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Immer mehr Flüchtlingsfamilien wünschen sich einen Kitaplatz. Heimbetreiber aber auch Instanzen wie die Stadtteilmütter helfen bei der Vermittlung. So war das auch bei der zweijährige Lamar.
© Doris Spiekermann-Klaas

Der Joker von Neukölln: Stadtteilmütter helfen geflüchteten Frauen

Die Stadtteilmütter: Ein Erfolgsmodell, um Parallelgesellschaften zu vermeiden. Als „Integrationslotsinnen“ helfen die Mitarbeiterinnen jetzt auch geflüchteten Frauen beim Ankommen.

Es tue ihr ja so leid, sagt Iqbal Al-Briefkhani immer wieder. Die 58-Jährige zeigt auf das Schild an der Tür hinter sich. „Heute geschlossen“, steht da. Gleich nach dem Wochenende werde sie einen neuen Termin vereinbaren. Einverstanden? Sahar nickt verständnisvoll. Und dann – einfach so, auf dem Bürgersteig mitten in Neukölln – schließt Iqbal Al-Briefkhani die junge Syrerin in den Arm. Im Lächeln der 23-Jährigen und in ihren Augen taucht die Freude über so viel Zuwendung auf. „Ich fühle mich sehr wohl bei ihr“, wird Sahar später sagen, unter deren Pulli sich ein kleiner Babybauch wölbt. Wie zwei Freundinnen, wie zwei Vertraute stehen sie dort – umgeben von den Körben der Obsthändler mit Äpfeln und Bananen, den Imbissbuden und den vorbeirauschenden Autos. „Das ist einfach unsere Kultur. Das machen wir Frauen so“, sagt Iqbal Al-Briefkhani.

Ausgerechnet dieses Vertraute, dieses Gefühl von Heimat, ist an diesem warmen Frühlingsmorgen der erste Schritt zur Integration in eine ungewohnte, in eine fremde Gesellschaft. Iqbal Al-Briefkhani ist die Frau, die Sahar momentan am besten helfen kann. Wo kann ich mein Kind zur Welt bringen? Wer unterstützt mich bei der Betreuung? Iqbal ist diejenige, die Sahar Orientierung gibt. Weil sie ihre Sprache spricht. Weil sie ihre Kultur kennt. Und weil sie weiß, wie es sich anfühlt, in ein fremdes Land zu kommen.

Iqbal ist eine sogenannte Integrationslotsin im Stadtteilmütterprojekt in Neukölln. Stadtteilmütter – das sind Frauen nichtdeutscher Herkunft, meist türkisch- oder arabischsprachig. Sie besuchen und begleiten unter anderem Familien mit Migrationshintergrund, die sonst nur schwer zu erreichen sind und keinen Zugang zum Bildungssystem haben. Sie beraten in Erziehungsfragen, wenn es um Kitas geht, um Schulen, Sprachförderung und Gesundheitsvorsorge.

Projekt gibt es seit 2004

Das Projekt ist nicht neu. Schon 2004 wurde es in Neukölln geboren und von dort aus in andere Berliner Stadtteile getragen. Doch gerade jetzt bekommen die Stadtteilmütter wieder viel Aufmerksamkeit – und Arbeit. Berlins Entwurf zum „Masterplan Integration und Sicherheit“ sieht einen verstärkten Einsatz von Integrationslotsinnen und Stadtteilmüttern für Geflüchtete vor. Große Hoffnungen sind damit verbunden. Die Frauen sollen verhindern, wovor sich Politiker und Bürger fürchten: Dass sich Familien zurückziehen, sich in eine Parallelwelt abschotten, Perspektiven verlieren und unerreichbar werden für die Gesellschaft.

Ihre dick bepackte Umhängetasche mit der Aufschrift „Stadtteilmütter“ schwingt hin und her, als Iqbal Al-Briefkhani – rundes Gesicht, schulterlange rote Haare, knallroter Schal – durch die Straßen Neuköllns läuft, unterwegs zu ihrem Treffen mit der 23-jährigen Sahar. Die flüchtete im vergangenen Jahr mit ihrer Familie aus Syrien nach Deutschland. Inzwischen ist die kleine Frau mit beigem Kopftuch, braunen Augen und langen dunklen Wimpern schwanger. Im Juni soll ihr zweites Kind zur Welt kommen. Die erste Entbindung in Deutschland.

Ein Mädchen“, sagt sie und streicht sich lächelnd über den Bauch. Gemeinsam wollen Iqbal und Sahar Fördergelder für das Kind beantragen. Die Einrichtung dafür aber hat überraschend geschlossen. Die beiden Frauen freuen sich trotzdem, sich zu sehen. Seit August vergangenen Jahres kennt Iqbal die Familie. Sie war bei ihr zu Hause, hat Sahar zum Frauenarzt begleitet und sich auch gleich um einen Kita-Platz gekümmert. „Das ist eine besonders liebe Familie“, sagt die 58-Jährige. „Aber ich habe Glück: Das sind die meisten.“

Einen Neuanfang in einem fremden Land wagen – Iqbal Al-Briefkhani hat das selbst einmal durchgemacht. 1997 zog sie aus dem Irak nach Deutschland. Davor hatte sie 15 Jahre lang bei einer Bank gearbeitet und zwei Jahre lang Statistik studiert. In Deutschland stand die vierfache Mutter ohne Arbeit da. Im Elterncafé der Grundschule ihres jüngsten Sohnes wurde sie auf das Stadtteilmütterprojekt aufmerksam. Stadtteilmütter sind Maßnahmenstellen für arbeitslose ausländische Frauen, finanziert vom Jobcenter. Da Iqbal aber in Deutschland nur geduldet war, durfte sie nicht arbeiten.

„Geflüchtete haben existenziellere Fragen“

Eine Enttäuschung für die damals alleinerziehende Mutter. „Dabei hatte ich den Deutschkurs mit der Note 1 bestanden“, erzählt sie stolz. Andere Stadtteilmütter und der damalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) setzten sich dafür ein, dass ihr Status geändert wurde. 2006 durfte sie schließlich einen Vorbereitungskurs besuchen. Ein Jahr später besuchte sie ihre ersten Familien als Stadtteilmutter. Und 2014 wurde sie zur Integrationslotsin befördert. Über das Landesrahmenprogramm ist sie nun auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. „Für mich war das Projekt der Türöffner“, erzählt Iqbal.

Bei ihrer Arbeit trifft sie immer wieder auf Familien, die den Sprung in die Gesellschaft nicht geschafft haben. Eltern, die noch nie einen Elternabend besucht haben. Kinder, die sich weigern, zur Schule zu gehen. „Sie können kein Deutsch und kommen nicht aus ihrer Wohnung. Sie wurden vergessen“, erzählt sie. Sie geht zu ihnen nach Hause, spricht über Gesundheit, Erziehung, den Umgang mit Medien, Verhütung oder Spracherziehung. Viele dieser Menschen leben schon seit Jahren in Deutschland. Aber seit etwa zwei Jahren kümmert sich Iqbal verstärkt auch um ein anderes Klientel: um Geflüchtete. Brauchen die andere Unterstützung?

„Geflüchtete haben existenziellere Fragen“, sagt Muna Naddaf, die die Integrationslotsinnen im Stadtteilmütter-Projekt beim Diakoniewerk Simeon koordiniert. Die Stadtteilmütter gehen zwar nicht in Flüchtlingsunterkünfte, die Familien lebten aber häufig in Hostels oder bei Verwandten. Sie seien deshalb noch auf Wohnungssuche, müssten ein Bankkonto eröffnen und hätten viele Fragen zum Schul- und Gesundheitssystem. Adressen und Ansprechpartner seien gefragt statt lange und intensive Beratungen zur Sprachförderung oder zur Erziehung.

Migrationserfahrung verbindet

So begleitet Iqbal Al-Briefkhani ihre Familien hauptsächlich zur Kita, zur Familienkasse oder zum Frauenarzt. Vergangene Woche hat sie es geschafft, gleich drei Kindern einer Familie einen Schulplatz zu besorgen. Ein Erfolg. „Es ist egal, ob sie noch mal umziehen. Hauptsache, sie fangen erst mal irgendwo an zu lernen.“

Was Stadtteilmütter wie Iqbal mit den geflüchteten Familien verbindet, ist die Migrationserfahrung. „Wir sind mit derselben Kultur groß geworden. Manchmal ist es auch nur derselbe Dialekt, der uns einander näher bringt“, sagt sie. Iqbal Al-Briefkhani ist damit so etwas wie ein Joker, wenn es um die Integration geht – für Neukölln und für die deutsche Gesellschaft.

„Mir gegenüber sind die Leute offener. Sie erzählen mehr von ihren Problemen.“ So versucht Iqbal zum Beispiel, Sahar die Angst vor der Entbindung in Deutschland zu nehmen. Einfluss hat sie aber nicht nur auf die Frauen. Auch mit den geflüchteten Männern kann sie anders kommunizieren als etwa ein deutscher Sozialarbeiter.

Sechs Monate habe Lamar auf der Warteliste gestanden

In einem Fall habe ein Mann nicht unterstützen wollen, dass seine Frau einen Deutschkurs besucht. „Ich habe ihm dann gesagt: Schau mich an, ich bin auch eine arabische Frau. Ich bin stark, habe mich durchgesetzt und einen Deutschkurs gemacht. Bin ich deshalb ein schlechter Mensch?“, erzählt Iqbal. Koordinatorin Muna Naddaf würde die Zahl der Integrationslotsinnen und Stadtteilmütter von aktuell 76 Frauen daher gerne noch aufstocken. Denn mit dieser Mischung aus Vorbildfunktion, Vertrauen und sprachlicher Nähe könnten sie noch viel mehr Familien erreichen, meint Naddaf.

Die 23-jährige Sahar und ihre Familie wird Iqbal noch einige Wochen lang begleiten. Mindestens bis zur Geburt. Ihre zwei Jahre alte Tochter Lamar ist seit Kurzem zur Eingewöhnung im Kindergarten. „Wir haben lange auf einen Platz gewartet“, sagt Sahar, während sich die zweijährige Lamar in ihren rosa Schühchen an die Beine ihrer Mutter kuschelt. Sechs Monate habe Lamar auf der Warteliste gestanden. Die Zahl der Kita-Plätze müsse deshalb dringend erhöht werden, appelliert Muna Naddaf: „Sobald ein Kind in der Kita oder in der Schule angemeldet ist, ist die ganze Familie im System angekommen.“ Sahar und ihre Familien haben diesen ersten Schritt zur Integration jetzt gemacht. Mit Iqbals Unterstützung.

Julia Bernewasser

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