75 Visionen für Berlin – Folge 29: "Sport hält die Gesellschaft zusammen"
Berlin muss Flächen kreativ nutzen, um mehr Raum für Bewegung zu schaffen und die Stadt vitaler zu machen. Ein Gastbeitrag.
Am Anfang des Tages, auf dem Weg zur Arbeit, warten im Park schon Gruppen für einen Frühsport. Aufgefrischt und aufgedehnt geht es weiter zur Arbeit.
Im Laufe des Tages unterbrechen dort bewegte Pausen das lange Sitzen. In Kitas und Schulen findet derweil die tägliche Sportstunde statt.
Sportvereine laden den ganzen Tag über an attraktiven Orten zum Training ein und am Abend zu einem Getränk und Gespräch mit Menschen, die man ohne den Sport nie getroffen hätte. Unsere Vision für Berlin ist die einer bewegten Stadt. Sie holt das, was oft als Freizeitbeschäftigung, als schönste Nebensache gesehen wird, in die Mitte.
In die Mitte von Kita und Schule. In die Mitte der Arbeitswelt. In die Mitte der Stadt. Wir sind davon überzeugt, dass mehr Sport gut tut, weil wir es selbst erleben, beim eigenen Sporttreiben im Verein, beim Rudern, beim Tischtennis oder bei einer gejoggten Runde um den Schlachtensee. Sport bewegt uns. Das ist unser Gefühl. Unser Kopf sagt nicht ganz zufällig genau das Gleiche.
Es gibt zwei große Zukunftsfragen, die uns immer wieder begegnen: Wie schaffen wir eine gesunde Gesellschaft für alle? Und: Was hält unsere Gesellschaft noch zusammen?
Wir finden, dass Sport darauf eine passende Antwort ist, weil er eine ungeheure Kraft besitzt, über die gerne geredet, die aber zu wenig entfesselt wird.
Bewegung ist die Seele aller Dinge, hat der Künstler Paul Klee gesagt, und der Sport übersetzt diese Bewegung ins Gemeinschaftliche im Sportverein, ins Messbare, ins Nachhaltige für die eigene Gesundheit.
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Um den Sport einfach wirken zu lassen, kann man früh anfangen, bei Kindern und Jugendlichen, in Kitas und Schulen. In unserer Vision übernehmen auch Sportlehrerinnen und -lehrer häufiger als bisher eine Schulleitung.
Weil Bewegung Bildung ist. Weil auch Denkleistungen besser werden durch Sport. Lehrerinnen und Lehrer haben erzählt, wie viele Kinder nach dem ersten Lockdown zurück in die Schule gekommen sind: blass und mit Übergewicht.
Corona hat die Gesamtsituation verschärft, aber keineswegs allein verursacht. Sitzen ist die altersübergreifend beherrschende Lebenshaltung. Sollen wir uns wirklich damit abfinden?
In bedrohlicher Regelmäßigkeit zeigt eine Studie nach der nächsten, wie die Beweglichkeit der Gesellschaft abnimmt. Auf der anderen Seite belegen reihenweise wissenschaftliche Expertisen, wie sehr Sport Krankheiten vorbeugen und mildern kann, bis hin zu Depression und Demenz. Ist es nicht höchste Zeit, diese Befunde nicht nur nebeneinander zu legen, sondern übereinander?
[Vor 75 Jahren ist der Tagesspiegel als erste Berliner Zeitung nach dem Krieg gegründet worden. Wir bitten 75 engagierte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur, Sport und Zivilgesellschaft, uns ihre Ideen für die Zukunft dieser Stadt zu schildern. Alle bisher erschienenen Beiträge dieser Serie lesen Sie hier.]
Wir reden viel über Mobilität in dieser Stadt, aber Mobilität funktioniert nur unter Voraussetzungen: Wenn Kinder und Jugendliche sicher und auch gerne Fahrrad fahren.
Wenn Eltern ihre Kinder nicht mit dem Auto direkt vors Schultor bringen, sondern sie zur Bewegung motivieren. Wenn Menschen Wege zu Fuß als Bereicherung empfinden, nicht als Belastung.
Da sind wir mitten in der Stadtentwicklung. Berlin wird immer dichter, die Betonwände kommen näher. Der Platz ist knapp und viel zu teuer.
Wo entstehen da neue Räume, die Lust machen, in ihnen zu spielen, zu rennen, sich gemeinsam zu bewegen?
Kreative Flächennutzung, wie etwa der Sportplatz auf einem Baumarktdach am S-Bahnhof Yorckstraße
Eine Metropole wie Berlin muss den Anspruch haben, Leuchttürme zu bauen. Attraktive, modellhafte Orte, die anziehen und ausstrahlen. Der Sportplatz auf einem Baumarkt am S-Bahnhof Yorckstraße ist eines der ersten Beispiele von kreativer Flächennutzung für Sport im Stadtraum. Davon brauchen wir noch viel mehr. In Nachbarschaftsheimen, in Parks und öffentlichen Gebäuden, auch Wohlfühlräume, in denen sich ältere Menschen gerne und sicher bewegen, oder Familienspielplätze.
Und nicht nur nebenbei auch neue Schwimmbäder.
In unserer Vision ist auf dem ehemaligen Flughafengelände TXL ein Band des Sports entstanden, auf dem Menschen aus Vereinen und ohne Vereinsbindung mal nebeneinander Sport treiben, mal miteinander.
Dort stehen Kletterwände, dort wird Basketball gespielt, gelaufen, über Hindernisse gesprungen, dort wird fürs Deutsche Sportabzeichen trainiert.
Auf solchen Flächen wie auch auf dem Tempelhofer Feld ist Berlin Sportlabor, in dem sich neue Spielformen entwickeln und neue Veranstaltungsformate. Wir brauchen dafür nicht nur die Räume, sondern die Verbindungen: von Einkaufen und Bewegung beispielsweise, um Sport in den Lebensalltag einzubauen.
Berlin dürfte sich Europas Ballspielhauptstadt nennen
Berlin ist nicht nur deshalb Sportmetropole (und könnte gemeinsam mit Brandenburg Sportmetropolregion sein), weil es sich Europas Ballspielhauptstadt nennen dürfte, denn in welcher anderen Stadt wird schon Fußball, Handball, Basketball, Volleyball, Wasserball, (mit zum Puck abgeflachtem Ball) Eishockey, Tischtennis, Hockey und vieles andere auf erstklassigem Niveau gespielt?
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Berlin ist auch deshalb Sportmetropole, weil Sport das perfekte Medium für Berlin ist: universelle Regeln, inklusiv, integrativ, individuell. Jede und jeder kann mitmachen, ganz nach den eigenen Fähigkeiten und Vorlieben.
Sport ist eine Einladung an alle. So haben wir es in unserem Leitbild des Landessportbunds formuliert. Es geht uns dabei nicht nur um Bewegung. Sportvereine sind für uns soziale Heimat.
Ein Lebensort, an dem alle ihren Platz finden können. Denn wo findet eigentlich noch Austausch statt, wo Verständigung, wenn wir uns in unserem Medienverhalten auseinanderstreamen, das Verbindende immer schwächer wird und wir uns im Special Interest verlieren? Wir hätten da etwas: starke Sportvereine. In unserer Vision geht es im Partysmalltalk auch mal um die Frage: „Und in welchem Sportverein bist du?“
Die Vereine sind vielfältig und verbindend zugleich. In ihnen wird auch für das Kräftemessen Zusammenhalt gegen Fliehkräfte trainiert. Weil sie demokratisch aufgebaut sind.
Olympische Spiele als wirkliche Bürgerspiele würden zu Berlin passen
Und Menschen in ehrenamtlicher Verantwortung eine wunderbare Erfahrung machen können: Selbstwirksamkeit. Also die eigenen Ideen umsetzen, dabei im Team sein und andere mitnehmen.
Davon wird in diesem Jahr, in dem Berlin Europas Freiwilligenhauptstadt ist, hoffentlich viel die Rede sein.
Und wenn wir schon bei der Demokratie sind: Warum nicht anderen und uns selbst zeigen und leben, was aus Berlin und Deutschland in den vergangenen 100 Jahren geworden ist und gerade deshalb 2036 zusammen Olympische und Paralympische Spiele austragen? Vor allem dann, wenn auch die Olympische Bewegung ihre Richtung verändert hat, auf die Bürgerinnen und Bürger zu.
Würde das nicht bestens zu Berlin passen, die ersten Olympischen Spiele, die wirkliche Bürgerspiele sind?
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Bei denen die Planungen im Kiez beginnen, mit der Frage, was wir an der nächsten Ecke von den Spielen haben? Berlin könnte sich aus der Zivilgesellschaft heraus Olympia und Paralympics wünschen, weil es Lust auf Veränderung und Gestaltung hat.
Talent für Olympia und Paralympics hat Berlin auf jeden Fall genug. Und gerade die vielfältigen Sportveranstaltungen wie die FINALS gehören hierher. Sie zeigen Spitzensport mitten in der Stadt, nahbar, inspirierend.
Und die Verbindung von Spitzensport zum Breitensport festigen wir im Olympiapark bei unserem Familiensportfest.
Es geht nicht um Profikarrieren, sondern um lebenslange Sportbiografien
Wir freuen uns schon auf die Special Olympics World Games 2023, die inklusivste Sportveranstaltung der Welt, ein Fest der Bewegung und Lebensfreude.
Genau diese Lebensfreude ist es, mit der Sport die Gesellschaft bereichern kann, so wie mit seinem Wert Fairplay. Henning Harnisch, Vordenker von Alba Berlin, spricht gerne von „Sportbürgerinnen und Sportbürgern“. Da steckt ebenso Beweglichkeit drin wie Gemeinsinn. Die erfolgreichsten Sportlerinnen und Sportler spielen in unserer Vision eine noch größere Rolle in der Stadt. Nicht als medaillenbehängte Idole.
Den Sport sollte man nicht zerteilen in Spitzen-, Breiten-, Freizeit- und Gesundheitssport
Es geht nicht nur um Profikarrieren, sondern, auch das sagt Harnisch gerne, um lebenslange Sportbiografien. Nach ihrer aktiven Laufbahn werden aus Olympiasiegern eben Gesundheitscoaches, die uns bewegen.
Wir werben dafür, Sport ganzheitlich zu sehen, ihn nicht zu zerteilen in Spitzen-, Breiten-, Freizeit- und Gesundheitssport.
So wird in unserer Vision der Sport auch politisch mit allen seinen Potenzialen bearbeitet – zentral in der Senatskanzlei als Gesellschaftsthema.
Warum Gesundheitspolitik, Bildungspolitik, Sozialpolitik, Stadtentwicklungspolitik, Integrationspolitik, Sportpolitik nicht einfach zusammenführen zu etwas, das die Stadt vitaler und menschlicher macht: eine ganzheitliche Bewegungspolitik für alle.