Klimawandel, Bildung, Mietenwahnsinn: So geht es den Berliner Parteien nach drei Jahren Rot-Rot-Grün
Streit um den Mietendeckel, fehlende Kitaplätze und Lehrer, Klimakrise: Die Berliner Parteien haben mit vielem zu kämpfen. Eine Bilanz nach drei Jahren R2G.
- Ulrich Zawatka-Gerlach
- Ronja Ringelstein
- Sabine Beikler
- Robert Kiesel
Am 8. Dezember 2016 wurde Michael Müller vom Abgeordnetenhaus zum Regierenden Bürgermeister gewählt. An dem Tag nannte und vereidigte er die Senatoren. Drei Jahre Rot-Rot-Grün: Wie geht es den Parteien in Regierung und Opposition?
Auf dem Weg ins Ungewisse – die Berliner SPD
Themen:
Der Markenkern der Landes-SPD, soweit man davon sprechen kann, ist die Wohn- und Mietenpolitik, ein starker Sozialstaat in einer für alle bezahlbaren Stadt – und das Bekenntnis zu Weltoffenheit und Freiheit in einer kunterbunten Metropole. Außerdem bemüht sich der Regierende Bürgermeister Müller darum, Berlins Wissenschaft und Forschung glänzen zu lassen. Dieser Themencocktail wird sicher den nächsten SPD-Wahlkampf bestimmen. Allerdings werben die Linken mit einer ähnlichen Agenda. Die große Schwachstelle der Sozialdemokraten bleibt die Schul- und Kitapolitik.
Personal:
Eine Zweckgemeinschaft prägt das öffentliche Bild der Berliner SPD. Der Regierende Bürgermeister und SPD-Landeschef Michael Müller und der Fraktionsvorsitzende Raed Saleh haben sich zusammengerauft, um gemeinsam um das Überleben der SPD als Regierungspartei zu kämpfen – und um die eigene Zukunft. Sorgen muss sich vor allem Müller machen, den viele Genossen mit Blick auf die Berliner Wahl im Herbst 2021 schon abgeschrieben haben. Bundesministerin Franziska Giffey gilt als starke Konkurrentin. Im nächsten Jahr könnte sich klären, was sie wirklich vorhat.
Harmonie:
Die Sozialdemokraten, in Berlin mit knapp 16 Prozent derzeit nur viertstärkste Partei, können es sich eigentlich nicht mehr erlauben, ihre innere Zerstrittenheit zu zeigen. Auf Parteitagen machen sie es trotzdem. Selbst der starke linke Flügel spricht selten mit einer Stimme. Und es gibt eine zunehmend resignierte Minderheit, die sich fragt, ob diese SPD noch ihre Partei ist. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Kreis- und Ortsverbände ein reges Eigenleben entfalten. Es fehlen Integrationsfiguren, die den Landesverband zusammenhalten und überzeugend repräsentieren.
Strategie:
Für die Berliner Sozialdemokraten ist es schier undenkbar, eines Tages nicht mehr Regierungspartei zu sein. Das Führungsduo Müller und Saleh erhebt sogar weiterhin den Anspruch, im Dreierbündnis mit Linken und Grünen die führende Rolle einzunehmen. Im politischen Alltag wird das zunehmend schwierig. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, vor allem jüngere SPD-Funktionäre wären notfalls bereit, nach 2021 als Juniorpartner weiterzuregieren. In einer irgendwie grün-linken Koalition, etwas anderes liegt für die meisten Genossen außerhalb der Vorstellungskraft.
Wird der nächste Michael Müller eine grüne Frau? - Berlins Grüne
Personal:
Früher war die Parteispitze weitgehend abgekoppelt von der Fraktionsspitze. Heute läuft das Zusammenspiel zwischen der Fraktionsspitze Antje Kapek, Silke Gebel, den Parteivorsitzenden Werner Graf und Nina Stahr sowie den Senatoren Ramona Pop, Regine Günther und Dirk Behrendt eng verzahnt. Erst in dieser Woche trafen sich die Spitzen, Senatoren und der parlamentarische Geschäftsführer Daniel Wesener zum informellen Gespräch. Mit Blick auf das Wahljahr 2021: Wetten, dass an der Spitze eine Frau steht, vielleicht auch ein Duo mit Pop und Kapek?
Themen:
Grünes Hauptanliegen bleibt die Ökologie – mit den Schwerpunkten Klimaschutz und Mobilitätswende. Das Ziel sind weniger Autos, mehr Fahrradwege und die Modernisierung des öffentlichen Nahverkehrs – durch neue U-Bahn-Wagen und die Vergabe von Teilnetzen der S-Bahn. Beim Thema Wohnen und Mieten will die Partei Genossenschaften und faire Vermieter vom Mietendeckel befreien. Und die Grünen werben für eine offene Gesellschaft mit gleichen Rechten und Chancen für alle.
Harmonie:
Die Berliner Grünen sind ein traditionell linker Landesverband. Strömungspolitische Auseinandersetzungen zwischen Realos und linkem Flügel gibt es in den Auswüchsen nach der Wahl 2011 nicht mehr: Damals hätten die Flügelkämpfe beinahe zur Spaltung der Fraktion geführt. Das heißt aber nicht, dass die Beziehungen zwischen Bezirken, grünen Stadträten und Senatsverwaltungen konfliktfrei verlaufen. Eine Garantie für Harmonie bei den Grünen gibt es nicht.
Strategie:
Mit 24,4 Prozent liegen die Grünen laut Civey-Umfrage weit vorn. Aber das will nichts heißen. Die Partei kennt die Höhenflüge in den Umfragen, die sie empfindlich in der Realität auf den Boden kommen lassen. Ihr Credo, konstruktive Sachpolitik betreiben zu wollen, verfolgen sie seit Beginn von R2G deutlich besser. Die Ur-Angst, in dieser Koalition das dritte Rad am Wagen zu sein, hat sich relativiert. Die Grünen stehen ohne Wenn und Aber zur Koalition. Die Partei verfolgt konsequent Zukunftsthemen und will auch die Neu-Berliner politisch mitnehmen.
Sie profitiert vom Kampf gegen Wuchermieten – die Berliner Linke
Personal:
Bei den Linken heißt es liebevoll: „Der Klausi macht’s.“ Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Kultursenator und Bürgermeister Klaus Lederer ist immer noch mit Abstand der beliebteste Politiker in Berlin. Und er wird auch wieder Spitzenkandidat 2021. Die beiden Fraktionsvorsitzenden Carola Bluhm und Udo Wolf sind langjährige Polit-Profis und könnten den Weg für junge Nachwuchspolitiker frei machen. Mit Katina Schubert hat die Berliner Linke eine pragmatische Parteichefin, die klare Linien vorgibt und mitunter etwas zu spontan ist.
Themen:
Die Linke versteht sich als Partei der Mieter. Deshalb macht die Wohn- und Mietenpolitik den inhaltlichen Kern aus. Ob das von Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher erarbeitete Mietendeckel-Gesetz die juristische Prüfung besteht, wird sich erst zeigen. Eine linke Partei muss sich die Worte „solidarisch“ und „sozial“ auf ihre Fahnen schreiben. Mit Sozialsenatorin Elke Breitenbach hat die Partei Strategien gegen Armut, Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf den Weg gebracht. In der Klimapolitik schaffen es die Linken nicht, sich gegen die Grünen zu behaupten.
Harmonie:
Die Linken in Berlin treten demonstrativ geschlossen auf, die zermürbenden Flügelkämpfe zwischen den Reformern und Anhängern der Kommunistischen Plattform sind beendet. Mussten die Berliner Genossen früher auf Bundesparteitagen Rede und Antwort stehen für eine pragmatische Sachpolitik im rot-roten Berliner Senat, lobt die Bundespartei heute Rot-Rot-Grün als politisches Vorbild für Mitte-links-Projekte in Bund und Ländern.
Strategie:
Die Partei hat in Civey-Umfragen derzeit 18,3 Prozent und liegt hinter den Grünen auf Platz zwei. Strategisch verfolgen die Linken Mitte-links-Projekte. Sie zeigen sehr klare Kante gegen Rechte. Die Berliner Linke arbeitet unter Rot-Rot-Grün pragmatisch und bemüht sich auch bundesweit, R2G als Alternative zum rechtskonservativen Lager auszubauen. In ihrem Selbstverständnis sieht sich die Linke aber auch als Teil von linken Bewegungen. Das kann zu Spannungen zwischen Aktivisten und Genossen führen.
Aufbruchsstimmung unter Kai Wegner und keine Machtkämpfe mehr – die Berliner CDU
Personal:
Seit Mai ist Kai Wegner CDU-Landeschef und läuft sich die Hacken ab, 16-Stunden-Tage seien häufig, heißt es. Wegner hat nicht das beste Image, viele CDUler vertrauen dem Strippenzieher und Taktiker nicht. Doch auch seine Kritiker erkennen seinen Fleiß an. Wegner hat offenbar Spaß daran, Landesvorsitzender zu sein. Er sorgt für Aufbruchsstimmung, die sie in der Union gut gebrauchen können. Das Verhältnis zum Fraktionschef Burkard Dregger beschwören beide als „offen“ und „gut“. Beide stünden als Spitzenkandidat für die Abgeordnetenhauswahl bereit. Eine dritte Lösung ist möglich.
Themen:
Wo die SPD eine offene Flanke zeigt, will die CDU im kommenden Jahr angreifen: Sie plant eine große Offensive in der Bildungspolitik. Digitalisierung in den Klassenräumen, Verbeamtung von Lehrern, Schulbauoffensive sind nur drei Stichworte.
Beim Thema Verkehr versucht sich die CDU an einem Imagewechsel: Sie denkt das Thema Umwelt jetzt mit und will etwa auf dem Tempelhofer Feld einen „Stadtwald“ pflanzen. Das Thema Sicherheit sieht die CDU nach wie vor als ihre Kernkompetenz. In Sachen Wohnungspolitik will sie zunächst gegen den Mietendeckel klagen.
Harmonie:
Die Berliner CDU ist nicht für Harmonie bekannt. Machtkämpfe, Geklüngel, Hinterzimmer-Politik – damit soll jetzt aber, mal wieder, Schluss sein. Im Landesvorstand läuft es bisher gut. Den hatte Wegner, nachdem er Monika Grütters aus dem Amt gedrängt hatte, neu sortiert. Die Fraktion im Parlament macht Sorgen. Bei Fraktionssitzungen sei von 31 Abgeordneten oft nur knapp die Hälfte da, auch das wird Dregger als Führungsschwäche ausgelegt. Putsch-Gedanken hegt wohl niemand, doch viele Abgeordnete sind unzufrieden. Von Aufbruch ist hier nichts zu spüren.
Strategie:
Die CDU profitiert noch nicht viel davon, dass Berlin die unbeliebteste Regierung Deutschlands hat. Wegners Strategie ist es, die Partei möglichst breit aufzustellen: konservativ, liberal und sozial. Dafür will er Personal in den Fokus der Wähler rücken, das diese Themen glaubhaft verkörpert. Auch mehr Frauen will – muss – die CDU gewinnen, nur 33 Prozent der Mitglieder sind weiblich. Wegner verspricht, die Kreisverbände in die Pflicht zu nehmen, Frauen bei den Nominierungen für die Wahl 2021 zu berücksichtigen. Mit 16,7 Prozent liegt die CDU laut Civey-Umfrage auf Platz drei.
Die „Rettung des christlichen Abendlandes" bestimmt weiter das Profil – die Berliner AfD
Personal:
Ursprünglich hätte der neue Landesvorstand und damit auch die Parteispitze für das Wahljahr 2021 im November gewählt werden sollen, das geschieht nun im Januar. Unklar ist, ob der amtierende Vorsitzende Georg Pazderski seinen Posten behalten wird. Seine Machtbasis wackelt, zuletzt verlor er seinen Vize-Posten im Bundesvorstand. Als möglicher Herausforderer galt Gottfried Curio, auf dem Bundesparteitag erlebte auch er eine Niederlage. Die Frage der Spitzenkandidatur ist offen.
Themen:
Das Thema Nummer 1 bleibt für die AfD die Frage von Einwanderung, Integration, Rückführung. Zwar setzen die Fachpolitiker auch Akzente in anderen Politikfeldern, beispielsweise mit einem verkehrspolitischen Konzept. Diese treten in der Außenwahrnehmung hinter Forderungen nach Bewahrung der christlich-abendländischen Traditionen aber deutlich zurück. Problemfelder wie die innere Sicherheit, beispielsweise am Görlitzer Park, werden von der AfD häufig rassistisch aufgeladen.
Harmonie:
Trotz des Anspruchs der AfD, sich als Alternative zu der von ihr geschmähten Konkurrenz der „Altparteien“ darzustellen, ist es mit der Harmonie in den eigenen Reihen nicht weit her. Einzelne Mitglieder behaupten gar, Missgunst und Postengeschacher seien größer als anderswo. Dafür sprechen parteiöffentlich ausgetragene Streitigkeiten um die Mitgliedschaft in einzelnen Landesverbänden. Außerdem sind zahlreiche Schiedsgerichtsverfahren anhängig, auch gegen den Landesvorstand. Das eigene Landesschiedsgericht ist nach dem Rücktritt seiner Mitglieder nur kommissarisch im Amt.
Strategie:
Bei der Kommunikation politischer Inhalte und Initiativen konzentriert sich die AfD vor allem auf ihre eigenen Anhänger. Mittel der Wahl sind die sozialen Netzwerke. Gemessen an ihrer kurzen Historie und der geringen Mitgliederzahl ist die Partei ihrer Konkurrenz da deutlich voraus. Parlamentarisch setzt die Partei auf die Anschlussfähigkeit zu CDU und FDP. „Keine bürgerliche Mehrheit ohne AfD“ ist ein beliebter Slogan. Zuletzt feierte die Partei sich für die verhinderte Wahl der Linken-Kandidatin für das Verfassungsgericht – mit den Stimmen von CDU und FDP.
Klare Gegenposition zu rot-rot-grünen Projekten und eine One-Man-Show – die Berliner FDP
Personal:
Das Aushängeschild der Liberalen ist Sebastian Czaja. Der 36-jährige Fraktionschef weiß die Öffentlichkeit für sich und seine Partei zu nutzen. Interne Kritiker dieser One-Man-Show dringen nicht durch. Obwohl die FDP über ausgewiesene Fachpolitiker verfügt, beispielsweise Sibylle Meister (Haushalt), Bernd Schlömer (Digitalisierung) und Thomas Seerig (Soziales und Pflege). Die Entscheidung über die FDP-Spitzenkandidatur für die Berliner Wahl 2021 dürfte eindeutig pro Czaja ausfallen.
Themen:
Das bisher zentrale Thema der Berliner FDP, die Offenhaltung des Flughafens Tegel, kommt der Partei endgültig abhanden, wenn der Hauptstadt-Airport BER im Oktober 2020 tatsächlich eröffnet wird. Eine politische Neuausrichtung der Freien Demokraten scheint nötig. Deren Landeschef Christoph Meyer, der im Bundestag sitzt, nennt als liberale Kernthemen die Digitalisierung, Bauen und Wohnen sowie die Verkehrspolitik. Ihre klare Gegenposition zu rot-rot-grünen Projekten wie dem Mietendeckel oder möglichen Enteignungen behält die FDP selbstverständlich bei.
Harmonie:
Die Zeiten der heftigen Grabenkämpfe vor allem der West-Berliner Liberalen scheinen überwunden. Von einer „ziemlich ungewöhnlichen Geschlossenheit“ ist in Parteikreisen die Rede. Altgediente Funktionäre reiben sich beinahe verwundert die Augen. Vor allem die FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus gibt ein geschlossenes Bild ab. Auch die Spannungen, die der eigenwillige Abgeordnete Marcel Luthe Anfang des Jahres verursachte, haben sich wieder gelöst.
Strategie:
Die Liberalen wollen sich mit Blick auf den nächsten Wahlkampf auf wenige Themen konzentrieren und diese wirksam vertreten. Landeschef Meyer will die Kampagnenfähigkeit der FDP ausbauen und die eigenen Positionen möglichst direkt vermarkten. Kürzlich erfolgte eine erste Weichenstellung: In der FDP-Landesgeschäftsstelle wurden die bislang in Personalunion ausgeübten Posten des Leiters und Pressesprechers getrennt und neu besetzt. Und in der Fraktion wurde ein Ansprechpartner für die bessere Koordination zwischen Bezirkspolitik und Landesparlament geschaffen.