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Auf die Ohren. Alle 24 Sekunden läuft in der Einsatzleitstelle ein Notruf ein. Oberkommissar Schließer sagt: "Genau mein Ding."
© Kitty Kleist-Heinrich

Report aus der Berliner Notrufzentrale: Sie hören das Splittern, das Wimmern, die Schreie

Sobald sie die rote Taste gedrückt haben, schießt den Polizisten die Angst der anderen direkt ins Ohr. Manche geben auf. Andere wollen nie wieder weg.

Der ältere Herr hatte die 110 gewählt und erklärt, dass er eine Pistole in der Hand halte und sich gleich zu erschießen gedenke. Er sei vom Krebs zerfressen. Wo er denn am besten den Lauf ansetzen soll, um sicher zu gehen? Dann fällt der Schuss, er ist noch auf dem Band zu hören – danach nur noch Stille.

„Bei uns arbeiten harte gestandene Leute“, sagt Polizeioberkommissarin Kunst, 37 Jahre alt. Aber direkt dabei und doch so hilflos zu sein, das hänge einem lange nach.

Manche Kollegen geben auf, manche wollen nie wieder weg

Polizeiruf 110. Im wahren Leben gibt es Dinge, auf die kann kein Mensch gefasst sein, nicht einmal die erfahrensten Polizisten im Team.

Sobald sie die rote Taste gedrückt haben, schießt ihnen die Angst der anderen, ihr hastiges Atmen, die gepresste Stimme, über die Kopfhörer direkt ins Gehirn. Hier drinnen, wo es warm und auch in der Nacht hell ist, im vermutlich wichtigsten Großraumbüro der Stadt, werden sie zu Zeugen der Gewalt – irgendwo da draußen in Berlin.

Notrufbereitschaft. Deutschlands größte Einsatzleitzentrale sitzt im ehemaligen Flughafen Tempelhof.
Notrufbereitschaft. Deutschlands größte Einsatzleitzentrale sitzt im ehemaligen Flughafen Tempelhof.
© Kitty Kleist-Heinrich

Es gebe Kollegen, die kommen nach zwei Tagen zu dem Schluss: viel zu stressig, nichts für mich. Und es gibt Menschen wie Kommissarin Kunst, die gar nicht mehr weg wollen aus Deutschlands größter Einsatzleitzentrale, die untergebracht ist in einem Gebäuderiegel auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof, dem Dienstsitz des Berliner Polizeipräsidiums.

"Tell me what happened!"

700 Quadratmeter, Schreibtische, Monitore, Leuchtstoffröhrenlicht, und über allem liegt an diesem Freitagmorgen ein Klangteppich aus Tastengeklapper und Stimmengewirr:

Kennzeichen, das Kennzeichen, bitte!

Wer bedroht Sie?

Zweimal E – und Paula vorne?

Handelt es sich um eine Zucht- oder Hauskatze?

Tell me what happened!

Idiotruf. In jeder Schicht schwappt über die 110 auch der geballte Großstadtwahnsinn in die Zentrale. "Manchmal verzweifelt man am Bürger“, sagt Oberkommissarin Kunst.
Idiotruf. In jeder Schicht schwappt über die 110 auch der geballte Großstadtwahnsinn in die Zentrale. "Manchmal verzweifelt man am Bürger“, sagt Oberkommissarin Kunst.
© Kitty Kleist-Heinrich

Es gibt wohl keinen anderen Ort in dieser Stadt, an dem das Tragische und das Banale, die Abgründe und der Alltag so dicht beeinanderliegen. 1,5 Millionen Notrufe nehmen die Polizisten jedes Jahr in der Zentrale entgegen, leiten sie weiter an die Einsatzhunderschaften, Funkwagen und Zivilstreifen. Das rote Blinken auf dem Display kann einen Wahnsinnigen ankündigen, der gerade dabei ist, seinen Säugling aus dem Fenster zu werfen – oder einen entflogenen Kanarienvogel.

"Manchmal verzweifelt man am Bürger"

Alles schon gehabt. Das ist ein Satz, den man in der Zentrale von fast jedem hört. Die Großmutter, die am Silvesterabend glaubt, dass jetzt die Russen kommen. Die Mutter, die einen Einsatzwagen bestellt, weil ihre Kinder nicht spuren. Der Vater, der immer wieder brüllt „Du kommen, schnell, Problem!!!“ – und dann hat dem Mann nur jemand die Parklücke weggenommen. „Manchmal verzweifelt man am Bürger“, sagt Kunst.

Anruf 14. September, 2.43 Uhr

"Mein Mann liegt betrunken im Bett, hat seinen Arm auf meine Seite ausgestreckt."

Berolina – so nennt sich die Leitstelle über Funk. Bevor Kunst hier vor acht Jahren anfing, war sie bei der Bereitschaftspolizei, hat Großdemonstrationen und Fußballspiele in voller Montur begleitet, stand am 1. Mai in Kreuzberg im Hagel der Steine und kämpfte in Dresden gegen das Hochwasser. Jetzt trägt sie zwei silberne Sterne auf der Schulter und kümmert sich um die Recherche, hört Funkmitschnitte ab und bearbeitet diese fürs LKA, für die Staatsanwaltschaft und die Gerichte.

Fehler in der Leitstelle sind fürs Image der Polizei tödlich

Wenn bei der Berolina etwas schiefläuft, wird die Chefetage schnell nervös, auch wenn das Verhältnis zwischen der Zahl der Notrufe und der Zahl der berechtigten Beschwerden über die Arbeit der 110ler laut Polizeistatistik im Jahr 2018 unter 0,006 Prozent lag. Kunst und ihre Kollegen wissen: Fehler in der Leitstelle sind fürs Image der gesamten Truppe tödlich. Ziel ist es, 90 Prozent der 110-Anrufe innerhalb der ersten zehn Sekunden anzunehmen. Doch das wird in Berlin seit Jahren nicht erreicht.

+++ 422 Notrufe pro Tag sind überhaupt keine. Lesen Sie hier die originalen Protokolle, der absurdesten Anrufe, mit denen Berliner die Leitung blockieren +++

Im vergangenen Jahr lag die durchschnittliche Wartezeit bei 14 Sekunden. Wird ein Notrufgespräch in rund 17 Sekunden nicht entgegengenommen, schaltet sich automatisch das Band ein. „Bitte warten. Polizeinotruf Berlin. Zurzeit sind alle Notrufleitungen belegt, bitte legen Sie nicht auf!“

Alles schon gehabt. Das ist ein Satz, den man bei den 110lern öfter hört - und dann fangen sie an aufzuzählen: fremde Schuhe im Hausflur, ein liebestoller Erpel, die Russen kommen....
Alles schon gehabt. Das ist ein Satz, den man bei den 110lern öfter hört - und dann fangen sie an aufzuzählen: fremde Schuhe im Hausflur, ein liebestoller Erpel, die Russen kommen....
© Kitty Kleist-Heinrich

Wenn ein Unwetter über die Stadt fegt, kann sich die Wartezeit auf bis zu elf Minuten erhöhen. So geschehen am 29. Juni 2017. Was ärgerlich sein mag, wenn einem der Keller vollgelaufen ist. Aber lebensentscheidend, wenn gerade ein Trupp bewaffneter Clanmitglieder in eine Shisha-Bar stürmt.

Stammanrufer: "Ach, Kowalsky wieder?"

Kowalsky? Drei Augenpaare schauen an den Funkplätzen belustigt über ihre Bildschirme. Ach, Kowalsky wieder? Kowalsky gehört gewissermaßen zu den Stammkunden der 110, so wie Reginchen, Achim und Indira. Kowalsky meldet sich manchmal mehrere hundert Mal pro Nacht, kann man nichts gegen machen, ein Psychiater hat dem Mann Schuldunfähigkeit attestiert. „Besoffenes Kauderwelsch, wird von Anruf zu Anruf lauter“, sagt Oberkommissar Schließer.

Anruf 24. Mai, 10.32 Uhr

"Ihr seid alle am Arsch! Ihr seid richtige Opferkinder! Ich schlag deine Scheibe ein, du Hurensohn!"

Blockieren dürfen 110ler die Spinner nicht und können nur beten, dass sie es merken, wenn einer beim 34. Anruf dann tatsächlich in Not geraten ist. Insgesamt 98 064 Mal haben Menschen die Polizei in den ersten acht Monaten dieses Jahres bewusst nur zum Spaß oder schlicht falsch alarmiert.

20 bis 35 Anrufe pro Stunde

9 Uhr 30, Schließer übernimmt die Notrufschicht – und das bedeutet 90 Minuten lang: Multitasking.

Während der Oberkommissar telefoniert, löst er einen Auftrag für den Funkwagen aus, er fragt den Anrufer nach Details, klickt sich durch Listen (Entführung, Entwichene Person, Explosion, Exhibitionist, Gasgeruch, Geiselnahme), überprüft, ob der angegebene Ort übereinstimmt mit dem Funkmast, in den sich das Handy des Anrufers eingeloggt hat, benachrichtigt die Feuerwehr …

20 bis 35 Anrufe fertigt Schließer in einer Stunde ab, er kommt so auf etwa 10.000 Anrufe im Jahr und auf 100.000, wenn er seine zehn Jahre in der Zentrale zusammenzählt. Genau mein Ding, sagt Schließer, auch wenn er nach Feierabend nicht mehr ganz so gerne telefoniere. „Hier habe ich die ganze Bandbreite der Stadt am Telefon: vom Obdachlosen in Mitte bis zum Prof. Dr. hc. Hastenichgesehen aus Zehlendorf.“

Lackschaden, Trickbetrug, zugeparkte Einfahrt

Vor ein paar Wochen erst, sagt Schließer, als in der Stadt fast jede Nacht Autos in Flammen aufgingen, kam ihm einer komisch, weil er sich von der Fahndung mit dem Hubschrauber in seiner Nachtruhe gestört fühlte. Aber wenn das eigene Auto brenne, schimpft Schließer, „dann verlangt der Herr gleich zwei Hubschrauber in der Luft.“

Weiter geht’s im Minutentakt:

Eine gestürzte Radfahrerin.

Eine zugeparkte Einfahrt.

Ein Trickbetrug in Friedrichshain.

Ein Lackschaden in der Kantstraße.

Alltag in Berlin – doch Polizeioberkommissar Schildbach, ein junger Beamter, der seine Pause nutzt, um im Stehen einen Salat zu essen, hat die Schreie noch im Ohr.

Er hört das Splittern, das Wimmern der Kinder

Ein paar Wochen ist es her, als ihn eine Frau in größter Verzweiflung anrief. Sie hatte sich mit den Kindern im Zimmer eingeschlossen, ihr Mann im Drogenrausch jede Kontrolle verloren. Schildbach hörte ihn gegen gegen die Tür hämmern, treten – und wusste: Die Funkstreife ist noch unterwegs. Er hörte das Holz splittern, die Kinder wimmern, die Frau rufen „er hat ein Messer“ – und dann brach das Gespräch ab.

Nervennahrung. Nach acht, neun oder zehn Stunden Schicht in der Notrufzentrale hilft den Beamten nur noch eines: Zucker.
Nervennahrung. Nach acht, neun oder zehn Stunden Schicht in der Notrufzentrale hilft den Beamten nur noch eines: Zucker.
© Kitty Kleist-Heinrich

Dass am Ende die Familie diesen Tag unbeschadet überstand, hat Schildbach erleichtert. Dass die Justiz den Vater am nächsten Tag wieder auf freien Fuß setzte, einmal mehr frustriert.

Fremdsprachenkenntnisse erwünscht

Wer bei der Berolina anfängt, kann einige Jahre Einsatzerfahrung vorweisen, Fremdsprachenkenntnisse sind erwünscht, aber nicht Bedingung. Die internationale Kompetenz verteilt sich eher zufällig über die Schichten – und wenn der englischsprechende Anrufer einen der älteren Kollegen erwischt, heißt es „please hold the line“ bis ein anderer herangewunken ist.

Und bei einem arabischen Anrufer? Oder türkischen? „Schicken wir, wenn’s bedrohlich klingt, zur Not einen Funkwagen aufs Blaue hin“, sagt Oberkommissarin Kunst.

Vom Kopfhörer direkt ins Hirn. Oberkommissar Schildbach war dabei, als eine Mutter und ihre Kinder um ihr Leben schrien. Der Ehemann trat wie von Sinnen gerade die Tür ein.
Vom Kopfhörer direkt ins Hirn. Oberkommissar Schildbach war dabei, als eine Mutter und ihre Kinder um ihr Leben schrien. Der Ehemann trat wie von Sinnen gerade die Tür ein.
© Kitty Kleist-Heinrich

Mit 177 Funkwagen ist die Polizei auf Berlins Straßen unterwegs, mindestens 94 sind immer besetzt – und dirigiert werden sie allesamt von der Berolina. 748.093 Mal schickte die Leitstelle im vergangenen Jahr einen davon los, 157.962 Mal mit Blaulicht und Martinshorn – die Tendenz ist steigend.

800 Ermittlungen wegen Missbrauch des Notrufs

Bei etwa bei einem Fünftel der Einsätze handelte es sich um keine Notfälle. Rückt die Polizei wegen eines Spaßanrufes aus, kann es teuer werden. Der Missbrauch des Notrufs ist eine Straftat und kann mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr geahndet werden. Im vergangenen Jahr hat die Polizei mehr als 800 Ermittlungsverfahren wegen Missbrauchs gegen bekannte Verdächtige eingeleitet und fast 900 Ermittlungen gegen Unbekannt.

Anruf 6. September, 18.00 Uhr

"Ich habe einen ganz kleinen Igel gefunden."

Doch wie reagiert man am besten auf Kinder, die sich mit einem Hallo-Herr-Schwanz-hier-spricht-Frau-Muschi melden und dann auflegen? Wie auf die Betrunkenen, die ihr letztes Geld versoffen haben und nun nach Hause chauffiert werden wollen? „Jeder hat hier seine eigene Linie“, sagt Schildbach.

Er nennt sich selbst „sehr bürgernah“, und will damit sagen, dass er es gut mit den Menschen am anderen Ende der Leitung meint. Ihrer Stammkundin Indira etwa, die ja keinem was zuleide tue, sondern nur über ihre Kinder reden wolle, rate er: „Indira, jetzt ist es 16 Uhr 30, die ganze Stadt ist unterwegs, da können wir nicht quatschen, ruf doch heute Nacht nochmal an …“

Alarm: auf dem Gehweg tanzt ein Erpel

Der alten gehbehinderten Dame, die ihn bat, ihr auf dem Heimweg eine Packung Jacobs Krönung zu kaufen, könne er ebenso wenig böse sein, wie der Frau, die ihn im Frühling alarmierte, weil auf dem Gehweg ein Erpel eine Ente umtanzte. „Die haben alle ihren ganz persönlichen Notfall gehabt.“

Rot für Not. Ein Blick aufs Display zeigt: gerade geht ein neuer Anruf ein, vier der insgesamt 60 Leitungen sind belegt.
Rot für Not. Ein Blick aufs Display zeigt: gerade geht ein neuer Anruf ein, vier der insgesamt 60 Leitungen sind belegt.
© Kitty Kleist-Heinrich

Ein Dutzend Beamte schafft es, an diesem Freitagvormittag die Notrufe zu bewältigen. Nachts zwischen 3 und 5 Uhr genügen in Berlin, der vermeintlichen Hauptstadt des Verbrechens, vier Leute. Erst ein einziges Mal waren alle verfügbaren 60 Leitungen belegt, als im Oktober 2017 der Sturm Xavier mit Orkanböen über die Stadt fegte und zum Beginn des Feierabendverkehrs einen Ausnahmezustand auslöste.

Wird ein Polizist angegriffen, wird ein Großeinsatz ausgelöst

Ein großes Blaulicht hängt in der Mitte des Raumes kopfüber von der Decke, direkt über der Schreibtischinsel, an der der Wachleiter mit seiner Crew das Geschehen überblickt. Wenn es das Büro in blauflackerndes Licht taucht, weiß der Chef: Jetzt sind irgendwo in der Stadt Kollegen in Gefahr, das löst gleich einen Großeinsatz aus.

Weil in der Rigaer Straße Linksautonome auf Polizisten losgegangen sind oder in Neukölln die Festnahme eines Ladendiebs zu einer handfesten Massenkeilerei ausgeartet ist. Alle Einsatzwagen, die sich in der Umgebung der Attackierten befinden, werden dann erstmal vom übrigen Funkverkehr ausgeschlossen.

Vor diesen Menschen kann man nur den Hut ziehen. Insgesamt ist es ja leider so, dass die Arbeit der Polizei (oder auch z.B. der Feuerwehr) viel zu wenig gewürdigt wird. Und dazu noch wirklich extrem schlecht bezahlt.

schreibt NutzerIn fairplay180

"Sie müssen sich beruhigen!"

Wer am Tempelhofer Damm hungrig einmal den Großraum durchschreitet, kann am anderen Ende locker satt ankommen. Keksteller säumen den Weg, Schüsseln mit Bonbons, Gummitiere. „Nach acht, neun, zehn Stunden brauchst du Zucker“, sagt Kunst. Die Oberkommissarin erinnert sich noch ganz genau daran, wie sie das letzte Mal am Platz stand, jeder Muskel angespannt, „voll auf Adrenalin, sofort auf 100“.

Teures Vergnügen. Wer nur zum Spaß den Notruf wählt, begeht eine Straftat. Und das kann richtig teurer werden.
Teures Vergnügen. Wer nur zum Spaß den Notruf wählt, begeht eine Straftat. Und das kann richtig teurer werden.
© Kitty Kleist-Heinrich

Sie hörte ein Schluchzen, jemanden nach Luft japsen, weinen. Es hörte sich nach einem furchtbaren Unglück an, aber es war kein Wort aus der Anruferin herauszubekommen. Kunst sagte es leise, sie sagte es laut, immer wieder, während sich die Minuten wie Stunden dahinzogen: „Sie müssen sich beruhigen! Wo sind Sie? Was ist passiert?“

Ein Blechschaden. Die junge Frau hatte ihr neues Auto, das Geschenk ihrer Eltern, an einen Poller gesetzt. Nein, verletzt sei niemand.

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