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Auf den Ruinen des geteilten Landes läuteten die Berliner das neue Jahr ein.
© picture alliance / dpa

Silvester 1989: So feierte Berlin den Jahreswechsel nach dem Mauerfall

Zu Silvester 1989 war die Euphorie über die nahende Wiedervereinigung groß. Mit Folgen: Ein Toter musste damals geborgen werden.

Dieses Silvester ’89 in Berlin war ein ganz besonderer Freuden- und Feiertag. Einer, den es so nie wieder gab. Und geben wird. Das „Freude, schöner Götterfunken“ wurde selten so inbrünstig gesungen, manche aber schwiegen betreten, weil ihnen unheimlich war, was da auf sie zu kam. Die DDR mit ihren Mechanismen war zwar noch da, aber nur als schemenhafter Staat, von dem jeder wusste, dass ihm die Abwicklung bevorstand. Oder die freundliche Übernahme: Der Bruder-und-Schwestern-Staat umarmte den Arbeiter-und-Bauern-Staat so heftig, dass dem die Luft weg blieb: Der dicke große Kohl in ganzer Fülle neben dem schmächtigen de Maiziere – da platzte der Bildschirm. Augenhöhe?

Um Weihnachten war im Osten noch Hans Modrow am Ruder. Beide, der Ministerpräsident und der Bundeskanzler, schritten am 22. im strömenden Regen, der flugs zum Freudentränenschauer umfunktioniert wurde, durchs Brandenburger Tor, dessen breitbeinige Barrikadenmauer in der Nacht zuvor von NVA-Trupps friedfertig durchlässig gemacht wurde. Wer dabei war, wird auch dieses nächtliche Szenario nie vergessen: Die Grenzwächter zerstören ihren Arbeitsplatz am Mauerwerk, das sie 28 Jahre lang vor den eigenen Werktätigen und ihrem Drang ins Freie zu bewachen hatten.

Übermut am Brandenburger Tor sorgte für Verletzte und einen Toten

Zu Silvester kamen unzählige Gäste ans Brandenburger Tor, dieses Jahrhundert-Symbol wollte berührt und geküsst sein, manche nahmen das wörtlich: Bis zu 500 Menschen standen nächtens gleichzeitig neben, auf oder zwischen der Quadriga, dem Wagen der Friedensgöttin, die in den Osten galoppierte. Mehrere Hunderttausend waren zum Tor gekommen, weil sie etwas Feierliches erwarteten. Alles sofort, unverzüglich. Spontan und ordnungswidrig.

Als eine Video-Wand des Fernsehens aus Adlershof einstürzte, weil sie die Massen nicht mehr fassen konnte, gab es 135 Verletzte, Unter den Linden lag ein Toter. Die Stadtreinigung kämpfte sich am Schluss durch einen zentimeterhohen Belag aus Glassplittern: O Freunde, nicht diese Töne!

Eine Minute nach zwölf erblickte das Baby Georg das grelle Licht der Charité: 48 Zentimeter groß, 2710 Gramm leicht. Mutter Mechthild Wolf, Diplom-Ökonomin, strahlt zum doppelten Glück in die Kamera. Wir wollten Georg, das erste Baby im Jahr der Wiedervereinigung, ausfindig machen, was leider misslang. Vielleicht meldet er sich mal: Georg Wolf oder Dietze (so heißt der Vater). Neujahr 29 Jahre alt.

Die Sucht nach frischer, freier Luft

Silvester 1989/90: Die Übergangsgesellschaft. Ging nahezu geschlossen durch die Grenzübergänge, von Ost nach West und umgekehrt. Wiedersehensfreude. Neugier. Sucht nach frischer, freier Luft. Die einen fahren zu den bayerischen Verwandten (und entdecken, dass die Ost-Nußknacker oder -Rauchermännchen im West-Keller gestrandet sind), die anderen bringen eine Auswahl der 200 Käsesorten aus dem KaDeWe in den Osten und schwärmen: Na, das wird’s alles sehr bald auch bei euch geben.

Und so kommt es, zum Überfluss. Bei der Vorschau aufs Einheitsjahr 1990 lesen nicht nur die Wahrsagerinnen aus dem Kaffeesatz („einschneidende Veränderungen deuten sich an“), sondern äußern auch Prominente aus der DDR ihre Hoffnungen, die manchmal auch Befürchtungen sind. Angelica Domröse, die Schauspielerin, erinnert an Richard von Weizsäckers Wunsch: „Zusammenwachsen, nicht zusammenwuchern“. Sie möchte weiter zwei Staaten haben, denn „meine Ängste vor einer Einheit Deutschlands sind größer als die Hoffnungen“.

Ihr Mann Hilmar Thate hat Angst, dass „die DDR nach dem Laubenpieper-Stalinismus verramscht wird und ihre Bürger zum Dienstpersonal der Profithaie werden“. Und die Sängerin Veronika Fischer wünscht sich eine Gesellschaftsordnung, die attraktiv, produktiv und rechtsstaatlich ist, „eben keine Ellenbogengesellschaft“.

Die Mauer im Schlussverkauf

Naja, gleich zur Sache: Am 5. Januar gibt es in Ost-Berlin nach zehn Jahren Pause wieder einen Winterschlussverkauf. Und ADN meldet, dass der DDR-Außenhandelsbetrieb Limex „ausländischen Interessenten vorerst etwa 40 Segmente der Berliner Mauer zum Kauf anbieten wird“. Sie stammen aus der Öffnung von Grenzübergangsstellen wie am Brandenburger Tor oder am Potsdamer Platz. Die aus diesem Geschäft zu erwartenden hohen Deviseneinnahmen gehen auf ein Konto und sollen ausschließlich für humanitäre Zwecke Verwendung finden. Ein Zertifikat dokumentiert die Echtheit. Der devisenklamme Staat verramscht sein fürchterlichstes Bauwerk, die Mauerspechte holen sich den Rest.

Der weise Forscher, mit Titeln, Funktionen und Preisen überhäufte Grandseigneur der bürgerlichen DDR-Elite, Manfred von Ardenne, hatte sehr große Hoffnungen nach dem Mauerfall: „Es hat, glaube ich, in diesem Jahrhundert keinen Jahreswechsel gegeben, wo die Menschen in der Welt, in Europa und vor allem bei uns in der DDR mit so vielen begründeten Hoffnungen dem neuen Jahr entgegensehen konnten. Vor allen Dingen muss unsere Jugend erkennen, nicht nur, dass uns ein steiler Aufstieg bevorsteht, sondern dass für jeden Einzelnen eine Fülle von Aufgaben zu erwarten ist, deren Lösung tiefe Befriedigung gibt.“ Bis heute.

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