "Hab ich selber ausgesucht", erklärt sie und deutet auf die bunten Einhörner. Drin ist noch nichts, außer Papier, aber auch das raschelt schon vielversprechend. Ein bisschen lesen und rechnen kann Mia schon und viele Buchstaben schreiben. Aber im Moment ist sie noch mit etwas anderem beschäftigt. "Schau mal, ich habe eine Zahnlücke", sagt sie und macht den Mund auf. "Und der Zahn daneben wackelt auch schon". Ob sie sich auf die Schule freut? Na klar, besonders auf den Hort. Da geht sie schon seit ein paar Tagen hin. Eine gute Gelegenheit, schon vor dem ersten Schultag mit dem neuen Gebäude und der Atmosphäre vertraut zu werden, findet ihre Mutter. Dass die Einschulung zu früh käme, das habe die Familie nicht gedacht, obwohl Mia erst im November sechs Jahre alt wird. Sie sei zwar noch ganz schön verspielt, in der Kita aber gut auf die Schule vorbereitet worden. "Darf ich jetzt noch ein bisschen auf der Schultüte Hoppereiter spielen?", fragt Mia und dann flitzt sie auch schon übers Parkett.
© Thilo Rückeis

Überforderte Kinder: Eltern und Ärzte warnen vor Früheinschulungen

Manche Kinder zeigen noch Jahre später Verhaltensauffälligkeiten, wenn sie in der ersten Klasse überfordert waren. Die Qualität der Kitas gerät ins Zentrum der Kritik – und der Ruf nach Vorschulklassen wird wieder laut.

„Das wird schon“, lautete die lapidare Antwort der Lehrerin, als die fünfjährige Lisa (Name von der Redaktion geändert) Tag für Tag bitterlich weinend in die Schule kam. Der allmorgendliche Abschied von der Mutter wurde zur Tortur, das Kind blieb auch nach Wochen noch untröstlich. Dann zogen die Eltern die Notbremse – in Form einer Krankmeldung. Nach ein paar Wochen und endlosen Gesprächen mit dem Schulrat war es dann soweit: Lisa konnte mangels Schulreife zurück in ihre Kita, obwohl dieser Weg gesetzlich ausgeschlossen ist.

Fälle von Kindern wie Lisa, die dem Schulalltag mit fünfeinhalb Jahren noch nicht gewachsen sind, sind keine Seltenheit. Das Thema „Früheinschulung“ ist ein Dauerbrenner bei Elterngesprächen auf Kitafluren und Spielplätzen: Insbesondere Eltern von Kindern, die zwischen Oktober und Dezember geboren wurden, sind verunsichert und befürchten, dass ihr Kind überfordert sein könnte. „Ich mache mir schon jetzt Sorgen und hoffe, dass die Regelung wieder geändert wird“, sagt eine Neuköllner Mutter, deren Tochter in zwei Jahren schulpflichtig würde – drei Monate vor ihrem sechsten Geburtstag.

Wie berichtet, schwindet in Berlin die Rückendeckung für die Früheinschulung mit fünfeinhalb Jahren, die bundesweit einzigartig ist. Viele Eltern haben erst durch die konkreten Erfahrungen mit ihren betroffenen Kindern begriffen, was die Früheinschulung bedeutet.

„Wir hatten zunächst gar keine Bedenken und haben unsere Tochter gern so früh eingeschult“, berichtet ein Kreuzberger Vater. Dann aber hätten sie bemerkt, dass ihre Tochter noch sehr verspielt war und anfing, unter der Schule zu leiden. „Sie und ihre fünfjährigen Klassenkameraden waren mit dem Kopf noch im Kindergarten“, erzählt er. Die Klassenlehrerin habe das – trotz allen Engagements – nicht ausgleichen können. „Die Schulzeit meiner Tochter blieb jahrelang überschattet von dem Gefühl der Überforderung“, sagt der Vater.

Mittlerweile ist es für Eltern zwar wieder möglich, einen Antrag auf spätere Einschulung zu stellen. Doch dieser ist mit Aufwand verbunden und manche Eltern fürchten zudem eine Art Stigmatisierung. Die Regelung, dass man seinem Kind eine Behinderung attestieren musste, um eine Rückstellung zu erreichen, wurde 2010 zwar abgeschafft. Aber nicht alle Eltern wissen, dass es inzwischen wieder möglich ist, eine spätere Einschulung zu beantragen, wenn sie den Schulrat davon überzeugen können, dass ihr Kind noch nicht so weit ist.

Tatsächlich ist das Verfahren kompliziert: Vier Seiten umfasst das entsprechende Rundschreiben. „Die meisten Eltern sind damit völlig überfordert“, berichtet ein Amtsarzt. Die Folge: Je bildungsferner die Eltern sind oder je schlechter sie Deutsch sprechen, desto geringer ist die Wahrscheinlicheit, dass sie eine verfrühte Einschulung ihrer Kinder verhindern können.

Die Erwartung, dass die Grundschulen in diese Aufgabe noch hineinwachsen, schwindet sieben Jahre nach der Reform. „Viele Kinder zeigen Überforderungsreaktionen“, berichtet Ulrich Fegeler vom Bundesverband der Kinderärzte. Spätestens ab der dritten Klasse würden sie dann „schwerst auffällig“. Oftmals schicken die Lehrer ihm die Kinder, damit er ihnen Therapien verschreibe. Es sei aber ein „Irrglaube“, dass man etwa mit Logopädie die Probleme der verfrühten Einschulung beheben könne, mahnt Fegeler, der als Kinderarzt in Spandau arbeitet. Anstatt die Kinder zu früh dem ABC auszusetzen, plädiert er dafür, die Fünfjährigen in die Vorschule zu schicken. Und zwar in der Schule und nicht in der Kita, denn die Kitaqualität sei „allenfalls mittelmäßig“, sagt Fegeler mit Hinweis auf entsprechende Langzeitstudien.

"Die Kitas erfüllen ihre Pflicht nicht", sagt der Marzahner Bildungsstadtrat

Toben statt Stillsitzen: Manche Erstklässler wären auf dem Spielplatz besser aufgehoben als in der Schulbank.
Toben statt Stillsitzen: Manche Erstklässler wären auf dem Spielplatz besser aufgehoben als in der Schulbank.
© dpa

Große Zweifel an der Qualität der Kitas hegt auch der Marzahner Bürgermeister und Bildungsstadtrat Stefan Komoß (SPD). „Die Kitas erfüllen ihre Pflicht nicht, die Kinder auf die Schule vorzubereiten“, sagt Komoß. In der Folge werde bei 50 Prozent der Bezirkskinder bei der Einschulung ein erhöhter Förderbedarf diagnostiziert. „Sie können keinen Ball werfen und kein Blatt Papier mit der Schere zerschneiden“, beschreibt Komoß die motorischen Probleme. Dabei würden 98 Prozent der Kinder eine Kita besuchen. Dieser Befund legt für ihn die „Überlegung“ nahe, die vorschulische Förderung weg von der Kita hin zur Grundschule zu verlagern.

Dies allerdings wäre ein Politikum, denn die Abschaffung der schulischen Vorklassen wurde 2004 als Teil der Grundschulreform beschlossen. Jahrelang hatten Bildungsfachleute wie der frühere Neuköllner Schulstadtrat Wolfgang Schimmang (SPD) diese Entscheidung als schweren Fehler gegeißelt – auch vor dem Hintergrund der vorgezogenen Schulpflicht.

Gerade für Kinder aus bildungsfernen Familien könne es von Vorteil sein, früh und kontinuierlich Bildungsangebote zu nutzen, findet auch Klaus Seifried vom schulpsychologischen Dienst in Tempelhof-Schöneberg. Er bestätigt, dass die Zahl der Rückstellungsanträge zugenommen habe. In der Mehrzahl der Fälle lägen die Gründe im Verhalten oder der emotionalen Entwicklung. Bei der Lernfähigkeit gebe es weniger Schwierigkeiten.

Durch die Einführung des jahrgangsübergreifenden Lernens in der Schulanfangsphase sei es mittlerweile aber leichter, Entwicklungsdefizite aufzufangen. Wichtig sei dabei , dass eine Übergabe zwischen Kita und Grundschule stattfindet. Auch Schulärzte sollten von den Lehrern Rückmeldung über die weitere Entwicklung des Kindes bekommen. Falls Lern- oder Verhaltensprobleme auftreten, müsse schnell reagiert werden, denn je länger ein Lern- oder Verhaltensproblem bestehe, desto mehr verfestige es sich. Mobile sozialpädagogische Beratungsteams in den Grundschulen und Schulpsychologen seien in Problemfällen die richtigen Ansprechpartner. „Die Anforderungen in der Schule haben sich insgesamt sehr verdichtet“, merkt der Psychologe an. Der Noten- und Konkurrenzdruck sei schon an Grundschulen hoch, weil viele versuchten, auf möglichst gute Gymnasien oder Sekundarschulen zu kommen.

Eltern, die ihr Kind für nicht schulreif halten, rät er, zunächst das Gespräch mit den Erziehern in der Kita zu suchen. Diese könnten gut einschätzen, wie sich das Kind in der Gruppe verhält, ob es Regeln akzeptieren und sich schon gut von den Eltern lösen kann. Halten die Erzieher eine Rückstellung für sinnvoll, sei es ratsam, auch den Schularzt zu befragen. Er selbst als Schulpsychologe gebe bei seiner Beurteilung von Rückstellungsanträgen viel auf die Einschätzung der Erzieher und den Elternwillen. Allerdings habe es schon immer große Unterschiede beim Entwicklungsstand der Kinder gegeben. „Es gibt Eltern, die mich fragen, ob wir ihr vierjähriges Kind auf Hochbegabung testen können. Und andere, die sich nur wenig um die Entwicklung ihrer Kinder kümmern.“

Zur Startseite