„Ich habe es satt“: Staatssekretär attackiert Senator Behrendt wegen Tierversuchskommission
Berlins Koalition streitet über Tierversuche. Wissenschaftspolitiker Krach wirft Behrendt „ideologisches Wunschdenken“ zu Lasten der Forschung vor. Der Grüne kontert.
In Berlins rot-rot-grüner Koalition zeichnet sich heftiger Streit um die Forschung ab. Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach (SPD) hat öffentlich die Arbeit von Justiz- und Verbraucherschutzsenator Dirk Behrendt (Grüne) kritisiert. Zuvor war nach Tagesspiegel-Recherchen bekannt geworden, dass der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), die Charité-Spitze sowie die Freie Universität Berlin dem Senat in einem Brandbrief vorwerfen, zur „erheblichen Verzögerung beantragter Forschungsvorhaben“ beizutragen: Die Tierversuchskommission unter Senator Behrendts Ägide arbeite seit September nicht.
Der Grüne möchte in dem bislang von Forschern dominierten Gremium mehr Tierschützer platzieren. „Ich habe es satt, dass die Wissenschaftler für ihre Forschung kritisiert werden“, sagte Staatssekretär Krach. „Auch für den Corona-Impfstoff waren Tierversuche erforderlich.“ Krach, der sich für Senatschef Michael Müller (SPD) insbesondere um die Charité kümmert, sagte am Montag im Wissenschaftsausschuss des Abgeordnetenhauses zudem: „Die Wissenschaft ist keine Spielwiese für ideologisches Wunschdenken.“
Die genannte Kommission muss vor entsprechenden Experimenten angehört werden; sie ist beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) angesiedelt, auf das verschiedene Senatsverwaltungen zugreifen. Nach Tagesspiegel-Informationen warten seit Wochen 20 Forschungsanträge auf Genehmigung, darunter ein Experiment zur Covid-19-Behandlung. Dem Brandbrief der Forscher um RKI-Präsident Lothar Wieler zufolge drohe „eine gravierende Benachteiligung des Wissenschaftsstandorts Berlin“.
CDU sieht "forschungsfeindliche Einstellung der Grünen"
Staatssekretär Krach sagte, die Debatte sei schon deshalb „schräg“, weil Berlins Forscher selbst Alternativen zu Tierversuchen entwickeln wollten. Der CDU-Wissenschaftsexperte Adrian Grasse teilte mit: „Die forschungsfeindliche Einstellung der Grünen ist nicht neu, allerdings ist die Blockadehaltung von Senator Behrendt in der aktuellen Situation beschämend. Dass Anträge für Forschungsvorhaben über Wochen liegenbleiben, ist nicht hinnehmbar.“ Für Tierversuche würden bereits strenge Vorgaben gelten. Nun läge es am Regierenden Bürgermeister Müller, der auch Wissenschaftssenator ist, die Forschung in Pandemiezeiten zu sichern.
„Gerade in Berlins Forschungslandschaft arbeiten Wissenschaftler mit höchster ethischer Verantwortung an der Erforschung des Coronavirus“, sagte der FDP-Forschungsexperte Stefan Förster. Eine langfristige Strategie, „wie sie notwendig ist, um die Corona-Pandemie zu bekämpfen, die Freiheit und Verantwortung in Einklang bringt, ist auf wissenschaftliche Erkenntnis angewiesen“.
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Den Vorwurf, die Tierversuchskommission und somit Forschungsvorhaben zu blockieren, wies Senator Behrendt zurück. Vielmehr habe er die Kommission wegen „Bescheidung wichtiger Forschungsanträge“ schon im Oktober einsetzen lassen wollen und deshalb im zuständigen Lageso auf „eine schnelle Lösung gedrängt“, dann erneut Anfang November. Dem Tagesspiegel liegt ein entsprechendes Schreiben Behrendts an Lageso-Präsident Franz Allert vor.
Behrendt: Wir schaffen sogar zwei Kommissionen
„Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Einzelne die Situation nutzen wollen, um hinter die Vereinbarungen in der Koalition zugunsten von mehr Tierschutz in der Forschung insgesamt zurückzufallen“, sagte Behrendt dem Tagesspiegel offenkundig mit Blick auf SPD-Wissenschaftspolitiker Krach. Rot-Rot-Grün hatte im Koalitionsvertrag vereinbart, Tierversuche zu reduzieren.
Grünen-Politiker Behrendt möchte die Zahl der Begutachter erhöhen, auch wegen der vielen Forschungsvorhaben. Es soll nun zwei Kommissionen geben, in denen mehr Tierschützer vertreten sind. Bislang setzte sich die Kommission aus einem Ethiker, zwei Vertretern von Tierschutzverbänden und vier Forschern zusammen. Den neuen Kommissionen sollen je ein Ethiker, ein Biostatistiker, zwei Wissenschaftler und vier Tierschützer angehören. Am 26. November soll eines der Gremien starten.
Erst kürzlich hatte Behrendt die Veterinärmedizinerin Kathrin Herrmann zur Tierschutzbeauftragten ernannt. Sie sagte, Berlin solle „Hauptstadt der tierfreien Forschungsmethoden“ werden. Lageso-Daten zufolge hatte es 2017 in Berlin circa 220 000 Tests an Tieren gegeben. Das entspricht einem Rückgang um elf Prozent zu 2016. Rund 95 Prozent der Experimente werden mit Mäusen und Ratten durchgeführt.