Alternative Lebensmodelle: So ungewöhnlich wohnen die Berliner
Weil die Mieten in Berlin ständig steigen, weichen immer mehr Menschen in Nischen aus. Doch auch diese sind inzwischen bedroht. Wir stellen drei ungewöhnliche Lebensmodelle vor.
Das Leben in Berlin wird immer teurer. Angesichts der Verdrängungen loten Menschen seit Jahrzehnten Alternativen aus. Mit kreativen Energien nutzen sie die Schlupfwinkel der Stadt. Doch auch alternative Formen geraten unter Druck. Wir stellen Projekte und ihre Protagonisten vor.
Minihaus
Peters Traumhaus steht in einem Industriegebiet am Ende einer Sackgasse. Doch der Blick aus dem Fenster eröffnet ein idyllisches Panorama: Weitläufig mäandert die Spree vor einem Wäldchen. Tagsüber herrscht am Ufer Geschäftigkeit. Des Nachts aber ist es so ruhig, dass der Gesang der Nachtigall übers Wasser klingt. Ein Grundstück in dieser Lage würde ein Vermögen kosten. Doch Peter hat keinen Cent bezahlt, denn sein Fundament steht auf Rädern: ein alter Bootsanhänger.
Das hölzerne Gebilde darauf misst zweieinhalb Meter in der Breite, ist vier Meter hoch und fünf Meter lang. Diese Maße hat der Gesetzgeber für Anhänger im Straßenverkehr festgelegt. Dass man darin auch wohnen kann, sieht die Straßenverkehrsordnung nicht vor. Darum will Peter seinen vollen Namen und den Standort lieber nicht in der Zeitung lesen.
Anfang März tauschte der 28-Jährige sein Zimmer in einer Studenten-WG gegen sein selbstgebautes Eigenheim. Die Triebfeder: die Berliner Mietpreise. Er hatte keine Lust mehr darauf, dass der größte Teil seines Lohns fürs Wohnen draufgeht. Nun hat er sein ganzes Leben auf zehn Quadratmetern organisiert.
Alles, was er für den täglichen Bedarf braucht, hat seinen Platz: ein großes Bett, ein Esstisch, eine Kochnische, ein Kleiderschrank. Jeder freie Zentimeter wird genutzt. Ein Sanitärbereich soll bald folgen. Derweil weicht er zur Körperpflege auf öffentlichen Toiletten, die Wohnungen von Freunden oder auf Hallenbäder aus.
Als Handwerker ist er ein Autodidakt. Vieles sei darum beim Bau schiefgegangen. Türen und Fenster klemmen ein bisschen, dafür habe das Dach bisher guten Schutz gegen das verregnete Aprilwetter geboten. Die ein oder andere verfrorene Nacht musste Peter trotzdem in Kauf nehmen: „Manchmal verfluche ich es noch, meist ist es aber die beste Sache der Welt.“
Es gibt auch ganz offiziell ganz kleine Häuser – auf dem Bauhaus Campus Berlin stehen so genannte tiny houses. Gewusst hat Peter davon aber nichts. Erst als ihn wiederholt Passanten darauf ansprachen, habe er einen Blick ins Internet gewagt. Und war erstaunt: Sein Werk ist beinahe eine Eins-zu-eins-Kopie der Bauhaus-Häuser. Der einzige Unterschied: Er zahlte knapp 1000 Euro, die tiny houses kosten ein Vielfaches davon.
Die Institutionalisierung seiner Idee gefällt Peter trotzdem gut. Er zitiert von der Bauhaus-Seite: „Wir wollen Stadtstrukturen jenseits der Standards aufbrechen. Temporäre Dörfer erproben, die auf brachliegenden Plätzen entstehen und über Nacht verschwinden können. Städtebau ohne Genehmigungsschleifen.“ Bisher hat bei ihm noch keiner angeklopft, um ihn wegzuschicken. Doch er will es nicht drauf ankommen lassen. Schon bald will er mit seinem Domizil das Dorf der kleinen Häuser auf dem Campus erweitern.
Hausboot
Alexandra wohnt in einer schwimmenden Pommesbude. Zumindest hatte ihr Hausboot diese Funktion einst. In der Küche stehen noch die Fritteusen, an der Tür zum Wohnzimmer hängt eine goldene Plakette: Kombüse.
Eigentlich war Alexandra damals auf Wohnungssuche. Eine Freundin wies sie auf das Angebot des Hausboots hin. Die erste Besichtigung jagte ihr einen Schrecken ein. Nur knapp 40 Quadratmeter bietet der Innenraum. Die großzügige Dachterrasse überzeugte sie schließlich.
Dick in Fleecejacken eingepackt, sitzt Alexandra auf dem Heck ihres Schiffes. Hündin Chica liegt frisch geschoren zu ihren Füßen. Der Aprilwind wirft die kabbelige Oberfläche der Spree gegen die Bordwand. „Die Situation für Hausboote in Berlin ist schlecht“, sagt Alexandra, „und das, obwohl es nicht mal 100 Hausboote in Berlin gibt.“ Sechseinhalb Prozent der Stadtfläche bestehen aus Gewässern. Das sind 60 Quadratkilometer. Mehr als das von Grachtengürteln durchzogene Amsterdam. Dort liegen 2500 Wohnboote. In London sind es sogar mehr als 4000.
Doch Berlin tut sich schwer mit Leben auf dem Wasser. Alexandra gehörte zu jener Kolonie von Hausbooten, die 2012 ihre Liegeplätze am Treptower Park räumen mussten. Die Argumente sind oft die gleichen: Sie versperrten den Zugang zum Ufer, die Wasserstraßen seien zu eng, der Denkmal- und Naturschutz.
Als sie in Treptow ablegen mussten, suchten sie von Spandau bis Köpenick. Beinahe hätte die Kolonie einen Ausweichplatz gefunden. Dann aber kam das Veto der Stadt: Ein Biber habe 500 Meter weiter seine Burg. Fast hätte Alexandra aufgegeben, dann fand sie aber doch noch einen Liegeplatz im Südosten der Stadt.
Aus ihrer Sicht geschieht die Verdrängung aus ökonomischen Gründen. Grundstücke am Wasser sind begehrt. Für private Investoren seien anliegende Boote ein Störfaktor. Auch Alexandras aktueller Liegeplatz ist bedroht. Der Vermieter will verkaufen. Es geht um Millionenbeträge.
Immer wieder kommen Fußgänger vorbei, die beim Anblick ihres Bootes ins Schwärmen geraten. Doch der Romantisierung kann Alexandra nichts abgewinnen: „Für das Leben auf dem Hausboot muss man buchstäblich mit allen Wassern gewaschen sein. Ich bin jetzt 14 Jahre auf dem Boot und konnte noch keinen Tag durchatmen.“ Immer rostet es irgendwo oder die komplexe Wasserversorgung bricht zusammen. Die Reparaturen nimmt sie selbst vor. Trotzdem zahlt sie im Monat knapp 700 Euro. Stellplatzmiete, Versicherungen, Werftgebühren und hohe Heizkosten machen das Leben auf dem Wasser teuer. Auch die Anschaffungskosten für Boote hätten sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Ein Blick ins Internet verrät: Hausboote kosten oft so viel wie ein Einfamilienhaus.
Wohlhabendes Klientel kann sich die teuren Liegeplätze leisten. Die alternative Szene, die über Jahrzehnte die Hausbootkultur gepflegt habe, gerate derweil unter Druck, sagt Alexandra. Doch trotz all der Widrigkeiten schätzt sie das Leben am Wasser. Auf dem Nachbarsteg landet ein Reiher, Archie hat sie ihn getauft. Das Glühen in ihren Augen kehrt zurück: „Wenn man in einer heißen Sommernacht zum Mitternachtsbad von Deck ins kühle Nass hüpft, dann sind alle Sorgen vergessen.“
Bauwagen
Im Nordosten Pankows zwischen wildwüchsigen Streuobstwiesen und einem Naturschutzgebiet liegt das Wagendorf Karow. Auf großzügig geschnittenen Parzellen reihen sich bunte Bauwagen aneinander. 75 Erwachsene und 38 Kinder leben hier in einer Gemeinschaft.
Orte wie dieser entstanden in Berlin ab Mitte der achtziger Jahre aus der Hausbesetzerszene. Da die meisten von ihnen nur geduldet wurden, ereilte viele die Räumung. Das Wagendorf Karow gibt es seit mehr als 25 Jahren. Auch weil die Bewohner sich als Verein organisierten und regelmäßig Pacht an die Stadt Berlin überweisen. Es ist der größte Wagenplatz Deutschlands und der einzige, der wächst.
Jeder kann Teil der Gemeinschaft werden, sobald ein Stellplatz frei wird. Neue Bewohner sollten lediglich Satzung und Ziele des Vereins unterstützen: „Ein ökologisches, integratives, interkulturelles und generationsübergreifendes Zusammenleben“, wie es Irina zusammenfasst. Sie macht hier die Öffentlichkeitsarbeit.
Eines wolle man aber sicher nicht: Konformität. Anderssein werde als Kompetenz ausgelegt. Egal ob das die politische, religiöse oder sexuelle Orientierung betrifft. Der kleinste gemeinsame Nenner? „Das Brennholz vor der Tür.“ Denn im Warmen sitzen alle gerne.
Die unterschiedlichen Hintergründe der Bewohner sind wichtig für diese Gemeinschaft. Egal ob Holzarbeiten, Elektrik oder Sanitär - in fast allen Bereichen des Alltags könne man sich selbst aushelfen. Jeder Platz habe mittlerweile einen eigenen Strom- und Wasseranschluss.
Ab 3000 Euro ist ein Bauwagen mit zehn Quadratmetern erhältlich, ausgebaut ab 10.000 Euro. Ist das Gefährt dann mal bezugsfertig, winken günstige Lebenshaltungskosten. Für alles andere gibt es eine gemeinschaftliche Infrastruktur: einen Naturkindergarten, ein Internetcafé und eine Bibliothek. Mitten auf dem Platz entsteht gerade eine Pflanzenkläranlage.
Irena ist Teil der ersten Generation des Wagendorfes. Ihre Kinder wurden auf dem Platz geboren. Heute baut ihr Sohn neben dem ehemaligen elterlichen Wagen sein eigenes Eigenheim aus.
Für Kinder sei der Ort ein Paradies, sagt Irina. Umso schwerer falle es dem Nachwuchs, wenn er in die Schule muss. Die Andersartigkeit des Lebensstils macht sie oft zum Ziel von Spott. Oft sei es den Mitschülern suspekt, dass man im Wald lebe und nach Lagerfeuer rieche.
Dabei führen die meisten Wagenbesitzer fast schon ein bürgerliches Leben. In einem klaren Raster angeordnet, wirkt der Platz wie eine Schrebergartensiedlung. Ein Bewohner übt sich in Selbstironie: „Für die Punker, die nebenan campieren, sind wir Spießer. Weil wir Blumenbeete anlegen und manchmal Rasen mähen.“
Nicht der ökonomische Zwang, sondern der soziale und politische Anspruch bringe die Menschen hier dazu ihren Wohnraum auf wenige Quadratmeter zu beschränken. Dafür ist der Platz vor der Haustür nahezu unbeschränkt. Der junge Mann berichtet, wie er einmal von Freunden in ihr frisch renoviertes Designer-Wohnzimmer eingeladen wurde. Seine Antwort war: „Kommt doch mal in mein Wohnzimmer. Es ist dreimal so groß, hat eine Feuerstelle in der Mitte und freien Blick auf die Sterne.“
Vom 11. bis 14. Mai 2017 finden die Wohnprojekttage Berlin unter dem Titel „Experimentdays“ statt. Es handelt sich um eine Plattform zum Austausch für selbstorganisierte Wohnprojekte und andere individuelle Lebensformen. Mehr Informationen: www.experimentdays.de