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Taube aus Nahsicht, die in die Kamera guckt.
© privat

Tauben in der Stadt: Sie wollen nur turteln

Die Stadttaube hat ein Imageproblem. Dabei ist das meiste, was wir über sie zu wissen glauben, blanker Unsinn. Ein Plädoyer für eine Außenseiterin.

Samstagmittag am Nollendorfplatz, auf der Mittelinsel unter dem U-Bahnhof. Plastiktüte in der Hand, dies ist ein Experiment. Zwei Fragen gilt es heute zu klären: Wenn hier einer in aller Öffentlichkeit Brotkrumen vor sich auf den Boden wirft, wie lange dauert es, bis die erste Taube kommt und frisst? Und wie lange dauert es, bis der erste Passant motzt? Brot raus, Stoppuhr an.

Die zwei gemessenen Zeiten: 110 Sekunden bis zur Taube, knapp vier Minuten bis zur ersten Beschwerde. Die Frau schiebt einen Kinderwagen vor sich her, in ihrem Blick steckt mehr Verachtung als Vorwurf. „Sie wissen schon, dass das verboten ist, oder?“ Im Vorbeigehen grummelt sie noch einen Satz, aus dem sich das Wort „widerlich“ heraushören lässt. Unklar, ob sie die grauen Vögel oder den Brotwerfer meint.

Sicher ist: Tauben haben ein Imageproblem. Sie sind nicht niedlich wie Blaumeisen, nicht bunt wie Eichelhäher und nicht selten wie Eisvögel. Tauben nerven, jedenfalls die meisten Stadtmenschen – manchmal auch solche, die sich ansonsten für konsequente Tierschützer halten. Die Gründe der Ablehnung sind zahlreich. Und die meisten davon sind Quatsch. Denn kaum eine der vermeintlichen Gewissheiten, die über Tauben verbreitet werden, hält der Realitätsprüfung stand.

Die meckernde Frau mit dem Kinderwagen hatte unrecht. Taubenfüttern ist in Berlin nicht verboten. Die Tiere werden vom Senat auch gar nicht als Schädlinge eingestuft. Die zehntausenden Tauben, die angeblich die gesamte Stadt belagern und sich unaufhaltsam vermehren, gibt es nicht. Der Naturschutzbund hat eine aufwendige Zählung durchgeführt, es sind bloß 9000 Vögel. Schätzungen reichen bis zu 13000.

Auch Klaus Lüdcke, der Tierschutzbeauftragte des Landes Berlin, beruft sich auf das Ergebnis der Zählung. Angesichts der Fläche Berlins fällt sie extrem niedrig aus. Auf jeweils 389 menschliche Einwohner Berlins kommt damit eine einzige Taube. Zum Vergleich: Im historischen Zentrum Venedigs kommen auf 389 Menschen statistisch gesehen unfassbare 622 Tauben.

Die Population der Berliner Schwärme hat in den vergangenen Jahren spürbar abgenommen. Dass die Tiere im Stadtbild überhaupt noch auffallen, rührt allein daher, dass sie Grünflächen eher meiden und sich an belebten öffentlichen Plätzen wie Bahnhöfen versammeln, wo sie auf Abfälle des Menschen hoffen können. Es gibt eine effektive Methode, diese Schwärme mit Futter wegzulocken und langfristig in sogenannten betreuten Taubenschlägen anzusiedeln, wo man ihre Eier gegen Gipsimitate austauschen kann. Es ist die einzige erwiesenermaßen wirkungsvolle und gleichzeitig tiergerechte Maßnahme, um Populationen langfristig zu regulieren. Leider wird sie – trotz erfolgreicher Umsetzungen in ganz Deutschland – bis jetzt erst in den wenigsten Bezirken angewendet. Ein Berlin ganz ohne Tauben wäre schlecht. Zum Beispiel für die 160 Habichte in der Stadt, die jedes Jahr bis zu 19000 Tauben als Nahrung benötigen.

Blumentöpfe sind gefährlicher als Tauben

Es heißt: Tauben sind gefährlich, weil sie Krankheiten übertragen. Auch das ist ein Mythos. Bereits vor 30 Jahren hat das Bundesgesundheitsamt bestätigt, dass lediglich Taubenhalter ein erhöhtes Infektionsrisiko haben – für den normalen Stadtbewohner ist der Vogel nicht gefährlicher als Amsel, Drossel, Fink oder Star. Beziehungsweise jeder andere Wild- oder Ziervogel oder, so hat es das Gesundheitsamt ausgedrückt, überhaupt jedes „Nutz- oder Liebhabertier“.

Das Bundesministerium für Gesundheit teilt diese Ansicht. Bloß in der Bevölkerung ist das nicht angekommen, und daran sind leider vor allem die Medien schuld, die unbeirrt am Schmähbegriff „Ratten der Lüfte“ festhalten. Der Essener Tierarzt Ludger Kamphausen, einer der versiertesten Taubenexperten des Landes, hält die Warnungen für maßlos überzogen. Wesentlich größer sei die Gefahr, sich etwa durch das Berühren eines Blumentopfs mit Pilzen zu infizieren.

Es heißt, der Kot der Tauben verdrecke die Stadt und zerstöre sogar Gebäude. Richtig ist: Berlins Tauben hinterlassen 27 Tonnen Trockenkot pro Jahr. Klingt nach viel, aber Berlins Hunde produzieren 55 Tonnen Kot – und zwar jeden einzelnen Tag. Das macht pro Jahr mehr als 20000 Tonnen.

Die Technische Universität Darmstadt hat bereits vor acht Jahren die Wirkung des Taubenkots auf unterschiedliche Materialien zum Hausbau getestet. Sie fand heraus, dass die Ausscheidungen keinerlei Schäden anrichten, weder bei Buntsandstein, Granit oder Zementmörtel noch bei Vollklinker, Vollziegel oder unbehandeltem lasierten Nadelholz. Lediglich bestimmte Bleche können, wird der Kot nicht binnen wenigen Wochen entfernt, zeitiger rosten. Dies gilt allerdings auch für jeden anderen Vogelkot. Bis heute gibt es keinen ernst zu nehmenden Wissenschaftler, der das Ergebnis der Uni Darmstadt anzweifeln würde. Tatsächlich werden inzwischen vor allem Industrie- und Autoabgase für Schäden an der Gebäudesubstanz verantwortlich gemacht. Ironischerweise weist allerdings das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege darauf hin, dass Taubenansammlungen indirekt sehr wohl zu Gesteinsschäden führen können – wenn Menschen Löcher ins Mauerwerk bohren, um Netze zur Taubenabwehr anzubringen.

Unbestreitbar bleibt das ästhetische Problem. Der weiße, schlierenförmige Kot der Stadttauben ist eklig anzusehen. Dabei handelt es sich jedoch um den Kot solcher Tiere, die kein artgerechtes Futter, sondern überwiegend Müllreste von Imbissbuden fressen oder eben alles, was auf der Straße liegt, von Dönerresten bis Süßigkeiten. Eigentlich sind Tauben Vegetarier, bevorzugen Körner. Die Ausscheidungen gesunder Tauben sind fest und dunkel. Wer einmal einen betreuten Schlag besucht hat, in dem die Vögel Zugang zu Körnerfutter erhalten, wird den Unterschied leicht erkennen.

Ein weiteres Vorurteil lautet: Wer Tauben füttert, bewirkt automatisch, dass die Vögel verstärkt brüten. Ein solcher Zusammenhang wurde tatsächlich bei verschiedenen Wildtieren beobachtet. Haben sie Nahrung, vermehren sie sich stark, in Hungerzeiten passen sie sich an und drosseln die Reproduktion. Das Problem besteht aber darin, dass Stadttauben keine Wildtiere sind, sondern ausgesetzte oder entflohene und dann verwilderte Haus- oder Brieftauben –beziehungsweise deren Nachkommen.

Nicht füttern ist auch keine Lösung

Sie wurden einst dazu gezüchtet, sich ganzjährig zu paaren, bis zu sieben Mal pro Jahr mit je ein bis zwei Eiern, unabhängig vom Nahrungsangebot. Der einzige wissenschaftlich belegte Effekt einer Nahrungsverknappung ist daher, dass weniger Jungtiere die ersten Wochen überstehen – weil sie verhungern. Man darf hier niemandem böse Absicht unterstellen, und sehr wahrscheinlich meinen es die meisten, die eine solche Verknappung fordern, wirklich nur gut. Richtig ist trotzdem: Wer die Taubenpopulation in Gegenden, in denen noch keine betreuten Schläge eingerichtet wurden, durch ein radikales Fütterungsverbot senken möchte, ruft zwangsläufig dazu auf, mehr Vogelbabys und deren Eltern verhungern zu lassen.

Aber auch Füttern kann unverantwortlich sein. Tauben gewöhnen sich nämlich sehr schnell an einzelne Menschen, verlassen sich dann schon nach wenigen Malen darauf, dass diese tatsächlich erscheinen. Wer also an einem bestimmten Platz regelmäßig füttert, muss das 365 Tage im Jahr tun, sonst ist das ebenfalls Quälerei, sagt Klaus Lüdcke, der Tierschutzbeauftragte.

Die Natur wird es richten, könnte man nun einwenden. Aber es ist eben nicht die Natur, die das Taubenproblem geschaffen hat, sondern der Mensch. Die erste große Vogelplage begann Ende des Zweiten Weltkriegs, als ganze Schwärme durch Berlins Straßenruinen flogen. Ihre Schläge waren entweder zerstört oder die Besitzer mussten um ihr eigenes Überleben kämpfen und hatten kein Geld übrig, um Haustiere zu ernähren. Die Nachkommen dieser Tauben bilden den Grundstock der heutigen Population.

Hinzu kommen ständig neue Brieftauben, die von ihren Haltern bei Wettkämpfen hunderte Kilometer vom Schlag entfernt ausgesetzt werden und nicht genug Kraft für die gesamte Strecke haben. Eine traditionsreiche, beliebte Wettkampfstrecke ist die Route aus dem Ruhrgebiet bis nach Polen. Entkräftete Tiere landen dabei bevorzugt in Berlin. Brieftauben tragen zwar Ringe, ihr Besitzer ist leicht identifizierbar. Doch der will sie oft gar nicht zurück. Weil eine Taube, die ihre Distanz nicht zurücklegen konnte, als Verliererin und unbrauchbar für die Zucht gilt.

Nein, die Taube ist keine Heilige. Ihre Verklärung als Friedensbringer war ebenso unangebracht wie die Annahme, Tauben blieben lebenslang monogam. Auch sie neigen zu Seitensprüngen, wenn auch nicht so häufig wie der Mensch, das haben Forscher herausgefunden. Die einzige Tierart, die hundertprozentig monogam lebt, ist nach derzeitigem Kenntnisstand Peromyscus californicus. Die kalifornische Maus.

Auffällig ist, dass selbst viele Natur- und Tierschützer wenig Elan aufbringen, sich ausgerechnet für die Taube einzusetzen. Der Naturschutzbund vergibt seit 1971 den Titel „Vogel des Jahres“, und so ziemlich alles, was in Deutschland zwei Flügel besitzt, wurde bereits geehrt: der Wendehals, die Dohle, diverse Falken.

Sogar der Singvogel mit dem unschönen Namen Neuntöter, er gehört zur Familie der Würger, bekam die Auszeichnung. Der Neuntöter heißt so, weil er Mäuse, Insekten und andere Vögel als Futterreserve auf spitzen Zweigen aufspießt. Die Taube dagegen war nie Vogel des Jahres. Glaubt man der Sprecherin des Nabu-Bundesverbands, sind die Chancen auch für 2013 eher dürftig.

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Wie man helfen kann

Wer auf der Straße eine verletzte oder sichtbar kranke Taube findet, sollte sie selbstständig zum Tierarzt bringen, am besten in einem Karton gelagert. Auf Vögel spezialisiert hat sich etwa Sonja Kling mit ihrer Praxis in der Charlottenburger Mierendorffstraße. Telefon 34 90 28 43. Für nächtliche Notfälle: Die Praxis Rödiger in der Scharnweberstraße 136 in Reinickendorf hat rund um die Uhr geöffnet. Telefon 412 73 57.

Wer Almut Malones „Avian Vogelschutzverein“ unterstützen möchte, etwa durch Geld- oder Sachspenden, erfährt Näheres dazu auf der Internetseite www.vogelklappe.de. Malone ist auch unter info@mednavigator.de zu erreichen. Tauben-Notfälle auf der Straße können ihr per SMS an die Mobilnummer 0172-31 73 455 gemeldet werden.

Das Berliner Tierheim, Hausvaterweg 39 in Falkenberg, unterhält ein eigenes Taubenhaus, in dem kranke Tiere gesund gepflegt werden. Wer ehrenamtlich helfen will: Telefon 76 88 80.

Auf www.stadttaubenkonzept.de findet man tierschutzgerechte Tipps für den Fall, dass sich Tauben auf dem eigenen Balkon oder im Garten niederlassen.

Wer sich für das Konzept des betreuten Taubenschlags interessiert, kann sich unter www.tierrechte.de/themen/stadttauben eine 20-minütige Dokumentation anschauen.

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